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Die Aufführungspraxis des Kammerorchesters C.Ph.E. Bach

Beitrag zum Programmheft zur Eröffnung des Kammermusiksaales im Konzerthaus (Schauspielhaus). Hier die erweiterte Fassung von 1999

Eine vollständige PDF-Datei mit allen Fußnoten und Beispielen können Sie am Ende des Textes downloaden.

Für das Natürliche in der Musik

Das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und sein Stil

Das Kammerorchester "Carl Philipp Emanuel Bach" kann auf eine über 30-jährige Geschichte zurückschauen. In dieser Zeit hat sich das Kammerorchester mit unterschiedlichen künstlerischen Leitern jeweils verschiedene Schwerpunkte der Musikgeschichte zu eigen gemacht und einer breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland vorgestellt. In den ersten Jahren der Entwicklung dieses Orchesters lag die Konzentration bei neuen Werken und seit 25 Jahren - unter der Leitung von Prof. Hartmut Haenchen - bei den Werken der Vorklassik. Beiden stilistischen Gebieten ist musikalisch-strukturelles Denken zu eigen und somit der Weg von einem Stil zum anderen nicht so weit, wie man zunächst glaubt. In dieser Gemeinsamkeit liegt auch der Schlüssel zu internationalen Erfolgen der Interpretationen dieses Kammerorchesters.

Aus diesem Blickwinkel ist auch die Frage nach der Wichtigkeit von historischen Instrumenten zu beantworten:
Das Gehör des Menschen wandelt sich, ebenso auch das Gehörte, es wandelt sich der Hörer, also wandelt sich auch die Funktion des Klanges, wandelt sich mit dem Kammerton auch das Tonartengefüge. Die historischen Stimmungen werden heutzutage zwangsläufig als Transposition erfahren und dadurch geht der ursprüngliche Wert von Tonartencharakteristiken verloren. Der Hörer von heute hat die Hörerfahrungen moderner Musik und damit eine veränderte Reizschwelle. Wie ist es möglich, für ein nicht spezialisiertes Publikum auf historischen Instrumenten den gleichen "Effekt" zu erzielen?

Die Größe der Säle, in denen musiziert wird, hat sich auch verändert. Die semantische Komponente - oder nennen wir es strukturelle - verschwindet unter der stilisierten Aufmachung. Dagegen ist das Studium des Klanges alter Instrumente für bestimmte Ausdrucksgebiete eine unabdingbare Voraussetzung und (z.B. bei der Bogenführung für bestimmte Tanzsätze) oftmals die einzig mögliche Basis unserer Interpretation. Das gleiche gilt von der Kenntnis der musiktheoretischen Werke des 16.-18. Jahrhunderts. Ohne ein fortwährendes Studium dieser immer besser erschlossenen Quellen ist die "Übersetzung" des Notentextes zu lebendiger Interpretation nicht wirklich denkbar. Das verlangt auch nicht nur allein das Studium der Epoche, aus der das Werk stammt, sondern vor allem auch der interpretatorischen Vorgeschichte, um eben das Besondere, das Veränderte, den neuen Einfall deutlich machen zu können. Mehr als 200 theoretische Schriften aus dem 16.-18. Jahrhundert sind der Wissensspeicher für die Einrichtung des Notenmaterials des Kammerorchesters "Carl Philipp Emanuel Bach". In diesen Einrichtungen, die bis zu ergänzenden kompositorischen Arbeiten gehen, wird deutlich, dass Werktreue in diesen Jahrhunderten nicht im notengetreuen Abspielen von Musikstücken bestand, sondern in größtmöglicher Fantasie. Eine „authentische“ Aufführung kann es also nicht geben. Es wird also nur eine (von vielen) nach stilistischen Erkenntnissen mögliche Interpretation entstehen. Das muss aber das Gewissen eines jeden Interpreten von sich selbst verlangen.

Kernfragen, die heute in vielen Ensembles für alte Musik einseitig und unwissenschaftlich betrachtet werden, scheinen der anerkannte Standard einer „historischen Aufführungspraxis“ zu werden. Ein deutliches Beispiel ist das durchgängige non-Vibrato-Spiel zahlreicher Ensembles und Solisten. Sie berufen sich auf Leopold Mozarts Ausspruch : „Es gibt schon solche Spieler, die bey ieder Note beständig zittern, als wenn sie das immerwährende Fieber hätten.“
Als Folge davon verbannen sie jedes Vibrato aus ihrem Spiel. Dabei bedeutet dieser Satz lediglich, dass es tatsächlich schon zu L. Mozarts Zeit Dauervibrato gegeben hat, welches nach vielen anderen Quellen angeblich erst im 20. Jahrhundert aufgekommen sein soll. Zum anderen bedeutet L. Mozarts Kritik lediglich, dass er das Vibrato nicht immer für angebracht hält, sondern für eine „Auszierung, die aus der Natur selbst entspringt, und die nicht nur von guten Instrumentisten, sondern auch von geschickten Sängern bey einer langen Note zierlich kann angebracht werden. Die Natur selbst ist der Lehrmeister hiervon.“
Im Weiteren beschreibt er auch die verschiedenen Möglichkeiten und Geschwindigkeiten des Vibratos. Auf dieser Grundlage haben wir unsere Vibratotechnik entwickelt. W.A. Mozart bestätigt den Gebrauch des Vibratos bei den Sängern und allen Instrumentalisten: „..die Menschenstimme zittert schon selbst - aber so - in einem solchen grade, daß es schön ist - daß ist die Natur der stimme. Man macht ihrs auch nicht allein auf den blas=instrumenten, sondern auch auf den geigen instrumenten nach - ja so gar auf den Claviern-.“

Ein anderes Beispiel sei mit dem Missverständnis dargelegt, welches durch den Begriff von „Musik als Rede“ bekannt ist. Vielmals wird er so verstanden, dass einzelne Worte überartikuliert werden, dass man den Satz nicht mehr versteht, oder wie L. Mozart sagt „Ja es läuft wider das Natürliche, wenn man immer absetzet und ändert. Ein Sänger, der bey jeder kleinen Figur absetzen, Athem holen, und bald diese, bald jene Note besonders vortragen wollte, würde unfehlbar jedermann zum Lachen bewegen... Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allzeit das Augenmerk aller Instrumentisten seyn soll: weil man sich in allen Stücken dem Natürlichen, so viel es immer möglich ist, nähern muß?
Ebenso spielen viele „eine wider die Natur selbst streitende Musik, bey der es oft so still wird, daß man die Ohren spitzen muß, bald aber möchte man wegen dem gähen und unangenehmen Geraffel die Ohren verstopfen.“
Wir halten es also gern mit G.Ph. Telemann: „Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen.“
Dabei ist der wichtigste Punkt, dass der Interpret im Auge behält, welche Vorstellungen des Komponisten für das heutige Publikum noch unmittelbar nachvollziehbar sind und welche nicht. Um das Anliegen einer historischen Komposition heute noch wichtig und wertvoll zu machen, muss die Interpretation die Schwerpunkte auf die heute noch nachzuvollziehenden Inhalte und Aussagen legen.

Hartmut Haenchen
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