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19. August 2017 · Nordbayerischer Kurier

Hartmut Haenchen: "Für Westgeld hat die DDR die Ideologie immer verkauft. " Von Roman Kocholl

Bayreuth. Er lotet gerne die Grenzen des Möglichen aus. Im Kurier-Interview spricht Hartmut Haenchen, der heuer in seinem zweiten und voraussichtlich letzten Jahr "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen dirigiert, über seine Stasi-Akte, die Kugelgestalt der Zeit und eine Einladung von Wolfgang Wagner aus dem Jahr 1982, die nie beim Adressaten angekommen ist.

Herr Haenchen, wenn Sie den Namen Dresden hören, welches Bild haben Sie dann vor Augen?

Hartmut Haenchen: Grau.

Also nicht das prachtvolle barocke Stadtzentrum.

Haenchen:

Das gab’s ja in meiner Jugend nicht. Ich bin zwischen Ruinen

aufgewachsen. Die Straßen waren zwar freigeräumt, aber links und rechts

war alles kaputt.

Sie haben als Zweijähriger die Bombennacht von Dresden erlebt. Können Sie sich wirklich noch daran erinnern?

Haenchen:

Ja. Das ist das Merkwürdige. Es streiten sich ja die Wissenschaftler,

ob das möglich ist. Aber es steht so klar vor mir. Es gibt viele, die

sagen, dass solche außergewöhnlichen Dinge auch einem Zweijährigen im

Gedächtnis bleiben können.

Welches Bild sehen Sie dabei?

Haenchen:

Ein Feuermeer. Meine Mutter hatte das erst auf dem Sterbebett

zugegeben. Ich war lange Zeit sehr zweifelnd, ob das Bild wirklich wahr

sein kann, denn sie hatte zuvor immer erzählt, dass sie mit mir und

meinen Brüdern außerhalb der Stadt war. Wir haben am Stadtrand auf einem

Berg gewohnt und dieses Bild habe ich genau vor Augen: Aus dem

Kellerfenster auf ein Feuermeer zu schauen. Das ist wahrscheinlich der

erste Eindruck, den ich behalten habe.

Sie tragen seither ein szenisches Leitmotiv durch Ihr Leben.

Haenchen:

Es ist mal stärker, mal weniger. Es hat mich sicher in meinem

grundsätzlichen Tun immer beeinflusst. Auch damit, dass ich als unbequem

gelte. Aber ich kann damit gut leben. Ich bin in diesem Einheitsgrau

aufgewachsen. Auch später in der DDR.

Sie haben ja inzwischen oft den Feuerzauber aus Wagners „Ring“ dirigiert. Hat das was mit Traumabewältigung zu tun?

Haenchen: Das würde ich nicht sagen. Es ist für mich eine andere Ebene, weil der Feuerzauber ja inhaltlich eine ganz andere Ursache hat.

Sie können offenbar gut damit umgehen.

Haenchen:

Man weiß nie, was solche Sachen mit einem tun, ohne dass man es merkt.

Aber ich gehe ja nun schon 74 Jahre damit um. Eigentlich kann ich erst

besser damit umgehen, seit mir meine Mutter bestätigt hat, dass wir in

dem Keller waren. Seitdem kann ich das loslassen. Bis dahin hatte mich

die Frage wahnsinnig beschäftigt, ob es Einbildung ist oder nicht.

Wie stellen Sie die Verbindung von der Bombennacht zum Unbequemsein her?

Haenchen:

Das Aufwachsen in einer total zerstörten Stadt hat zur Folge, dass man

sehr kritisch denkt und alles hinterfragt. Das mache ich in der Musik

ebenso, aber auch in der Politik. Zu bestimmten Dingen mache ich meinen

Mund gefragt oder ungefragt auf, um Stellung zu beziehen. Ich war in der

DDR ein unbequemer Zeitgenosse und bin es auch jetzt in der sogenannten

Demokratie.

Folglich ist Ihre Stasiakte recht umfangreich. Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 1959. Womit haben Sie Aufsehen erregt?

Haenchen:

Ich habe Flugblätter gegen die Wahl in der DDR gedruckt. Da wurde die

Stasi auf mich angesetzt. Ich konnte nicht verstehen, dass die Leute

ganz brav zur Wahl gehen und etwas wählen, was sie nicht wollten.

Deshalb habe ich die Flugblätter gedruckt und deshalb hat mich die Stasi

verfolgt. Das galt als Kapitalverbrechen. Man hat es mir aber Gott sei

Dank nicht nachweisen können. Sonst wäre ich mindestens 15 Jahre hinter

Gitter gegangen.

War Ihnen als 16-Jähriger klar, wie gefährlich das war?

Haenchen: Das war mir schon deutlich.

Manches,

was Ihnen damals vorgeworfen wurde, liest sich aus heutiger Sicht schon

ein wenig skurril. 1966 wurden Sie von der Händel-Gesellschaft der DDR

gerügt, da Sie für eine „Messias“-Aufführung nicht die offizielle

DDR-Übersetzung benutzt haben, die versucht hat, christliche Bezüge zu

tilgen. 1968 haben Sie ein Disziplinarverfahren erhalten, weil Sie das

Publikum nach einer Aufführung von Brahms’ Deutschem Requiem dazu

gebracht haben, nicht zu applaudieren. Im Wiederholungsfall wurde Ihnen

die fristlose Kündigung angedroht.

Haenchen:

Ich hatte vier politische Prozesse am Hals, hatte aber Gott sei Dank

einen Rechtsanwalt, der mich immer wieder rausgeholt hat. Das

Gefährlichste für mich war der Vorwurf der Beihilfe zur Flucht, was ich

aber wirklich nicht gemacht habe. Es war so, dass mein Chef mich

unbedingt loswerden wollte. Der hat dann eine Unterschrift gefälscht.

Mein Rechtsanwalt konnte aber beweisen, dass die Unterschrift gefälscht

ist. Ohne diesen Verteidiger wäre ich weg gewesen.

Was hat Sie angetrieben, gegen diesen Staat zu rebellieren?

Haenchen:

Ich sehe mich nicht als Revolutionär. Ich habe mich als jemanden

gesehen, der aneckt und versucht, eine Form von Demokratie zu leben. Auf

der anderen Seite habe ich natürlich versucht, die Grenze des Möglichen

zu erreichen, sie aber nicht zu überschreiten. Ich hatte ja nicht

unbedingt Lust auf Gefängnis. Insofern habe ich auch Kompromisse

gemacht. Aber so wenig wie möglich.

Welche Bedeutung hat für Sie der christliche Glaube?

Haenchen:

Der spielt schon eine große Rolle. Ich bin atheistisch aufgewachsen und

habe mich erst mit 14 taufen lassen. Das ist für mich schon ein

wichtiger Punkt. Ich habe mit 15 meine ersten Konzerte als Kantor

dirigiert. Ich musste Geld verdienen. Und so habe ich in einer kleinen

Gemeinde eine Stelle als C-Kantor angetreten. Ich bin sehr dankbar, dass

das funktioniert hat. Die Musiker waren ja bis zu 50 Jahre älter als

ich. Ich habe damit Geld verdient, aber auch unheimlich viel Praxis

bekommen. Und ich konnte mich schon sehr früh ausprobieren.

Aus DDR-Sicht gehörten Sie kleinbürgerlichen Verhältnissen an, gehörten also zu einer Art Elite.

Haenchen:

Die DDR bevorzugte bei allem Arbeiterkinder. Die hatten alle Chancen.

Als Idee klingt das erst mal sehr gut. Aber in der nächsten Generation

geht das so nicht weiter. Da sind die Arbeiterkinder plötzlich keine

Arbeiterkinder mehr. Die Idee war also etwas zu kurz gedacht.

Im

Laufe Ihrer Karriere wurden Ihnen immer wieder Chefdirigentenverträge

angeboten, die dann wieder zurückgezogen wurden. Ist das eine Form von

psychischer Folter, wie sie von der Stasi ja oft praktiziert wurde?

Haenchen:

Das sehe ich schon so. Das ist eine Zermürbungstaktik. Man wollte aber

keine zweite Biermann-Affäre. In der DDR hatte ich ja einen ganz guten

Namen. Ich habe an der Staatsoper in Berlin dirigiert. Aber es hat schon

lange gedauert, bis ich das Spiel durchschaut habe. Sie warfen mir

immer etwas hin. Dann hatte ich nicht das Bedürfnis zu gehen. Denn es

gab ja tolle Orchester und wunderbare Opernhäuser. Die Restriktionen,

was die Programme angeht, haben mich aber schon genervt. So durften die

Programme nur zu acht Prozent mit Werken aus dem kapitalistischen

Ausland gestaltet werden. Die ersten vier Sinfonien von Schostakowitsch

konnte man nicht aufführen, weil sie bei Boosey & Hawkes in London

verlegt sind, oder es wäre zu den acht Prozent gerechnet worden.

Wie fühlten Sie sich angesichts dieser Zermürbungstaktik? Wenn die Verträge kurz vor Antritt der Stelle zurückgezogen wurden?

Haenchen:

Das erste Mal habe ich mich sehr schlecht gefühlt, weil das

fürchterliche Konsequenzen hatte. Ich hatte einen unterschriebenen

Vertrag als Chef für die Komische Oper Berlin. Dann wurde ich ins

Ministerium bestellt, wo man mir erklärte: Wir halten Sie nicht für

politisch reif für diese Position. Wir kündigen hiermit den Vertrag. Man

hatte mir auch Geld angeboten, aber ich habe gesagt: Ich will das Geld

nicht, ich will die Arbeit. Damit habe ich sie meinerseits in

Schwierigkeiten gebracht. Aber das hat sich dann zum Positiven gewendet.

Der Chefdirigent, der an meiner Stelle Chef wurde, bekam dann die

Partitur von Aribert Reimanns „Lear“.

Der hat dann gesagt: Das kann ich nicht.

Haenchen:

Dann hat man mir die Partitur zugestellt mit der Frage, ob ich das

machen will. Ich sehe mich da noch in Dresden mit hochrotem Kopf sitzen.

Ich habe die ganze Nacht durch die Partitur gelesen. Und habe gesagt:

Unbedingt. Das ist eines der besten Stücke, die mir untergekommen sind.

So ist es dann zur Erstaufführung des „Lear“ in der DDR gekommen.

Das heißt aber, komplett verstoßen seitens der Staatsführung waren Sie dann doch nicht.

Haenchen:

Doch. Ich habe davor drei Jahre lang nichts gehabt. Der „Lear“ war das

Erste. Das Einzige, was ich hatte, war das Kammerorchester der

Staatsoper Berlin, das spätere Kammerorchester C. Ph. E. Bach, was ich

34 Jahre geleitet habe. Mit denen durfte ich in diesen drei Jahren etwas

ganz Neues aufbauen. Und dann kommt das ganz Typische für die DDR. Wir

hatten Schallplatten gemacht, die sogleich den Deutschen

Schallplattenpreis kriegten. Jetzt kamen Anfragen aus dem Westen für

Reisen mit dem Orchester. Das war für die Führung eine Schwierigkeit,

denn die wollten natürlich das Westgeld verdienen. Für Westgeld hat die

DDR die Ideologie immer verkauft. Immer! Weil sie immer zu wenig Valuta

hatten.

Dennoch hat man Ihnen wieder Steine in den Weg gelegt.

Haenchen:

Als ich Anfang der 80er Jahre zu den Berliner Philharmonikern

eingeladen wurde, kriegte ich keinen Pass. Das Notenmaterial, das mir

geschickt wurde, haben sie abgefangen. Sie haben alles versucht, um das

zu verhindern. Dann bin ich in meiner Verzweiflung zu einem Gespräch ins

Zentralkomitee gegangen und habe gesagt: Wenn ihr mich mein Debüt bei

den Berliner Philharmonikern nicht machen lasst, gebe ich alle

Dokumente, die ich beim „Spiegel“ hinterlegt habe, zur Veröffentlichung

frei.

Sie haben geblufft.

Haenchen: Ich habe geblufft. Dann durfte ich fahren.

Wie kam es 1986 zu Ihrer Ausreise nach Amsterdam?

Haenchen:

Es gab ein Kulturabkommen mit den Niederlanden. Ohne dieses Abkommen

hätte ich nicht ausreisen dürfen. Ich habe mich selbst freigekauft. 20

Prozent meiner Einkünfte musste ich an die DDR abführen.

Es

heißt, Wolfgang Wagner hatte Sie 1982 eingeladen, in Bayreuth den

„Fliegenden Holländer“ zu dirigieren. Der Brief ist aber nie bei Ihnen

angekommen.

Haenchen:

Dieser Brief wurde von der Stasi abgefangen. Wahrscheinlich von der

Künstleragentur. Wenn ein Theater jemanden engagieren wollte, ging das

nur über die Staatsagentur. Da saßen nur Stasileute. Der Brief ist nie

bei mir angekommen. Ich habe davon erst von Wolfgang Wagner erfahren,

als er 1994 zu meiner „Meistersinger“-Premiere nach Amsterdam gekommen

war. Da sagte er nur so beiläufig zu mir: Schade, dass Sie damals nicht

gekonnt haben. Es ging um den Bayreuther „Holländer“ 1985 in der

Inszenierung von Harry Kupfer. Den hätte ich dirigieren sollen. Aber der

Brief kam in der Zeit, als ich Auftrittsverbot hatte. Dann hat der Däne

Woldemar Nelsson dirigiert. Später habe ich den Brief in meiner

Stasiakte gefunden.

Sie hätten Ihr Bayreuth-Debüt also nicht erst 2016, sondern bereits 1985 geben sollen.

Haenchen: Genau. Da war ich gerade mal 42 gewesen.

Jetzt hat sich aber doch noch eins zum anderen gefügt, was Bayreuth betrifft.

Haenchen: Ja.

Kann man sagen: Ihre keineswegs linear verlaufene Dirigentenkarriere ist ein Beispiel für die Kugelgestalt der Zeit?

Haenchen:

Ja. Absolut. Die Zeitebenen überlagern sich. Weil man ja doch unter

einer Käseglocke gelebt hat. Auch wenn ich 1972 Reisekader wurde und zu

denen gehörte, die reisen durften, sind doch viele Dinge nicht an mich

herangekommen. Auf der anderen Seite tröste ich mich damit, dass ich so

viele junge Kollegen sehe, die zwar innerhalb von drei Jahren ganz oben

angekommen sind, wo dann aber in der dirigentischen Entwicklung nichts

mehr dazukommt. Der ganz alte Weg, den auch Karajan gegangen ist, hat

schon was. Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Deswegen habe ich im

ersten Band meines Buches ja auch das Zitat von Richard Strauss

aufgenommen, dass er erst mit 70 Jahren begriffen hat, wie schwer

Dirigieren ist.

Sie

haben kurz vor der Wende einen autoritären Staat verlassen. Was denken

Sie angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Europa?

Haenchen:

Es macht mir große Angst. Das Verrückte ist ja: Wenn ich jetzt die

politische Entwicklung sehe, dann fühle ich mich auf einmal richtig

links. Obwohl ich aus einem autoritären sogenannten sozialistischen

Staat komme.

Befürchten Sie auch in Deutschland eine Verstärkung autoritärer Tendenzen?

Haenchen:

Da hatte ich eine Zeit lang Angst. Die hat sich bei mir aber wieder

gegeben, weil sich die AfD selber zerfleischt. Das ist das Beste, was

passieren kann.

Sie wohnen in Dresden. Wie erleben Sie die Atmosphäre in der Stadt, die mit ihren Pegida-Demonstrationen Schlagzeilen machte?

Haenchen:

Das ist für mich ein Phänomen, das mich als Dresdner trifft und worauf

man überall angesprochen wird. Dann muss man erklären: Es hat immer

Gegendemonstrationen gegeben, über die wenig berichtet wurde. Ein

Großteil der Leute, die bei Pegida demonstrieren, kommt aus Bayern.

Darunter sind auch führende Köpfe der Rechten aus Süddeutschland.

Natürlich gibt es auch in der Sächsischen Schweiz harte Gruppen, aber es

ist auch eine Frage der Berichterstattung. Natürlich muss man darüber

berichten, aber ich finde die Ausgewogenheit problematisch.

Was vermissen Sie in der westlichen Gesellschaft?

Haenchen:

Es hat in der DDR etwas gegeben, was sich nach der Wende verloren hat.

Das war der Zusammenhalt der Andersdenkenden. Wie sich die Menschen

untereinander geholfen haben, war Solidarität im besten Sinn des Wortes.

Das ist noch mal aufgeflackert nach der großen Flut in Dresden. Das war

wirklich berührend, wie uneigennützig jeder dem anderen geholfen hat.

Nach der Flut ist die Ellenbogengesellschaft ein bisschen größer

geworden.

Sind Sie trotz allem mit der DDR im Reinen?

Haenchen:

Versöhnt bin ich nicht. Aber ich habe mir, als ich 1979 meine

Chefposition in Mecklenburg räumen musste, gesagt: Lass in dir keinen

Hass aufkommen. Hass ist kein Mittel. Das habe ich auch so gehalten. Ich

habe dann ja auch wahnsinniges Glück gehabt, dass ich nach Amsterdam

gebeten wurde und in den 20 Jahren ein Haus von Weltklasse aufbauen

konnte. Damit bin ich zufrieden. Das ist etwas, was hoffentlich bleibt.

 

 

 

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