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Bach, Johann Sebastian: Johannes-Passion

Antwort auf eine Rezension in der Zeitung "Trouw" von Franz Straatman und die Beantwortung eines Hörerbriefes

Eine vollständige PDF-Datei mit allen Fußnoten und Beispielen können Sie am Ende des Textes downloaden.

Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion
Zwei Briefe nach der Aufführung im Concertgebouw Amsterdam 1997
Der erste Brief bezieht sich auf eine Kritik in der niederländischen Zeitung „Trouw“, der bereits 10 Jahre eher eine ähnliche Kritik über das gleiche Werk zugrunde liegt, und der zweite auf einen Hörerbrief.

Lieber Herr Straatman!

Da Ihre Kritiken zu den wenigen gehören, die ich regelmäßig lese, da sie auf einem umfassenden Wissen und großer Erfahrung beruhen, möchte ich Ihnen gern anbieten, einmal persönlich ausführlich über die aufgeworfenen Fragen in Ihrer Kritik zu sprechen.

Als sehr kurze (und unvollständige) Stichpunkte möchte ich folgendes erwähnen:
Sie schreiben:
„werd mij toch niet duidelijk waarom de Johannes zonodig weer op de lessenaar moest.“ („War es mir unklar, warum die Johannes-Passion so dringend wieder auf den Pulten erscheinen musste.“) Die Antwort ist einfach: Wir spielen für unser Publikum, und da das in den letzten Jahren sehr gewachsen, verjüngt und verändert ist, möchten wir unserem Publikum dieses Meisterwerk nicht länger als zehn Jahre vorenthalten.

Sie beanstanden die Ausführung der Choräle:
Ich denke, daß wir hier vor allem ein theologisches Problem haben. Tatsächlich sind die Unterschiede der Funktion des Chorales in den verschiedenen christlichen Kirchen und Ihre Aufführungspraxis sehr verschieden. Nach der Auseinandersetzung mit Bachs Glauben und seinen theologischen Absichten (siehe den ausführlichen Streit mit seinen Pfarrern in Leipzig) wurde mir deutlich, welche Funktion sie haben und welcher Ausführung (übrigens noch heute in der sächsischen und thüringischen evangelisch lutherischen Landeskirche bei guten Kantoren) die Choräle in Bachs Sinne bedürfen. Ich gebe gerne zu, daß das der niederländischen Tradition, die offensichtlich vom Calvinismus beeinflußt ist, diametral gegenübersteht. Nur ich bemühe mich, auch da so dicht wie möglich an Bachs Ideen und seine Aufführungspraxis zu kommen. Und da Bach seine Meinung nicht mehr verändert hat, konnte ich meine Meinung darüber in den letzten zehn Jahren auch nicht ändern. Unabhängig davon verweise ich auf Johann Joachim Quantz der eindeutige Anweisungen gibt, wie Tempo (sic.) und Dynamik prinzipiell bei Wiederholungen zu verändern sind. Es tut mir leid, daß viele der „authentischen“ Aufführung davon keine Kenntnis nehmen.

Sie sind nicht einverstanden mit der jubelnden Ausführung vom Schluß: „Ich will dich preisen ewiglich."
Bachs Leitspruch war: „Ich freue mich auf meinen Tod“. Die von Ihnen gewünschten Zweifel in der Interpretation anklingen zu lassen, wäre absolut gegen Bachs theologische Überzeugung. Aber das ist mit einem Satz nur unzureichend zu umschreiben. Ich empfehle jedoch gern die Lektüre über den Streit der Vertreter der alt-lutherischen Vertreter um Johann Matthias Gesner, denen Bach anhing, mit den Vertretern des neuhumanistischen Bildungsideals wie Johann August Ernesti. Wie wichtig Bach der Choral war, wird allein daran deutlich, daß er mit zunehmendem Alter sich immer mehr auf die Choralkantate konzentrierte und sich damit von der modernen Zeitströmung abwandte. (Gern empfehle ich die Lektüre der dazugehörenden theologischen Schriften von Martin Schamelius und Johann Christoph Gottsched)

„Maar na tien jaar zou je een verandering kunnen verwachten“ („Aber nach zehn Jahren sollte man eine Veränderung erwarten.“)
Da auch die oben genannten theologischen Schriften sich nicht verändert haben, kann sich meine Auffassung dazu nicht verändern.

„Net als tien jaar geleden verdiepte Haenchen de baslijn in het orkest met een contrafagot.“ („Ebenso wie vor zehn Jahren vertiefte Haenchen die Baslinie mit einem Kontrafagott.“)
Wenn das „ontzettend grommerig“ („entsetzlich brummig“) klingt, bedaure ich diese negative Erfahrung. Ich hatte bereits in meinem Interview mit Ihnen vom 16. April 1987 deutlich gemacht, daß die Besetzung des Kontrafagotts eine ausdrückliche Vorschrift von J.S. Bach ist. Welcher Interpret darf sich bei einem Meister wie Bach Instrumentationsveränderungen erlauben, wenn die Anweisungen so eindeutig und unmißverständlich sind? In den Niederlanden ist es unüblich, das Kontrafagott mitspielen zu lassen. Dies aber nur, weil sich niemand die Mühe macht, einmal zu schauen, ob die Neue Bach-Ausgabe auch Bachs Wünsche korrekt wiedergibt. Ich habe sowohl die autographe Partitur der von mir ausgeführten Fassung als auch den von Bachs Hand geschriebenen Stimmensatz (Berliner Staatsbibliothek) Note für Note, Artikulation für Artikulation und Dynamik für Dynamik mit der NBA verglichen. Das Ergebnis ist verblüffend, da die NBA auf Grund einer Fehleinschätzung der Quellen-Lage (sie bewertet die Partitur höher als die Stimmen, die Bach mit zahlreichen Veränderungen zur gleichen Fassung später schrieb) ein in wesentlichen Punkten falsches Bild von Bachs Ausführungsideen gibt.
Warum sollte Bach sich die Mühe gemacht haben, eine Feder zu schnitzen, alle Notenzeilen mit der Hand zu ziehen, viel Öl zu verbrauchen, seine Augen überzubelasten, um eine Kontrafagott-Stimme zu schreiben, wenn ich Sie nicht zum klingen bringe? Wenn das meine Kollegen in den Niederlanden nicht tun und damit eine andere „Tradition“ herrscht, empfinde ich das als eine bedauerliche Ignoranz.
Vielleicht ist es auch empfehlenswert, Bachs Protokolle zu Orgelprüfungen zu studieren, um eine Idee über seine Klangvorstellungen zu haben. Die waren durchaus nicht bescheiden und legten übergroßen Wert auf 16´und 32´und auf ein guten Tremulanten, sprich „Vibrato“- der menschlichen Stimme gleich.

Sie finden die Artikulation zu „dik gestreken“ („dick aufgetragen“).
Im Gegensatz zur Calvinistischen Auffassung bediente sich Bach musikalischer Bilder. Eines der Bilder ist das der „Ewigkeit“ im Schlußchor. Die in den originalen Stimmen vorhandenen Artikulationen des „unendlichen“ Bogens habe ich versucht, als Bild hörbar zu machen. Offensichtlich ist mir das auch gelungen. Den Rest kann ich nicht beeinflussen.

Sie wünschen sich eine „minder massaale“ („weniger massige“) Ausführung.
Ich weiß nicht, auf welche Quellen sich die „authentischen“ Aufführungen in den Niederlanden berufen. Bach hatte - wie in seinen eigenen Texten nachzulesen ist - in den schlechtesten(!) Zeiten 54 (!) Jungen zur Verfügung. Wenn man sich verdeutlicht, daß damals die Jugenstimmen viel älter waren, als heute, da die Mutation etwa vier Jahre später einsetzte, ist bei den durchaus geschulten Stimmen mit einem erstaunlichen Klangvolumen zu rechnen, das selbst mit 40 Amateurstimmen nicht vergleichbar ist. Also eigentlich war die Besetzung, die ich jetzt benutzte, noch zu klein. (Eine andere Sache ist, daß Bach mit der Qualität der 54 Sänger nicht zufrieden war, aber welcher anspruchsvolle Dirigent ist das?)

„KKKristus, KKKKreuzige...“ (Zitat bezieht sich auf die harte (deutsche) Aussprache des „K“ welches für niederländisches Sprachgefühl übertrieben klingt, da die niederländische Sprache weichere Konsonanten hat.)
Abgesehen davon, daß in der Passionszeit alle Chöre ihre eigenen Passions-Aufführungen machen und somit keiner der guten niederländischen Chöre zur Verfügung steht, habe ich mich nach meinen Erfahrungen mit dem London-Bach-Choir bewußt für einen deutschen Chor entschieden, um endlich die richtige deutsche Aussprache zu bekommen und die ist nun mal viel härter als hier normalerweise zu hören ist. Können Sie sich vorstellen, einmal hautnah die Schreie aufgebrachter Massen zu erleben, die z.B. rufen „Wir sind das Volkkkk“ oder wie jüngst „KKKKKohl muß weg“? Ein interessantes Gesprächsthema wäre, wie Bach durch Kombinationen von deutschen Konsonanten Klangbilder komponiert hat, die erst (wenige) moderne Komponisten wieder benutzen.
Ich bin jedenfalls glücklich, diese hier erstmals zum Klingen zu bringen.

„Lijmde de zinsdelen aan elkaar“ („Klebte Satzteile aneinander“, das Zitat bezieht sich auf das sonst übliche „Zerpflücken“ der Sätze und einzelner Worte in der sogenannten „authentischen“ Aufführungspraxis, was hier als Referenz angenommen wird.)
Das ist eindeutig „Schuld“ des Dirigenten und nicht des Solisten. Ich habe die Abhandlung über das Rezitativ von Bachs Freund Johann Adolf Scheibe gründlich studiert. Auf Grund dieser Anweisungen lasse ich die Rezitative ausführen. Wenn meine Kollegen das nicht tun, kann das nur Unwissen sein, denn in den originalen Quellen der Bachzeit wird gefordert, dass der Takt nicht eingehalten werden soll und Pausen zu übersingen sind, wenn der Text es verlangt.

Bedauerlich finde ich, daß bei all diesen natürlich überdeutlichen Details, die Sie beschreiben, die von mir zahlreichen Veränderungen in Tempo, Dynamik und sogar Instrumentierung (wo es von Bach nicht eindeutig vorgeschrieben ist) nicht ins Gewicht gefallen sind, daß Sie es bemerkt hätten. Aber zehn Jahre sind halt auch eine lange Zeit. Interessiert hätte mich auch, was Sie von der Ausführung der Vorschläge finden, die die hier in den Niederlanden üblichen Quintparallelen (die nach Bach „teuflisch“ sind) vermeiden. Oder wie Sie die Ausführung der fragenden Appoggiaturen von unten nach den Vorschriften von Johann Adolf Scheibe finden, die meines Wissens auf keiner Aufnahme oder in keiner Aufführung bisher richtig waren.
Darüber hinaus finden sich in der Aufführung Korrekturen der Fehler der Neuen Bach-Ausgabe. Es steht z.B. eine falsche Taktvorzeichnung für den Chor „Mein teurer Heiland“. Wir haben es entsprechend der Handschrift Bachs ausgeführt.
Spätestens jetzt müßten Sie mich mit den wenigen Beispielen wieder als den erkennen, der „dieper wil doordringen“(„tiefer etwas durchdringen will“), so wie wir uns kennen.

In alter Verbundenheit und
mit freundlichen Grüßen,

Prof. Hartmut Haenchen


Lieber Jan Willem !

Ich finde es schön, wie genau unsere Hörer zuhören.
Wie Du aber vermutest, habe ich natürlich eine Antwort darauf: Ich habe alle Solisten nachdrücklich gebeten „Jüden“ an Stelle von dem noch immer üblichen „Juden“ zu singen. Der Grund ist sehr einfach: Johann Sebastian Bach schreibt grundsätzlich „Jüden“ (siehe Faksimile Ausschnitte). Er bezieht sich dabei auf die originale Luther-Übersetzung, die ich glücklicherweise in einer Bibel aus dem Jahre 1643 (also beinahe Bachs Geburtsjahr) besitze. (Siehe Ausschnitt aus der Bibel mit Luthers Kommentar). Der Unterschied zwischen der Aussprache kommt aus der unterschiedlichen Entwicklung der deutschen Sprache. Luther schrieb seine Übersetzung im sogenannten „Meißner Amstdeutsch“ welches als „Neuhochdeutsch“ in die Germanistik eingegangen ist. In dieser Sprachvariante hieß es „Jüden“ und diese Sprachvariante war vor allem in Sachsen und Thüringen, wo ja Bach herstammt (und Meißen gehört zu Sachsen), gebräuchlich.
Unser Hörer hat auch richtig gehört, daß „antwortete“ nur einmal mit der „normalen“ deutschen Betonung gesungen wurde. Bach hat (auch mit mehreren anderen Worten) die dramatische Ausdruckskraft einer ungewöhnlichen Betonung in dramatischen Situationen genutzt und entsprechende Sprachrhythmen und Betonungen durch entsprechende Intervalle komponiert. Ich habe das auch so ausführen lassen, da es die Aufregung des „Erzählers“ deutlicher macht, als die „normale“ Betonung.

Dein Hartmut

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