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24. Dezember 2000 · Dresdner Neueste Nachrichten

"Jungen Leuten ihre Schwellenängste nehmen"

Kerstin Leiße im Gespräch mit Hartmut Haenchen, dem designierten Intendanten der Dresdner Musikfestspiele ab 2003

Frage: Was sind die Dresdner Musikfestspiel für Sie? Mit welchen Konzeptionen haben Sie

unter anderen die Findungskommission überzeugt?

Hartmut Haenchen: Zunächst einmal muss man feststellen, dass Dresden mit einem 5,3-Millionen-DM-Etat kein reiches Festival ist. Es hat keinen Sinn, zu versuchen, ein Festival wie

Salzburg oder Schleswig-Holstein zu installieren. Ich muss aus der Not eine Tugend machen, das Dresden-Spezifische finden und damit das Festival unverwechselbar gestalten.

Wie soll das gelingen?

Natürlich basiert das Festival auf den heimischen Kräften. Wenn wir nicht hier diese Klangkörper hätten, würde es sich sowieso von selbst verbieten. Mein Start für 2003 ist allerdings zu spät, Staatskapelle, Staatsoper, Philharmonie, Kulturpalast haben bereits geplant, nur mit dem Kreuzchor habe ich noch verhandeln können und da auch sehr viel konstruktive Ideen, Hilfe und Willen zur Mitwirkung gespürt. Aber es gibt in Dresden auch Einzelkünstler und andere Ensembles, die mich interessieren und mit denen ich zusammen arbeiten will. Die

Musikhochschule wird eine Rolle spielen, die Musikwissenschaft, die Ensembles für Alte Musik, Kammermusikensembles, Chöre.

Außerdem will ich sogar so weit gehen, dass ich ein Konzert dirigiere mit Top-Orchester, Top-Solisten und den guten Amateurchören der Stadt und darüber hinaus Leute einlade, die nicht in Chören gebunden sind, selbst Musik zu machen. Die möchte ich mitsingen lassen. Ich stelle mir das als Eröffnung vor.

Sollen sich die Festspiele mehr noch als bisher den Dresdner Künstlern öffnen?

Ja und zwar in dem Sinne, dass ich mehr noch open air spiele, was von vielen mit Naserümpfen gesehen wird, weil es eben immer qualitative Abstriche gibt. Aber ich habe dadurch die Möglichkeit, Publikumsstrukturen aufzubrechen, ohne das traditionelle Publikum zu verlieren. Ich will jungen Leuten ihre Schwellenängste nehmen, und das geht nach meiner Amsterdamer Erfahrung besser dadurch, dass man einfach die Türen aufmacht.

Welche Formen stellen Sie sich dafür vor?

Ich will jedes Jahr in einen Stadtbezirk mit einer Art musikalischem Straßenfest gehen - das aber ganz unabhängig ist von "Dresden singt und musiziert". Die Neustadt wird den Anfang machen, mit ihrer alternativen Kultur. Das kann ich anbinden an gewachsene Strukturen. Dieses Fest soll wirklich ein extremer Mix sein vom absoluten Weltklassekünstler bis zum Straßenmusikanten.

Das klingt ein bisschen wie: Weg von der höfischen hin zur bürgerlichen Kultur...

Ja. Ich will zum Beispiel in der Neustadt am Societaetstheater anknüpfen, das der Inbegriff der aufblühenden Bürgerkultur ist, und ich will auch den Bürger direkt einbeziehen. Das beginnt im konkreten Fall damit, dass jeder, der will, sagen kann: "Ich habe einen schönen Garten, ein großes Zimmer, ich würde wahnsinnig gerne bei mir ein Streichquartett o.ä. musizieren lassen, und ich sorge für alles."

Was gibt es noch an neuen Ideen?

Jeweils zum Abschluss der Musikfestspiele möchte ich zusammen mit allen Kultur-

und Kunstinstitutionen der Stadt - und da meine ich wirklich alles vom Klavierbauer über Laientheater bis zur Staatsoper - eine Art "Kulturmarkt", so der Arbeitstitel, auf dem Theaterplatz veranstalten. Jeder kann dort auf seine Weise vorstellen, was er für die nächste Saison zu bieten hat. Zur selben Zeit will ich außerdem den Zwinger nutzen, um dort viele verschiedene Programme anzubieten. Natürlich werde ich auch Gäste einbinden.

Und wie ist es mit den Spielstätten in Dresdens Umgebung?

Die Festspiele sollen zudem noch etwas mehr aus der Stadt heraus treten. Da ich Künstler für zwei Konzerte einladen - das hat, weil es preiswerter ist, natürlich etwas mit Geld zu tun, aber nicht nur. Jedes Jahr sind eine Silbermannorgel-Reise und vielleicht auch eine Park-Reise geplant. Und da stehen die vielen schönen Schlösser um Dresden, zum Beispiel Weesenstein,

Stolpen. Eine andere Frage ist die künftige Nutzung des Palais' Großer Garten, das schon

über einen kleinen Saal verfügt, dessen Türen man zum Park aufmachen kann.

Bis 2003 wird die Außenfassade fertig sein, in Verbindung mit den gewaltigen Treppen könnte das ein Ort für Freiluftoper werden. Keine andere Stadt hat das so zu bieten: Landschaft und Architektur, die unverwechselbar sind, und die man natürlich mit Inhalten füllen muss.

Ist an eine Fortsetzung der jeweiligen thematischen Schwerpunkte gedacht?

Ich werde jedes Jahr ein Hauptthema haben, aber nicht den verzweifelten Versuch unternehmen, alles unter dieses Hauptthema zu pressen. Ich möchteLinien, die über meine Amtszeit konsequent durchgehen. Dazu gehört, dass ich mich mit den Schätzen der Landesbibliothek weiter auseinander setze. Jedes Jahr wird eine Kulturhauptstadt Europas vorgestellt, natürlich soll das im ersten Jahr Amsterdam sein. Da interessieren mich nicht nur die Künstler im gängigen Sinne, die Orchester, die Chöre und Solisten, die dort arbeiten, sondern auch - am Beispiel Amsterdam - ein Carillon-Ensemble oder Streetdance-Gruppen, die Beethovens 5. Sinfonie vertanzen. Typische Dinge für eine Stadt, die möglicher

Weise auch Schockwirkung haben können.

Ist Ihnen bei den Vertragsverhandlungen ein fester Festivaletat zugesichert worden, damit Sie nicht wie Ihr Vorgänger in die Situation kommen, immer mal wieder Kürzungen im Haushalt verhindern zu müssen?

Es ist Gegenstand meiner Vertragsverhandlungen gewesen, mir aber nicht erfüllt worden und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Weil Oberbürgermeisterwahlen anstehen und der jetzige OB nicht für einen möglichen Nachfolger Aussagen treffen kann. Das muss ich akzeptieren, auch wenn es ein Risiko ist.

Wir sind hier an der unteren Grenze, und das Sponsoring ist in Dresden außerordentlich schwach. Ich werde sicher bei Firmen vorsprechen, aber da sind keine Riesenbeträge zu erwarten.

Ein Mittel, etwas sparsamer zu arbeiten, sind zum Beispiel Kooperationen...

Ich habe dazu eine ganze Reihe Gespräche geführt. Natürlich muss es auch Kooperation gerade auf dem Gebiet der Oper geben. Ohne Partner kann ich zum Beispiel die beiden Auftragsopern von Siegfried Matthus und Eckehard Mayer überhaupt nicht zur Uraufführung bringen.

Wenn Sie Ihr Publikum halten wollen, müssen die Eintrittspreise konstant bleiben

oder können höchstens moderat angehoben werden!

Das ist das Dilemma. Wenn man es international vergleicht, liegen - selbst wenn man von 80 Prozent Verdienst ausgeht - die Eintrittspreise weit unter diesen 80 Prozent. Ich denke, dass im Moment eine wesentliche Erhöhung der Preise nicht möglich ist. Konzerte von Künstlern mit schwindelerregend hohen Gagen allerdings können nicht zu Niedrigstpreisen besucht werden.

Welche Künstler würden Sie gerne einladen?

Es gibt zum Beispiel Dirigenten dieser Preisklasse. Im übrigen möchte ich außerdem jedes Jahr zwei Künstler ins Zentrum stellen - einen mit Dresden verbundenen und einen internationalen, wobei das nicht als Klassifizierung gemeint ist.

Wer wird das im Jahr 2003 sein?

Als Dresdner hat mir bereits Peter Schreier zugesagt.

Wie werden Sie das Verhältnis zwischen den verschiedenen künstlerischen

Genres gestalten?

Der Schwerpunkt liegt sicher beim Konzert, weil ich mir Musiktheater nur sehr begrenzt leisten kann. Das wird pro Festspiele über ein, maximal zwei Operngastspiele nicht hinaus gehen. Die Konzerte sollen einen guten Mix von Recitals, Chormusik und Orchestermusik ergeben. Wobei ich im Moment noch zurückhaltend bin, ist der Tanz. Nicht weil es keine guten Ballette gibt, sondern aus dem ganz persönlichen Grund, dass gerade bei einem Musikfestival die Konserve stört.

Was Sie jetzt konzipieren, sind vor allem künstlerische Dinge. Haben Sie jemanden, der Ihnen die Last der Verwaltung, der Organisation abnimmt?

Im Moment mache ich nahezu alles alleine. Ich verhandle über die Honorare, mache die Programme, kümmere mich um die Hotels. Das ist ein etwas merkwürdiger Zustand. Der stellvertretende Intendant, Herr Andersen, ist sehr behilflich, was das Durchrechnen anlangt.

Sie haben auch künftig sehr viel in Amsterdam zu tun, dirigieren dort Opern, Konzerte - wie lässt sich das mit dem Arbeitspensum für Dresden verbinden?

Meine Arbeit in Amsterdam wird sich reduzieren. Ich bin gewöhnt, hart und schnell

zu arbeiten, aber ich will natürlich nicht vollkommen hinter dem Schreibtisch verschwinden, sondern weiterhin als Dirigent international tätig sein. In kleinem Umfang auch während der Festspiele: Es ist Gegenstand meines Vertrages, dass ich im Durchschnitt zwei Programme dirigiere.

Aber Ihre Positionen in Amsterdam werden Sie nicht ganz aufgeben?

Ich werde die Form wahrscheinlich verändern. Ich liebe Amsterdam, und offensichtlich lieben mich die Amsterdamer auch so, dass sie mich nicht unbedingt gehen lassen wollen.

Wenn Ihnen ein hochrangiges Opernhaus anbieten würde, Chefdirigent zu werden, würden Sie annehmen?

Ja. Ich bin sogar im Gespräch mit einem großen Haus - aber nicht in Berlin. Auf Fall habe ich Dresden versprochen, dass ich es gut abstimme. Ich würde auch nicht, wie viele meiner Kollegen, drei, vier, fünf Chefstellen annehmen.

Wie fällt Ihr Vergleich zwischen dem Publikum von Amsterdam und Dresden aus?

Sie sind extrem unterschiedlich. Das Amsterdamer Publikum ist, was die Oper betrifft, ausgesprochen neugierig. Natürlich war das auch nicht von heute auf morgen so. Das Publikum ist nicht mit Traditionen vorbelastet. Es hat immer Opern gegeben in Holland, aber nicht so wie in Deutschland, wo jedes kleine Fürstentum sein Opernhaus hatte und das zur Repräsentation auch unabdingbar war. Das empfinde ich in Amsterdam als großen Vorteil, man sieht es schon an der Kleidung der Opernbesucher, dass es keine Frage der Repräsentation ist. Im letzten Jahr hatten wir allein vier Uraufführungen bei zehn Premieren, einen ganzen Schönberg-Zyklus, einen Strawinsky-Zyklus. Und insgesamt war der Saal zu 95 Prozent ausgelastet.

Und das Dresdner Publikum...?

Diese Neugier hat der Dresdner in diesem Maße nicht. Er nimmt sehr wohl wollend Dinge auf, wenn er sie zufällig - sagen wir - untergejubelt kriegt, in den übliche Abonnementkonzerten zum Beispiel. Er ist durchaus bereit, aufmerksam zu hören und danach positiv oder negativ zu reagieren. Und das finde ich auch in Ordnung.