Aktuelles

26. September 2013

Ehrendoktorwürde für Prof. Hartmut Haenchen, (Doctor philosophiae honoris causa/Dr. phil. h.c.)

Die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber hat sie verliehen. Sie begründete: "Es ist uns eine Freude und Ehre gleichermaßen, damit Ihr so umfassendes Wirken, Ihre künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Erfolge würdigen zu dürfen."

Kommentar mit Kurz-Interview auf mdr: hier
Programm der akademischen Festveranstaltung am 25. September 16.00 Uhr
in der Aula der HfM, Wettiner Platz 13, 01067 Dresden:

- musikalische Einleitung (Canaletto-Brass)
- Begrüßung durch den Rektor Prof. Ekkehard Klemm und Dekan der Fakultät Prof. Dr. Manuel Gervink
- Begründung der Ehrenpromotion durch Prof. Dr. Matthias Herrmann
- Laudatio: Dr. Dieter David Scholz
- Verleihung der Ehrenpromotion
- Musikalisches Intermezzo: Ernst Bloch: Prayer (Lukas Plag, Violoncello, Prof. Christine Nauck, Klavier)
- Dankesrede: Prof. Dr. h.c. Hartmut Haenchen
- musikalischer Beschluss: (Canaletto-Brass)

Laudatio von Dr. Dieter David Scholz:

Meine Damen und Herren, es war wie ein Blitzeinschlag, als ich 2006 in Am­sterdam zum ersten Mal Hartmut Haenchens „Ring“ hörte. Es war ein „anderer“ Wagner als der Gewohnte, der Übliche, der Konventionelle. Und ich habe in den letzten 35 Jahren weiß Gott viele "Ringe" gehört, nicht nur alle Bayreuther, sonder auch an anderen Orten Europas, an berühmten und weniger berühmten Opernhäusern. Längst ist ja Bayreuth nicht mehr die Nummer eins unter den maßstabsetzenden Wagnerbühnen. Im Gegenteil! Und da kommt mir ein Ausspruch eines Besuchers der Bayreuther Festspiele in den Sinn... Maurice Barrès hieß er, und schon 1886, also drei Jahre nach Wagners Tod, hatte er festgestellt: „Gerade in Bayreuth ist man, sagen wir es deutlich, am weitesten von Wagner entfernt“.

Aber ich will nicht abschweifen meine Damen und Herren: Bei Hartmut Haenchens Amsterdamer "Ring" ist man Wagner näher denn je. So nah wie selten. Nicht nur wegen der unüblichen Positionierung des Orchesters. Der Regisseur Pierre Audi hat die übliche Guckastenbühne gesprengt und den gewaltigen Bühnenraum der Amsterdamer Oper über den hochgefahrenen Orchestergraben in den Zuschauerraum hinein verlängert. Hartmut Haenchen hat das komplette "Ring"- Orchester auf die Bühne gesetzt. Was Wagners Idee von der „Geburt des Dramas aus dem Geiste der Musik“ Reverenz erweist. Aber es war neben der unkonventionellen Inszenierung vor allem das Gehörte, das mich überwältigte und mir unmißverständlich klar machte: Da ist ein Dirigent, der dirigiert Wagner anders als die meisten seiner Kollegen. Weil er sich mit den überlieferten Aufführungskonventionen, und vor allem mit dem Notentext, so wie er vorliegt, nicht zufriedengibt. Hartmut Haenchen hat das Wagnersche Notenmaterial einer kritischen Überprüfung unterzogen. Ein Dirigent muss die Quellen studieren, das ist ja eine der Grundüberzeugungen Hartmut Haenchens. Auch in Sachen Wagner.

Er hat ein komplett neues Orchestermaterial erarbeitet, er selbst hat alles bezeichnet, bis hin zum letzten Strich für die Streicher. Wagner hat ja für Bayreuth andere Bezeichnungen geschrieben als für München, wo er "Rheingold" und "Walküre" uraufführte. Hartmut Haenchen hat sich bemüht, die ursprüngliche Artikulation und Phrasierung wieder herzustellen, das heißt also auch die ganzen Stricharten dem Original wieder anzupassen. Und dann entsteht ein vollständig anderes Klangbild, nicht der berühmte Wagnersche Mischklang, sondern ein klar strukturierter Klang, der erst die Meisterschaft von Wagners Polyphonie, Instrumentierung und Farbenzauber wirklich hörbar werden läßt.

Man hört Wagners Ring in Amsterdam völlig neu. Die Tempi sind durchweg straffer, die Artikulation des glasklar strukturierten Orchesters ist prägnant und deutlich. Die Sänger müssen nicht schreien, was sie sonst üblicherweise heute tun, selbst in Bayreuth... eine der übelsten Wagnerverfälschungen... Es wird wortverständlich gesungen in Amsterdam, und auch das Instrumentarium verzeichnet dank Hartmut Haenchen Neuzugänge. Beispielsweise eine Donnermaschine, die in der Nähe von Bayreuth in einer Scheune vor sich hinmoderte. Hartmut Haenchen hat sie aufgespürt und er hat das Instrument für Amsterdam nachbauen lassen. Es produziert einen ganz besonderen Klang. Es ist kein elektronischer Kunst-Donner aus der Konserve. Es ist ein Musik­instrument, wenn man so will. Hartmut Haenchen hat übrigens viele Stellen gefunden, an denen die Windmaschine bei Wagner eingesetzt wurde, was nicht in der Partitur steht. Aber das alles wurde durch Wagners Assistenten akribisch überliefert.

Und so hat er an der Nederlandse Opera mit seinem „Ring“-Dirigat die falsche Wagner-Tradition, die bis heute an den kleinen und großen Bühnen, auch den sogenannten Wagnerbühnen der Welt vorherrscht, mutig und beispielhaft aufgebrochen. Hartmut Haenchens Hoffnung, daß auch außerhalb Amsterdams seine Vorstellung von Wagner, wie er sie dort entwickelt hat, Schule macht, kann man sich nur anschließen.

Doch es steht zu befürchten, so mein Pessimismus als leidgeprüfter Opernkriti­ker, dass die meisten Dirigenten und Orchestermusiker - mit Verlaub gesagt - weiterhin eine ruhige Kugel schieben werden, einfach weil sie zu bequem sind. Und gar nicht daran denken, sich Wagner neu und anders zuzuwenden als bisher. Das könnte ja unnötige Arbeit bedeuten. Dabei bedürfte die Aufführungspraxis Wagners dringend einer "historisch informierten" Neuorientierung. Hartmut Haenchen hat die Tür dazu weit aufgestoßen. Und er hat nicht nur in Amsterdam, auch in Paris und in Brüssel, in Leipzig, in Mailand und in Madrid, um nur einige seiner Wir-kungsstätten zu nennen, "seinen" Wagner präsentiert, mit dem allergrößten Erfolg.

Meine Damen und Herren, was ich über Hartmut Haenchens Umgang mit Wagner erläuterte, das meinte ich gewissermaßen pars pro toto. Diese philologisch gewissenhafte Vorbereitungsarbeit des Dirigierens, des Aufführens, des Interpretierens von Musik, ist bezeichnend für den Dirigenten Hartmut Haenchen. Sie gilt nicht nur für Wagner, sondern ebenso für Richard Strauss, für Mozart, Haydn und Heinichen, für Gustav Mahler , für Karol Szymanowksi, Peter Tschaikowsi, Aribert Reimann und Alban Berg, ja für Verdi, Mussorgsky und Berlioz. Um nur einige Komponisten aus dem breiten Repertoire Hartmut Haenchens zu nennen. Sein musikalischer Horizont ist weit.

Hartmut Haenchen wird zurecht als einer der vielseitigsten Dirigenten unserer Zeit gewürdigt, sowohl in der Oper als auch im Konzertleben. Und er ist ein Kosmopolit, wenn auch eigentlich ein unfreiwilliger, denn es waren die vertrackten und - von heute aus betrachtet - geradezu grotesken Verhältnisse in der DDR und ihrem politisch infiltrierten Musikleben, die ihn bewogen, seine Heimat zu verlassen, sich freizukaufen, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat es mehrfach in aller Öffentlichkeit bekannt. Allerdings hat ihm das "westliche Ausland", um es im Jargon der DDR-Vergangenheit zu sagen, dann doch weit mehr und ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten geboten, als ihm wahrscheinlich die DDR je hätte bieten können. Sie hat seine Emigration ja auch nicht lange überlebt.

Konzert- und Opern-Gastdirigate führten Hartmut Haenchen in fast alle europäischen Länder. Und fast alle Kontinente. Er hat sich nicht geschont. Sein Arbeitspensum ist enorm. Sein Rezept, dies zu bewältigen ist ganz ein­fach, wie er neulich in einem Interview bekannte: "An Rudolf Mauersberger denken".

Es war beim Dresdner Kreuzchor, wo Hartmut Haenchen die - nicht nur musikalischen Tugenden - Disziplin und Gründlichkeit gelernt hat, sondern auch sein musikalisches Basis-Wissen erhielt, seine Schule in sozialer Haltung und in Durchsetzungsvermögen. Rudolf Mauersberger war sein Vorbild: „Krankheit sei Schlamperei“ habe Mauersberger verkündet und gefordert, hart zu sich selbst zu sein.

Wer Hartmut Haenchen auf Proben kennengelernt hat, weiß, wie kompromisslos, wie schonungslos er arbeitet, wie viel er den Orchestermusikern, aber auch sich selbst abverlangt, ob er nun mit dem Tonhalle Orchester Zürich arbeitet, den Münchner Philharmonikern, dem Orchestre de Paris, dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dem Orchestre National de Radio France, dem Orchestre Symphonique de la Monnaie Brussel, der Accademia di Santa Cecilia Rom, der Königlichen Philharmonie Stockholm, der Philharmonie Oslo, der Niederländischen Philharmonie, dem Japan Philharmonic Orchestra oder welchem auch immer.

Meine Damen und Herren, der Berufsstand des Dirigenten ist so vielfältig wie kaum ein anderer. Dirigenten sind Diktatoren und Rattenfängen, Aristokraten und Poltergeister, Showmaker und Priester, Einzelgänger und Populisten, Kommandeure und Träumer, Zuchtmeister und Chaoten, Pedanten und Anarchisten, Geschäftsleute und Idealisten, global Players und nicht selten Primadonnen, Esoteriker und Coverboys der Musikszene.

Gemeinsam ist den meisten Dirigenten, so will es nicht nur das Vorurteil, ein berufsspezifischer Verhaltenskodex, der meist um so ausgeprägter ist, je teurer der Dirigent im Musikbusiness gehandelt wird. Im Club der Besten, zumindest aber der Teuersten zu rangieren, verlangt die Einhaltung von Spielregeln. Dafür kann man es sich dann leisten, nicht immer „top“ sein zu müssen. Im Club stützt einer den anderen. Alles greift ineinander. Man schiebt sich die Bälle zu. Wer einmal im Club ist, hat es geschafft. Und alle Mitglieder des Clubs sind selbstverständlich Freunde. Man tut zumindest so. Es dient dem „Big businnes“. Eine Hand wäscht die andere. Der Rubel rollt, „Freude, schöner Götterfunken“. Wenn nur das Marketing und die PR-Arbeit stimmen. Der Marktwert gehorcht den Gesetzen der Börse. Zeitgeist redet mit. Massenwirksamkeit hilft. Popularität kann mithilfe der Medien aufgebaut werden. Wer schließlich herumgereicht wird an den ersten Konzertpodien und Oper­häusern der alten wie der neuen Welt, wer im Jet-Set rotiert, das entscheiden Manager und Agenten, Marke­tingchefs und Konzerne. Das Publikum zollt Beifall. Es geht im Karussell des internationalen Musik-geschäfts längst nicht mehr primär um die Musik und die künstlerische Quali­fikation dessen, der sie dirigiert.

Eine Aura von Glanz und Glamour umgibt viele Dirigenten. Vielleicht kein anderer Berufsstand ist derart schillernd und facettenreich. Die Dirigenten mit ihrem ausgeprägten Hang zur Eitelkeit, und zur Selbstdarstellung, aber auch ihrem offen zur Schau gestellten Willen zur Macht sind nicht nur Vermittler zwischen Partitur und Orchester, sondern sie sind die eigentlichen Helden unseres Musik­lebens. Sind Wanderer zwischen den Welten, globale Musikheroen, Götter in schwarz, mit Macht und Nimbus, sind vielbewunderte, bestaunte, kritisiere und hofierte Stars, sind hochbezahlte Aushängeschilder, stilisierte Werbeträger und oft genug nichts als hochglanzpolierte Etiketten einer überwiegend kommerziell orientierten Musikszene, um nicht zu sagen Musikindustrie, in der Selbststilisierung und Selbstinszenierung zum Geschäft gehören. Dem korrespondieren die Ihnen oft zugeschriebenen Eigenschaften, wie Unnahbarkeit, Egozentrik, Kapriziertheit, Arroganz und betonte Bohème-haftigkeit.

Hang zum Luxus, Launenhaftigkeit, zur Schau gestellte Autorität und ungehemmte Künstlerallüren verhindern oft die Wahrnehmung tieferer Wahrheiten hinter verständlicher Abschirmungstaktik. Unter der Oberfläche purer Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber zudringlichen Trabanten und Adoranten verbergen sich nicht selten zarte und sensible Seelen, die hinter schützenden, scheinbar undurchdringlichen Mauern das Gärtlein ihrer utopischen Empfindungen und Erkenntnisse hegen und das Elfenbein ihres Künstlertums vor Ver­witterung durch den Dunst gemeiner Realität und schnöder Alltagsbanalität bewahren. So will es der Mythos vom Maestro.

Hartmut Haenchen ist einer der wenigen Vertreter dieses Berufsstands, der sich dem Musikbusiness weitgehend verweigert, weil es ihm auf die Musik ankommt, und auf den die genannten Etikettierungen nicht, oder sagen wir vorsichtshalber kaum zutreffen. Etwas Eitelkeit sei ihm als Dirigenten zugestanden, ganz ohne Eitelkeit geht es ja nicht. Aber es gibt Eitelkeit in der Sache oder die Person betreffend... Hartmut Haenchen spielt nicht die Rolle eines der von der Gloriole der Unantastbarkeit und musikalischen Heiligkeit umstrahlten Weltstars, der hinter einer Schutzfassade seine - zugegeben - extreme berufliche Existenz, seine Ausnahmelebensform und sich selbst versteckt. Nein, Hartmut Haenchen gehört zu einem Dirigententyp, der sich menschlich-allzumenschlich gibt, als Zeitgenosse und Mensch von heute, ein Musiker ohne Maske, ohne Fassade und ohne Frack- und Taktstockallüren. Er ist eher ein unprätentiöser, dem Werk gegenüber demütiger Kapellmeister, was als großes Kompliment gemeint ist - ein ernsthafter Realisierer kompositorischer Vorgaben, selbstkritisch, offen für Kritik und Anregungen von außen, jenseits aller Selbstgefälligkeit und Selbstbeweihräucherung. Er ist ein diskreter, ganz und gar nicht das Rampenlicht suchender Dirigent, dem es mehr um die Sache als um seine Person geht. Er ist vor allem ein neugieriger, ein gewissenhafter Musiker, der sich nie mit Routine zufriedengibt und der sich nicht auf Konventionen verlässt. Er ist eben nicht nur ein Musiker!

Als ich mein Buch über den "Mythos des Maestro" geschrieben habe, und mit vielen Dirigenten über ihren Beruf gesprochen habe, hat mir Lorin Maazel gesagt: "Ein Musiker, der nur ein Musiker ist, ist kein guter Musiker!" Recht hat er. Und Hartmut Haenchen ist der schlagende Beweis dafür, dass ein Musiker, der mit breiter Bildung, weitem Horizont und mit aka­demischer Gründlichkeit des Umgangs, der Hinterfragung und der Korrektur von Notentext und Aufführungspraxis aufs Pult geht oder in den Graben steigt, tatsächlich ein besserer Dirigent ist als so mancher "gehypte" Pultstar.

Nicht immer sind die sogenannten "berühmten" Dirigenten die besten. Chefpositionen, Schallplattenverträge und glänzende Auftrittsmöglichkeiten besagen gar nichts. Im Rampenlicht zu stehen oder auf Schallplattenhüllen zu glänzen, sagt im Zweifelsfall mehr über kaufmännische als über künst­lerische Qualitäten aus. Bei nicht wenigen der international renommierten Maestri beruht das Geheimnis ihres Erfolges auf ausgeprägtem, wo nicht schamlosem Geschäftssinn und knallhartem, populistischem Kalkül. Bei manchen der von Agenturen oder Plattenfirmen aufgebauten Karrieren sind interpretatorische Phantasie, musikalische Intelligenz, gestalterischer Einfallsreichtum, musik-historische und Repertoire-Kenntnisse sowie künstlerische Animiertheit seltene Tugenden.

Die Musik ist, so schrieb der Dirigent Hermann Scherchen seinen Schülern in sein Lehrbuch des Dirigierens, die Musik ist die „geistigste“ Kunst“. Und er bekannte mit Blick auf seinen eigenen Berufsstand freimütig: „Das Geheimnis der Kunst ist das Geheimnis der Persönlichkeit“. Hartmut Haenchen ist eine große Persönlichkeit!

Das Credo Harmut Haenchens lautet: "Man wird seine Ziele nicht erreichen, aber je höher sie gestellt sind, umso weiter kommt man. Die Herausforderung besteht in einem möglichst genauen Quellenstudium, dessen Erkennt-nisse einem großen Publikum emotional wahrnehmbar zu machen sind."

Man könnte sagen: Hartmut Haenchen ist so etwas wie ein "Akademiker" unter den Dirigenten, was nicht heißen soll, dass seine Art Musik zu machen "akademisch" sei. Ganz und gar nicht! Es mangelt Hartmut Haenchen weder an spontanem Temperament, an Leidenschaft, an Feuer, noch an gestalterischer Phantasie, an Kraft und Klangsinn. Neben allem Strukturdenken und aller analytischen Partituranalyse. Man kann das auf über 130 CDs und DVDs, die er bisher aufgenommen hat, überprüfen.

Auch hat Hartmut Haenchen in vielen Publikationen und Vorträgen, Moderationskonzerten und Artikeln Kluges gesagt und geschrieben.

Sein Buch mit Gedanken über Musik, "Zweifel als Waffe" (lautet der Titel) erregte Aufsehen in der niederländischen Musikwelt. Das zweisprachige Buch "Über die Unvereinbarkeit von Macht und Liebe" in Wagners "Ring" wurde von Publikum und Presse mit Begeisterung aufgenommen. In deutscher und niederländischer Sprache ist seine 14-teilige Buchserie "Mahlers fiktive Briefe" erschienen. Und im Oktober werden, hoffentlich rechtzeitig zur Buchmesse, seine gesammelten Schriften zur Musik in 2 Bänden erscheinen unter dem Titel "Werktreue und Interpretation". Ich durfte schon ein wenig im Manuskript blätern: Nicht nur seine darin enthaltenen Gedanken zu Wagner, sondern auch seine kritischen Auslassungen über das permanente Non-vibrato-Spielen oder -Singen von Orchestern, Solisten und als "Chorstil" im vorklassischen Repertoire, wie es heute weitgehend von der sogenannten "historischen Aufführungspraxis" betrieben wird, erweisen Hartmut Haenchen als ausgewiesenen Kenner der musikhistorischen Quellen und als wahren Gelehrten der Musikwissenschaft.

Mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) hat er erst kürzlich einen Schenkungsvertrag geschlossen, um die Dokumente seines künstlerischen Wirkens dauerhaft für Forschung und Praxis zur Verfügung zu stellen. Zunächst eine sehr umfangreiche Partitur-Bibliothek von ca. 3000 Bänden, die weitgehend mit allen Dingen, die man in Musik schriftlich ausdrücken kann, bezeichnet sind. Inklusive aller Quellen-Befunde, die über Partituren hinausgehen. Dazu eine umfangreiche Orchester-Material-Bibliothek, komplett eingerichtet und spielfertig von etwa 600 Werken für Kammerorchester und 40 Opern sowie etwa 200 sinfonischen Werken. Dazu eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Zeitdokumenten, Programmen, Plakaten und Fotos, nicht zu reden von bibliophilen Raritäten und Handschriften.

Für seine Verdienste als überragender Interpret, aber auch als Musikvermittler ist Hartmut Haenchen mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft worden. Auch für die musikpolitische Arbeit, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau in Sachen deutsch-niederländischer Annäherung geleistet hat.

Nicht zuletzt durch die Königin der Niederlande wurde er mit der höchsten Auszeichnung, die erstmals ein Deutscher in den Niederlanden erhielt, ausge­zeichnet: er wurde in den Stand des Ritters im Orden des Niederländischen Löwen erhoben. 2006 verlieh sie ihm die Niederländische Nationalität ehrenhalber. Der Bürgermeister von Amsterdam überreichte ihm den Ehren­pfennig der Stadt Amsterdam, also die Ehrenbürgerschaft für seine Verdienste um die Stadt. Diese wunderbare, altehrwürdige Kultur- und Musikstadt ist ohne Frage seine bisher wichtigste Wir­kungsstätte. Immerhin hat er 20 Jahre dort gelebt. Aber auch hierzulande ist Hartmut Haenchen hochgeehrt. Die Sächsische Akademie der Künste wählte ihn 1998 zum ordentlichen Mitglied. Der Bundespräsident Deutschlands verlieh ihm das Bundesverdienstkreuz.

Hartmut Haenchen, der am 21. März dieses Jahres seinen 70sten Geburtstag feierte, ist ohne Frage einer der bemerkenswertesten und ernstzunehmendsten Dirigenten weltweit.

"Glück" sei für ihn, wie er neulich einmal äußerte, eine gute Partitur beim Lesen vollständig zu hören. Für sein Publikum ist es ein Glück, ihm beim Dirigieren, beim Musizieren zuzuhören.
Und wenn ich mir zum Schluß meiner Ausführungen eine persönliche Be­merkung erlauben darf: Ich glaube, dass ich nicht der einzige in diesem Saal bin, der sich sehr freut, dass Hartmut Haenchen hier und heute die Ehrendoktorwürde verliehen wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Dresdner Neueste Nachrichten, 26. September 2013

Späte Ehrung: Hartmut Haenchen ist Ehrendoktor der Musikhochschule Dresden

von Michael Bartsch

"Manchmal trifft es auch den Richtigen", raunte Pianist Peter Rösel dem soeben Ausgezeichneten zu. Am Mittwochnachmittag verlieh die Dresdner Musikhochschule ihrem ehemaligen Studenten und späteren Professor Hartmut Haenchen die Ehrendoktorwürde. Der weltbekannte Dirigent ist nach Peter Gülke, Joachim Herz und Helmut Lachenmann der vierte Musiker, dem diese Ehre zuteil wird.

"Es ist die erste Auszeichnung aus Sachsen" stellt Haenchen mit dem ihm eigenen hintergründigen Lächeln fest, ohne die Vielzahl seiner internationalen Preise aufzählen zu müssen. Sowohl Hochschulrektor Prof. Ekkehard Klemm als auch der Geehrte selbst verneinen, dass der Gedanke der überfälligen Genugtuung bei der Verleihung eine Rolle spielte. Der Rektor stellt die über seine Dirigate und Musikproduktionen hinausgehenden musikwissenschaftlichen Verdienste Haenchens in den Vordergrund. Voraussichtlich in diesem Oktober, also noch im Jahr seines 70. Geburtstages, werden seine gesammelten Schriften unter dem Titel "Werktreue und Interpretation" erscheinen. Denn Hartmut Haenchen gilt als ein besonders gründlich Quellen recherchierender und ebenso sorgfältig probender Maestro. Als "Typ des wissenden Dirigenten", wie es Prof. Matthias Herrmann für die Promotionskommission formulierte.

Der Ausgezeichnete, der 20 Jahre in den Niederlanden verbrachte, ist auf eine Ehrung aus Sachsen nicht angewiesen. Aber sie bedeutet ihm schon sehr viel in seiner Heimatstadt, in der ihn der Kreuzchor und Rudolf Mauersberger prägten. In der er aber auch als nonkonformer Student in den 1960er Jahren zweimal vor der Exmatrikulation stand. Haenchen aber eckte nicht nur in der DDR an. Bis heute ist der Umgang Dresdens mit ihm ein höchst ambivalenter. Mit seinem Durchsetzungsvermögen rettete er in der Ära von OB Ingolf Roßberg als deren Intendant die Musikfestspiele. Und erst fünf Jahre nach dieser Ära bekam er in diesem Jahr erstmals wieder ein Konzert bei den Musikfestspielen. Aus der CDU trat er wegen des Eklats um die Waldschlösschenbrücke und das Welterbe aus.

Außer der Grünen-Fraktionschefin Christiane Filius-Jehne hielt es kein Vertreter der Stadt für nötig, bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde zu erscheinen. Vielleicht ahnte man, dass sich Hartmut Haenchen auch diesmal treu bleiben würde. In seiner Dankesrede sorgte er sich um humanistische Bildung und den Ersatz von Kunst durch Event und Starrummel.

Sächsische Zeitung, 25. September 2013

„Ich muss suspekt sein“
Der Dirigent Hartmut Haenchen wird Ehrendoktor der Dresdner Musikhochschule, die ihn einst mehrfach exmatrikulierte.

Von Bernd Klempnow

Der Dirigent Hartmut Haenchen ist ein Freund klarer Worte: „Ich muss suspekt sein“, sagt er heute Nachmittag, wenn ihm die Dresdner Musikhochschule die Ehrendoktorwürde verleiht. Der 70-Jährige wird nämlich von einer Institution geehrt, die ihm einst übel mitgespielt hat. Erst wollte sie den ehemaligen Kruzianer wegen politischer Unreife nicht aufnehmen, dann exmatrikulierte sie den Musikfanatiker zweimal und verweigerte dem letztlich doch Beststudenten die Fortführung der Diplom- zur Doktorarbeit, weil sie zu wenig sozialistische Bezüge habe. Später, längst ein „wissender“ Dirigent, der ungewöhnlich zeitaufwendig und kritisch Quellen und die Aufführungspraxis hinterfragt, wurde er Professor an dieser Uni und leitete das Hochschulorchester, bevor er 1986 aus der DDR herauskomplimentiert wurde. „Und nun Dr. ehrenhalber. Ich bin sprachlos, dass mir in Dresden so etwas widerfährt.“

Der Mann, der an führenden Konzert- und Opernhäusern von Tokio bis Paris gefeiert wird, ist einer der wenigen, die diese Ehrung erhalten. Erst zweimal in der 150-jährigen Hochschulgeschichte geschah das. Geehrt wird er ab 16 Uhr in einem eintrittsfreien, öffentlichen Festakt für „sein Lebenswerk als Dirigent und Intendant, das bedeutungsvoll für Dresden und dessen Musikleben ist“. Trefflich formuliert! Haenchen hat als streitbar intensiv nach dem Kern der Werke suchender Experte mit der Dresdner Philharmonie und an der Staatsoper gearbeitet. So dirigierte er mit „Elektra“ und der „Rilke“-Oper geniale Eröffnungspremieren der wiederaufgebauten Semperoper. Konzepte und Zusammenhänge waren ihm wichtig, nicht das Event, als er in den 90er-Jahren Intendant der Musikfestspiele wurde. Besuchermäßig sorgte er für Rekorde, weil er viele auch kostenlos an der Musik teilhaben ließ. Und er verhinderte, dass die Stadt das Festival zerschlug.

Obwohl der Dirigent – wegen seiner kompromisslosen Art des Arbeitens – von Dresdner Häusern kaum eingeladen wird, wohnt er weiterhin in der Stadt. Sogar eine Grabstätte hat er hier – auf dem Loschwitzer Friedhof. Er hat sie gekauft: „Der Friedhof steht unter Denkmalschutz, bekommt aber keinen Cent. Ich wollte beitragen, ein Stück Dresdner Kultur zu erhalten.“


Prof. Dr.phil. h.c. Hartmut Haenchen sprach als Dank:

Dieser Mensch, der vor Ihnen steht, muss suspekt sein: An dieser Hochschule zum Direktstudium wegen politischer „Unreife“ erst einmal nicht zugelassen, später einmal exmatrikuliert wegen Verführung von Kommilitonen in der Kirche zu spielen, nochmals exmatrikuliert wegen der Aufführung von Werken von Arnold Schönberg. Mein Lehrer für Chordirigieren war der Verbindungsmann zur Stasi, hat aber die geforderte Speichelprobe nicht abgegeben. Sie hätte mich der Verbreitung von Flugblättern überführt – direkt ins Gefängnis. Und doch habe ich als „Beststudent“ mein Examen gemacht. Die Fortführung der Diplomarbeit als Doktor–Arbeit wurde wegen mangelnder sozialistischer Bezüge abgelehnt. Trotzdem bin ich zwanzig Jahre später an eben dieser Hochschule Professor geworden, Nachfolger einer meiner geschätzten Lehrer: Prof. Rudolf Neuhaus. Durch meinen erzwungenen „Herauskauf“ aus der DDR wurde dies beendet. Und nun Doktor ehrenhalber. –
Mit großer Dankbarkeit nehme ich dies an. Insbesondere in und aus Dresden, wo ich versucht habe, falsche Entscheidungen zu verhindern und gute Entscheidungen zu befördern. Mit dem Erhalt der Dresdner Musikfestspiele ist mir das zumindest gelungen.
Der Doktor-Titel steht, seit er 1219 in Bologna erstmals vergeben wurde, in einer sehr alten humanistischen Tradition. Aber gerade um diese humanistische Tradition mache ich mir Sorgen. Am Beispiel Beethovens versuche ich dies zu formulieren:
Beethoven1 glaubte an die moralische Kraft der Kunst und die weltweite Wirkung der Grundsätze der Französischen Revolution. Er war überzeugt, dass die Regierenden die Signale der Kunst verstehen. So zeigt zum Beispiel der Eingang des Anfangsmotivs der Fünften Sinfonie als „V“ wie victory in die Morsetechnik 1838, sozusagen als technische Übersetzung der Musik, wie tief Kunst in die Gesellschaft drang. Dies wiederum setzt eine humanistische Allgemeinbildung voraus, die heute verloren geht oder schon zum großen Teil verloren gegangen ist. Beethoven glaubte an die humanistische Bildung der Regierenden seiner Zeit und an die von Schiller postulierte Wirkung der Kunst. Auch die adeligen Herrscher seiner Zeit hatten alle eine musikalische und künstlerische Bildung erfahren. Goethe, der die Essenz der humanistischen Bildung bis zum 19. Jahrhundert in sich vereinte, tat dies mit der Hilfe und Freundschaft des Herzogs von Weimar. Heute ist ein Regierender mit künstlerischer oder gar musikalischer Bildung die Ausnahme. Helmut Schmidt war vielleicht der letzte deutsche Regierungschef mit solchen Qualitäten. Regierende sind heute im Allgemeinen mit künstlerischen Mitteln nicht mehr zu erreichen und mit Ausnahme von Diktaturen nicht einmal mehr zu provozieren. Ich denke, wir sind uns einig Humanismus heut so zu definieren: Toleranz, Gewaltfreiheit, Gewissensfreiheit und Würde des Menschen sind die Grundlagen für die Entfaltung der schöpferischen Kräfte der Menschen, die zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen müssen, damit diese sich nicht selbst vernichtet. Eine humanistische Bildung muss also auf diesen Grundsätzen basieren, die für Europa ihren Ursprung in der griechischen Antike und in christlichen Menschheitsvorstellungen haben und auf der Förderung schöpferischer Kräfte, besonders der Künste, beruhen.

In unserer modernen europäischen Gesellschaft ist Kunst zum Entertainment verkommen. In Deutschland nennt man das die „Spaßgesellschaft“. Da haben philosophische Gedanken wenig Platz, der „Spaß“ ist eine Vernebelung der Werte. In den Medien nehmen Künste inzwischen einen erschreckend geringen Platz ein. Die offiziellen Statistiken zeigen einen Rückgang von etwa 50 Prozent sowohl im Fernsehen als auch in den Zeitungen in den letzten 20 Jahren. Die geistige Leidenschaft, Bildung zu vermitteln, hat in den letzten Jahren dramatisch nachgelassen. Fernsehen und Radio bedienen die potenzielle Bildungswilligkeit nicht bedachtsam und respektvoll genug. Das Internet als mögliche Alternative ist in seiner Struktur eben nicht mit den „alten“ Medien Buch, Zeitung oder Radio und Fernsehen zu vergleichen. Die Gefahren der „Digitalen Demenz“ werden heute schon aufgezeigt. Feuilletons greifen zu marktschreierischen Mitteln, wenn sie überhaupt noch über Kunst berichten. Kein noch so törichtes Kunstwerk kann aber derart minderwertig sein, dass man darum den Menschen, der es geschaffen hat, tief in der Seele kränken müsste. Genau dies ist aber der heutige Stil. Manchmal wird nicht einmal das Programmheft richtig abgeschrieben.

Die Gründe für den dramatischen Rückgang der Aufführungen von Beethovens Musik in den letzten 50 Jahren und damit das Verblassen ihrer Wirkung sind vielfältig: Nehmen wir ein ohnehin wenig gespieltes Werk wie die Coriolan-Ouverture mit den Wiener Sinfonikern: Von 1900 bis 1950 wurde sie 107-mal von diesem Orchester gespielt, in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwölfmal, danach bis heute nur noch viermal in zehn Jahren. Niemand kennt mehr die Gestalt des aufständischen römischen Patriziers, der verbannt wird und mit dem italienischen Volksstamm der Volsker gegen die eigene Vaterstadt zieht, und so interessiert niemanden mehr die musikalische Erzählung. Kaum ein Dirigent, der nicht bei den Medien als „Spezialist“ anerkannt ist, wagt es heute noch, eine Beethoven-Sinfonie aufzuführen. So liegt einer der Gründe für den Rückgang der Aufführungen Beethoven‘scher Werke auch bei den Musikern selbst - bei der so genannten „historischen Aufführungspraxis“. Sie gibt vor, Werke so erklingen zu lassen, wie es beispielsweise in Beethovens Zeit gewesen sein soll. Ein Postulat, welches auf einer grundsätzlich falschen Voraussetzung aufbaut: Es gibt kein historisches Publikum, und somit kann selbst die perfekteste Kopie einer historischen Aufführung nicht im Entferntesten erreichen, was sie zu seiner Zeit konnte. Selbstverständlich ist ein gründliches Quellenstudium für jeden Interpreten (eigentlich) unabdingbar. Heute speist sich aber das Wissen aus Sekundärquellen und aus Halbwahrheiten. Schon deshalb ist die ganze „historische Aufführungspraxis“ fragwürdig. Nur drei Beispiele: Es gibt heute einen damals nicht existenten genormten „historischen Kammerton“, um diese Musik international vermarkten zu können. Wir hören also ziemlich konsequent die Stücke der Klassik in den falschen Tonarten, wenn sie auf „historischen“ Instrumenten gespielt werden. Ebenso verhält es sich mit der Frage des Vibratos. Immer wieder wird behauptet, dass bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts kein Vibrato gespielt wurde obwohl das Gegenteil sehr leicht nachzuweisen ist. Und noch ein letztes Beispiel: Wenn man heute eine Beethoven-Sinfonie in einem Saal wie dem Concertgebouw Amsterdam mit großer Streicherbesetzung und verdoppelten Bläsern spielt, kann man sicher sein, dass man als Dirigent vernichtende Kritiken bekommt, da man sich angeblich nicht an die „historisch richtige“ kleine Besetzungen hält. Ich habe noch nie gelesen, dass ein Rezensent sich einmal die Mühe gemacht hat, etwa den Raum der Uraufführung der Dritten Sinfonie im Palais Lobkowitz mit dem Concertgebouw zu vergleichen und die Wirkung, die Beethoven erzielen wollte, in eine akustische Relation und damit adäquate Besetzungsgröße zu setzen. Ersterer bietet auf 100 Quadratmetern Platz für 60 Personen, was in diesem Fall 35 Musiker und maximal 25 Hörer bedeutet. Letzterer Saal fasst über 2000 Hörer und 120 Musiker. Die Komponisten in Beethovens Zeit wussten das aber und versuchten, wo es aufgrund größerer Räume möglich war, die Besetzung entsprechend zu erweitern. Mozart ergriff sogar die Gelegenheit in der Oper in Mailand, seine Bläser vier- bis sechsfach zu besetzen. Es sollte uns um die zu transportierenden Inhalte gehen, die heute ein Publikum noch verstehen kann und nicht um die museale und, wie eben ausgeführt, meist falsche Darstellung der Werke, durch die sie ihre inhaltlichen Anliegen verlieren.

Schließlich hat die Kommerzialisierung unseres Lebens auch ihren Anteil an der Verdrängung humanistischer Werke. Wir sind dabei, unser Leben mit immer mehr unwesentlichen käuflichen Dingen zu umgeben. Wir sollten uns stattdessen auf unsere Kultur besinnen. Wir leben in der Kultur des kommerziellen Starrummels, nicht in der Kultur der Inhalte. Auf den Plakaten stehen kaum noch die Werke, die gespielt werden. Man geht zu Herrn Soundso und Frau Soundso, weil man gelesen hat, dass diese etwas Besonderes sind. Das gipfelt in einem Beispiel, welches ich als Intendant der Dresdner Musikfestspiele erlebt habe: Eine Dame hatte sich eine der wenigen im Freiverkauf noch verfügbaren Eintrittskarten für ein Konzert mit Anne-Sophie Mutter lange im Vorhinein gekauft. Einen Tag vor dem Konzert rief sie an und fragte: „Was singt sie eigentlich?“. Eine Umfrage an der Harvard-Universität zu Beethoven ergab, dass (aufgrund eines Filmes) unter den Studenten nur ein Hund dieses Namens bekannt ist.

Der Mensch ist verliebt in die Unsterblichkeit und deshalb allzu empfänglich für Surrogate wie „Tausendjähriges Reich” oder Kommunismus. Die Ideale des Kommunismus, die in einigen Grundgedanken durchaus dem Urchristentum verwandt sind, haben nicht mit den Schwächen der Menschen gerechnet. Das kommunistische System ist an eben dieser Fehleinschätzung des Menschen im Allgemeinen gescheitert. Alle Systeme aber haben sich unter unterschiedlichen Vorzeichen (bis hin zu Text-Umdichtungen) der Werke Beethovens bedient, wenn auch mit ständig abnehmender Tendenz. Ihren Platz nehmen flachere Surrogate ein, die keine Besserung der Menschheit versprechen, da mit ihnen die irrationale Kraft der Musik inklusive der wissenschaftlich bewiesenen positiven Effekte und Leistungssteigerung verloren geht. Heute ersetzen wir all diese Begriffe mit dem „Ideal“ des Wachstums. Für mich bleibt es erstaunlich, dass nur einige wenige Fachleute sehen, dass es ein endloses Wachstum nicht geben kann. Schon gar nicht, wenn wir unsere Kultur verlieren. Die Wachstumsgläubigkeit entspringt durchaus der Zeit der Aufklärung und einem naiven humanistischen Fortschrittsglauben. Wir sollten aber heute durch einen zumindest theoretisch weiter entwickelten Humanismus größere Einsichten haben. Die öffentlich-rechtlichen Medien gehorchen immer mehr privatrechtlichen Grundsätzen, die sich nach Einschaltquoten richten. Eigentlich haben sie aber einen Bildungsauftrag, der erst in einem langen Prozess zu hohen Einschaltquoten führen kann. Es gerät heute in unserer „Spaßgesellschaft“ in Vergessenheit, dass Arbeit eine moralische Verpflichtung ist.

Alle europäischen Sprachen sind voll von griechischen und lateinischen Worten, aber wir haben die Basis verloren, diese verbindenden Elemente zu erkennen. China ist dabei, an Europa und Amerika demographisch, industriell und geopolitisch vorbeizuziehen. Dort werden mehr Schüler in Latein und Griechisch unterrichtet als in ganz Europa. Die Chinesen tun dies, um unsere Kultur verstehen zu lernen. Dabei wird auch die europäische klassische Musik, wie schon seit hundert Jahren in Japan, eine immer größere Rolle spielen. In den Slums von Kinshasa zündet Beethovens „Götterfunken“ in einer ganz anderen Weise. Damit dürfte auch der Beweis der gesellschaftsbindenden und -fördernden Wirkung der Musik und des Musizierens nach den Erfahrungen des Simón Bolívar Jugendorchesters ein weiteres Mal erbracht sein. Nur vor allem in Mitteleuropa vergessen wir das immer mehr, weil wir im Wesentlichen den Luxus im Auge haben. In Kinshasa muss man schon mal eine gerissene Geigensaite durch einen Fahrradbremszug ersetzen, nur um die Idee mit ihrer Wirkung nicht zu verraten. So kann man zumindest feststellen, dass die rückläufigen Aufführungszahlen Beethoven‘scher Werke in Europa durch die Globalisierung teilweise kompensiert werden.

Was ist zu tun?
Natürlich haben die sozialen Fragen die Bedeutung eines Kreuzweges für die Zukunft der Menschheit. Wenn der Sozialismus – wie wir ihn gesehen haben oder wie ich ihn selbst erlebt habe - die bürgerliche Kultur der ohnehin abnehmenden humanistischen Bildung zensiert und zerstückelt und der Kapitalismus teilweise das Gleiche tut, muss es zum Desaster kommen. Heute wird fast nur noch über berufsqualifizierende Ausbildung gesprochen. Bildung im umfassenden, humanistischen Sinne steht kaum zur Debatte, dabei wissen die Fachleute schon lange, dass auch musisch gebildete Menschen beweglicher und kreativer im Kopf sind. Wer ein Instrument spielt, der beherrscht auch die Koordination zwischen Auge und Hand besser. Denken und Tun sind weit besser entwickelt als bei denen, die kein Instrument spielen oder zumindest singen. Der Maler Oskar Schlemmer meinte: „Kunst dient! Dient in einem letzten höchsten Sinn.“ Genau das werden wir in der Reizüberflutung unserer heutigen Welt brauchen. Wir Menschen brauchen Bildwerke, Musik, Literatur, Architektur, die unsere eigenen Empfindungen, Hoffnungen und Sehnsüchte vertiefen, die uns helfen, zu Besonderheit und dem Bewusstsein unserer selbst zu finden.
Wir sind uns in Mitteleuropa einig darüber, Diktaturen zu bekämpfen. Aber warum sind Diktaturen manchmal über zu lange Zeit erfolgreich? Weil alle unter anderem ein umfängliches und meist kostenfreies Jugendprogramm haben, welches künstlerische Betätigung fördert. Die Demokratien sollten ihre Jugendprogramme ausbauen und nicht abbauen. Die Kosten, die das erfordert, werden schon eine Generation später bei der Sozialhilfe und bei der Bekämpfung der Kriminalität doppelt eingespart werden können. Es gibt keine noch so primitive Menschengemeinschaft ohne Musik. Mathematik, Musik ... (vollständige Fassung auf Anfrage)
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