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02. März 2008 · Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Schneller geht's nicht

An der Pariser Bastille-Oper bereitet der deutsche Dirigent Hartmut Haenchen den kürzesten "Parsifal" aller Zeiten vor

Am Ende seines Lebens hatte Richard Wagner das unsichtbare Orchester erfunden und ein paar neue Instrumente noch dazu. "Sein ,Parsifal' ist eigentlich das einzige Werk, bei dem die Bayreuther Akustik wirklich voll funktionsfähig ist", behauptet der Dirigent Hartmut Haenchen. Alle jüngeren Stücke, selbst der "Ring", haben zu kämpfen mit Koordinationsproblemen wegen der Zeitverzögerung, mit den Sicht- und Hörbehinderungen, die der gedeckelte, tief unter die Bühne verlegte Orchestergraben des Festspielhauses nun mal mit sich bringt: Was für die Bayreuth-Aficionados aus aller Welt ein einzigartiges Hörerleben, das ist für die Mitwirkenden jedes Mal eine Zitterpartie.

 

Anders beim Alterswerk "Parsifal" (obgleich man natürlich auch damit, wie es Christoph Eschenbach widerfuhr, durchaus in Bayreuth scheitern kann). Es geht damit los, dass schon der erste notierte "Klang" der "Parsifal"-Partitur eine Pause ist. Das ganze Vorspiel wird von solchen Generalpausen durchweht, auch sieht der Orchestersatz nicht mehr halb so kompakt aus, ist homophoner angelegt als etwa noch in den "Meistersingern" und vor allem viel durchsichtiger instrumentiert. Ja, Maestro Haenchen, der sonst so übertrieben vorsichtig ist in seiner Wortwahl, geht noch einen Schritt weiter und benutzt das Reizwort: "Kammermusik!"

 

Am Dienstag wird Haenchen an der Pariser Bastille-Oper die Premiere des "Parsifal" in der Regie von Krzysztof Warlikowski dirigieren. Mit der besten Kundry, die zurzeit an der Wagnergesangsbörse zu haben ist, nämlich der aus Bayreuth exkommunizierten Waltraud Meier. Außerdem: mit dem jungen britischen Tenor Christopher Ventris als Parsifal, der am 25. Juli in eben dieser Rolle beim neuen Bayreuther "Parsifal" sein Hügel-Debüt geben soll. Dies ist nicht der einzige Grund, warum sich die Wagners und ihr "Parsifal"-Dirigent Daniele Gatti die Pariser Produktion anhören müssen. Es gibt weitere Neuigkeiten. Haenchen hält sich nicht an die bekannte Partitur in dieser Aufführung. Er hat den "Parsifal" nach den Quellen revidiert. Hat die neue Wagnergesamtausgabe zu Rate gezogen und in die Orchesterstimmen eigenhändig neue Bogensätze und Artikulationsanweisungen für die Streicher eingetragen. Die Änderungen erstrecken sich auf den Text, auf Rhythmus, Tonhöhen, Dynamik, Ausdruck, Sprachakzente, Regieanweisungen, Klangfarben, Vibratofragen sowie Fragen der Instrumentation. Kurzum: auf alles. Vieles wird hörbar anders sein als gewohnt. Haenchen zog dazu vor allem die Probennotizen der Uraufführung zu Rate und studierte die Protokolle der Wagnerdirigenten und -assistenten der ersten Stunde: von Felix Mottl, Hermann Levi, Heinrich Porges und anderen.

 

Hat er dabei falsche Noten gefunden? Klar, das auch. Aber Musik besteht nicht nur aus der korrekten Tonhöhe. Mindestens so wichtig sind die Tonfarbe und die Tondauer, zumal in einem Werk, in dem die Zeit "zum Raum" werden muss und sich streckt und staucht und dehnt. Tatsächlich hat die Erklärung, die der alte Gurnemanz dem jungen Parsifal zum Gralsverwandlungswunder im ersten Aufzug erteilt ("Zum Raum wird hier die Zeit") schon allerhand Unheil angerichtet in den Dirigentenköpfen und Orchestergräben der Welt. Das Schleppen gehört zu den ältesten Wagnermythen - eine Tradition, die offenbar schon einsetzte zu Wagners Lebzeiten. Frau Cosima schrieb in ihr Tagebuch am 20. November 1878: "Richard ruft wiederum aus: Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt!"

 

Seit seiner Uraufführung 1882 wurde der "Parsifal" immer langsamer, weihevoller, staatstragender. Kein Wunder, dass Haenchens Expedition zurück zu den Wurzeln vor allem in Tempofragen fündig geworden ist. Zum Beispiel? "Deutlich steht da ,Breiter werden' im Vorspiel zum dritten Aufzug. Aber genau das hat Wagner dann in der Probenarbeit wieder gestrichen! Was ja eigentlich nichts Ungewöhnliches ist, viele Komponisten finden die optimale Lösung erst in der Aufführung. Deswegen wundert es mich umso mehr, dass sich vor mir noch nie jemand die Mühe gemacht hat, mal die Partitur und alle Probenbücher nebeneinanderzulegen." Jetzt wird Haenchen also in Paris den schnellsten, vermutlich auch kürzesten "Parsifal" aller Zeiten dirigieren. Wie kurz? Er lacht und sagt: "Kommt darauf an, mit wem Sie mich vergleichen. Wenn wir James Levine zum Maßstab nehmen, dann dürfte das fast eine Stunde ausmachen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich sogar etwas unter den Tempi der Uraufführung liege. Denn die waren ja dem Wagner selbst immer noch viel zu langsam."

 

Eine Stunde ist eine gigantische Spanne Zeit bei einem Musikstück, das in seiner, soweit aufgezeichnet und bekannt, bislang längsten Interpretation durch Arturo Toscanini (1931) insgesamt vier Stunden und zweiundvierzig Minuten dauerte. Knapp darunter liegt Levine, der für seinen Bayreuther Kaugummi- "Parsifal" durchschnittlich viereinhalb Stunden brauchte. Hartmut Haenchen selbst hatte bereits erste Erfahrungen mit einem ausnahmsweise schnellen "Parsifal" gesammelt, als er in den siebziger Jahren, als ostdeutscher Zaungast in Bayreuth, Pierre Boulez bei dessen sportlicher Entzauberung des Bühnenweihfestspiels assistieren durfte. Als er dann vier Jahre nach der Wende im Amsterdamer "Muziektheater" erstmals einen eignen "Parsifal" einstudierte, kam auch Boulez vorbei und freute sich, endlich einmal eine Aufführung zu erleben, die "sein" Tempo hatte. So erzählt es Haenchen, in der ihm eigenen kapellmeisterlichen Gründlichkeit, die sich Eitelkeiten gar nicht erst erlaubt. Die Frage des Tempos ist zugleich immer auch eine Frage des Charakters. Boulez hatte sich zwar nicht, wie Haenchen es später tat, in die Quellenarbeit gestürzt. Aber "sein" lakonisch in gut dreidreiviertel Stunden durchexerzierter "Parsifal" war 1966 auch eine politische Provokation, so gemeint und so verstanden.

 

Hartmut Haenchen, geboren und immer noch wohnhaft in Dresden, ist einer, der nie richtig wegging aus dem Osten und nie richtig ankam im Westen. Er hat sich beizeiten unbeliebt gemacht bei der DDR-Bürokratie, weil er treu blieb gegenüber seinen Musikern. Eine geradlinige Karriere ist auf diese Weise nicht möglich. Seit zwanzig Jahren dirigiert Haenchen nun schon regelmäßig in Amsterdam, populär als Chef der Niederländischen Philharmonie, gefragt als Gastdirigent an den Opernhäusern von Covent Garden bis Los Angeles. Parallel dazu leistet er sich immer noch ein Kammerorchester in Berlin, das zwar keine Subventionen kriegt, aber dafür Schallplattenpreise gewinnt. Und gingen nicht zehntausend Dresdner im vorigen Jahr auf die Straße, als Haenchen aufrief zum Protest gegen die Abschaffung der Dresdner Musikfestspiele? Sein Amsterdamer "Ring", nach den Quellen aufbereitet, wurde eine Sensation, spätestens das hätte ihm eine Einladung nach Bayreuth einbringen müssen. Aber Haenchens Beispiel zeigt: Es gibt immer noch unsichtbare Demarkationslinien im Musikbetrieb. Wer im Ausland eine große Nummer ist und in den neuen Bundesländern vielleicht ein Held, von dem muss man in den alten nicht unbedingt Notiz nehmen. Der Pariser "Parsifal" wird daran wohl auch nicht viel ändern.

 

Und die neuen Instrumente? Außer den "Parsifalglocken", die Cosima für Bayreuth bauen ließ und für die heute jedes deutsche Stadttheater eine eigene, meist elektronische Lösung parat hat, gibt es noch die von Wagner selbst entworfene "Donnermaschine auf dem Theater". Haenchen hatte sie für seinen "Ring" in Amsterdam rekonstruieren lassen und brachte sie mit nach Paris: eine Riesenpedalpauke mit diversen Holzschlägeln und einer Mechanik zur Tonhöhenregulierung. Ein Musikinstrument also, nichts zum Draufhauen und Krachmachen. Wer laut wird, muss nicht gleich grob werden. Bei Wagner geht es, selbst wo es blitzt und donnert in Klingsors vergiftetem Zaubergarten, stets um die Idee des Klangs. ELEONORE BÜNING

 

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.03.2008, Nr. 9 / Seite 33