Opera

Opernwelt, 27. April 2008
OPERNWELT, Heft 5 2008 (S. 40-42)

...begegnet man in diesen Tagen einem musiktheatralischen Höhepunkt nach dem anderen in der französischen Kapitale. Hartmut Haenchen setzt „Parsifal“ unter Strom,.....

Erlöste Welt, kristallklar
Hartmut Haenchen entdeckt an der Pariser Opéra Bastille Wagners „Parsifal“ neu

Wagner, sagt Hartmut Haenchen, tickte deutlich schneller, als dessen durch wagnerianische Fürsorge gefestigter Ruf uns glauben macht. Schon für seinen Amsterdamer „Ring“-Zyklus hatte der Dresdner Dirigent die Originalquellen studiert – und zwar nicht nur das Notenmaterial, sondern auch Anmerkungen zur Aufführungspraxis, die sich in Briefen, in Cosimas Tagebüchern und in Aufzeichnungen von Wagners Assistenten finden. Die Recherchen förderten neue Einsichten zu Tage, die beinahe alle Aspekte der Interpretation betreffen – Phrasierung und Artikulation, Dynamik und Sprachbehandlung, Rhythmus – und vor allem Tempofragen. „Freund!“, schrieb der Meister etwa an Hans Richter, den Dirigenten des ersten Bayreuther „Ring“ 1876, „es ist unerlässlich, dass Sie den Klavierproben genau beiwohnen, Sie lernen sonst mein Tempo nicht kennen... Gestern kamen wir, besonders bei Betz (dem Sänger des Wotan), den ich am Klavier immer im feurigsten Tempo habe singen lassen, aus dem Schleppen nicht heraus. ...Ich glaube wirklich.., Sie halten sich durchgängig zu sehr am Viertelschlagen, was immer den Schwung des Tempos hindert...“ Und Cosima notierte im November 1878: „Richard ruft wiederum aus: „Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt.““
Das gilt zumal für das ganz auf die Akustik des gedeckelten Bayreuther Orchestergrabens zugeschnittene kunstreligiöse Gipfelwerk „Parsifal“, in dem Wagner die Bilanz seiner kompositorischen Erfahrungen zog. Seit der Uraufführung 1882 wurde sein opus ultimum zunehmend als Gottesdienst zelebriert. Das markanteste Zeichen dieser Sakralisierung war die kontinuierliche Dehnung der (Spiel-)“Zeit“, die hier bekanntlich „zum Raum“ wird. In einem Essay anlässlich der Neuproduktion des „Parsifal“ an der Pariser Opéra Bastille hat Hartmut Haenchen nun jenen Prozess der Entschleunigung penibel rekonstruiert, der Wagners ursprüngliche Intentionen auf den Kopf stellt. Während Hermann Levi für die Uraufführung (netto) vier Stunden und vier Minuten brauchte, erhöhte Karl Muck 1901 schon auf vier Stunden und siebenundzwanzig Minuten. Arturo Toscanini stellte 1931 mit vier Stunden und zweiundvierzig Minuten de Höchstmarke auf. Eine Tradition, die bis in de Gegenwart nachhallt: James Levine erreicht in seiner New Yorker Studioaufnahme von 1991/92 vier Stunden und dreißig Minuten.
Es gibt freilich eine gegenläufige Tradition. Sie reicht von Richard Strauss über Clemens Krauss bis zu Pierre Boulez, dessen energisch-zügige Tempi nicht unmaßgeblich dazu beitrugen, dass der Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ 1976 in den mentalen Tempeln des Traditionalismus einen Schock auslöste. Einer der damaligen Hospitanten hieß Hartmut Haenchen. Und so kann es kaum überraschen, dass Haenchen im Fall „Parsifal“ heute dem Zukunftsmusiker Wagner vehement das Prä vor dem Klangkleriker gibt und dies mit Tempomaßen unterstreicht, die nur sechs Minuten über dem Krauss’schen Geschwindigkeitsrekord von drei Stunden und vierundvierzig Minuten bleiben.
Mit sportiven Ehrgeiz hat diese Haltung nicht das Geringste zu tun. Haenchen kommt es vielmehr darauf an, jene „Deutlichkeit“ in der Feinzeichnung der musikalischen Verläufe ins Zentrum zu rücken, von der Wagner auf den Proben immer wieder gesprochen hatte. An der Bastille-Oper tut er dies mit Orchestre et Choeurs de Opéra de Paris in atemberaubender sinnlicher Konsequenz. Bis in die Binnenstrukturen der Figuren hinein verfolgt Haenchen das Spiel wechselnder Identitäten - Kundry als „Verführerin“ und „Gralshüterin wider Willen“, Parsifals Entwicklung vom „reinen Tor“ zum Mensch gewordenen Erlöser, Titurels dogmatische Askese im Kontrast zu Klingsors strategischem Hedonismus. Doch nie entsteht dabei der Eindruck einer analytischen
Distanz
zum Gegenstand, einer modernistischen Kühle, die nur noch Wagners „Kunst der Zergliederung“, nur noch die Aufspaltung der Motive, den „Verzicht auf eine wenig konkrete Ornamentik“ und die „ausgesparte Harmonik“ wahrnimmt. Haenchen gelingt das Wunder, den Tonfall ritueller Pathetik zu tilgen, ohne jene Klangfarbendramaturgie zu unterschlagen, die Debussy so sehr an „Parsifal“ faszinierte. Selbst die Gralsszenen mit ihren klug auf den Galerien des Riesenraumes gestaffelten Höhenchören gewinnen so äußerste Transparenz und Geschmeidigkeit. Der Klingsor-Akt tönt in selten eindringlicher Plastizität aus dem Graben, die großen Erzählungen und Dialoge sind mit betörender innerer Flexibilität gestaltet. Die Balance zwischen Streichern und Holzbläsern ist sensibel ausgemessen, auch das Blech bleibt stets in das organisch begriffene große Ganze, in den Grundriß der aus wenigen Themen(partikeln) und zahllosen Variationen gebauten Riesenarchitektur eingebunden. ...... Vor dem Hintergrund der musikalischen Neuentdeckungen ist die Aufregung, die um Krzysztof Warlikowskis assoziative, atmosphärisch dichte Inszenierung entstand, nicht mehr als ein Stürmchen im Wasserglas. Zwar meinte ein Teil des Publikums, auch noch in der vierten Vorstellung das von Hartmut Haenchen im Dunkel mit Leuchtstab kristallklar dirigierte Vorspiel zum dritten Akt durch Buhrufe stören zu müssen, weil die verfallene „alte“ Gralssphäre mit einer Einspielung aus Roberto Rossellinis Filmklassiker „Deutschland im Jahre Null“ bebildert wird, die den Selbstmord eines Kindes in den Ruinen Berlins zeigt, doch die Bilder sind sorgfaltig gewählt. Zumal die Regie auf der Bühne ein Kind das Geschehen unaufdringlich verfolgen lasst - ambivalentes Symbol einer Zukunft, die ebenso gut gelingen wie scheitern kann. .... Alle entwickeln sich, keiner bleibt zurück. Sogar Kundry überlebt. Vielleicht gibt es sie ja doch, die durch Kunst erlöste, bessere Welt. Hartmut Haenchen hat in Paris schon mal gezeigt, wie sie klingen könnte.
Albrecht Thiemann
besuchte Vorstellung am 14. Marz 2008.