Interview-Verzeichnis Presse

20. März 2008 · Dresdner Neueste Nachrichten

Niemand rührt sich

Kerstin Leiße im Gespräch mit Hartmut Haenchen aus Anlass seines 65. Geburtstages

„Niemand rührt sich“

 

Gerade hat er mit seinem „Parsifal“-Dirigat in Paris großen Erfolg gefeiert, in reichlich einem Monat beginnen die letzten Dresdner Musikfestspiele unter seiner Intendanz. Morgen aber feiert er erst einmal seinen 65. Geburtstag: Hartmut Haenchen. DNN trafen ihn aus diesem Anlass zum Gespräch.

 

Frage: Hat für Sie die Vollendung des 65. Lebensjahres überhaupt eine Bedeutung?

 

Hartmut Haenchen: Ich nehme dieses Datum, ehrlich gesagt, nicht wahr, schon gar nicht im Zusammenhang mit meiner Position als Intendant der Musikfestspiele. Denn ich hätte verlängern können, wenn ich gewollt hätte. Das war vertraglich geregelt. Aber: So, wie sich die Situation der Festspiele entwickelt hat, war das für mich Anlass aufzuhören.

 

Was genau meinen Sie damit?

 

Ich mache mir sehr große Sorgen. Das betrifft die Musikfestspiele auch, vor allem aber die Jugendarbeit. Dort müsste das Meiste investiert werden, wenn man eine gesellschaftliche Zukunft entwickeln will. Alles, was mit Kultur im weitesten Sinne zu tun hat, ist das einzige Mittel, um Erscheinungen wie Jugendkriminalität verhindern oder aufhalten zu können. Dass man in der Kultur spart und es dann beim Aufsichtspersonal wieder ausgibt – das ist ein Gedankengang, den ich nicht nachvollziehen kann.

 

Wenn Sie Kulturpolitiker wären, was würden Sie insbesondere für die Jugend tun?

 

Für mich würde die Schließung oder Reduzierung der Mittel für ein Jugendtheater wie das Dresdner Theater Junge Generation nicht einmal als Gegenstand einer Diskussion in Frage kommen. Ich kenne noch die Zeiten, als im Kulturpalast Schulkonzerte waren. Aber das veränderte sich allmählich so, dass es nicht mehr möglich war, dort 2500 Kinder reinzubringen, die dann auch wirklich zuhören und etwas davon haben. Mir ist klar geworden, dass wir da etwas verloren haben. In Los Angeles z.B. spielt die Jugendarbeit eine ganz andere Rolle, da wird richtig Geld investiert. Aber es betrifft auch genauso die anderen Künste, die Kultur des Umgangs miteinander, wie man sich älteren Menschen gegenüber verhält usw.

 

Es gibt für Jugendliche Möglichkeiten, z. B. ein Instrument zu lernen, Sport zu treiben, es gibt durchaus auch soziale Unterstützung wie z.B. am Schütz-Konservatorium. Liegt nicht also das Problem nur zum Teil beim Staat und dem, was er tut oder auch nicht? Es ist immer so gewesen, dass sich kulturelle Traditionen vor allem über die Erziehung und das Vorbild der Familien vermittelt haben…

 

Sie haben Recht, es ist natürlich ein Familienproblem. Wenn ich die letzten 50 Jahre zurückschaue – das ist ja die Generation, die jetzt 30, 40 Jahre jünger ist als ich – dort hat die Sparsamkeit auf diesem Gebiet angefangen. Sicher, die Zeit hat sich verändert, es gibt inzwischen andere Medien, neue technische Möglichkeiten, aber ich sehe nicht, dass dadurch auch geistige Möglichkeiten stärker ausgeschöpft werden.

 

Wie kann man junge Menschen erreichen, die in ihrem sozialen Umfeld nicht per se das Interesse an Bildung finden?

 

Das hängt natürlich auch alles mit dem Schulsystem zusammen. Was man früher „humanistische Bildung“ nannte, das ist – bis auf ganz wenige Schulen – eigentlich kaputtgegangen. Ich beobachte das inzwischen auch bei meinen Enkeln, wie meine Tochter in Weimar darum kämpft, dass eine Schule, in der Kinder von der ersten Klasse an ein Musikinstrument erlernen, nicht geschlossen wird. Durch das gemeinsame musikalische Erlebnis, das Aufeinander-Angewiesen-Sein, sind die Lernergebnisse in allen Fächern nachweislich besser als an anderen Schulen. Es ist also bewiesen, dass es geht, aber niemand rührt sich.

 

Sehen Sie nach fast 20 Jahren Bundesrepublik viele Dinge bewusst anders?

 

Kann ich eigentlich nicht sagen. Ich bin ja sozusagen ins kalte Wasser gesprungen und von einem Tag auf den anderen mit meinen Kindern in das andere System gegangen. Es sind durchaus Illusionen verlorengegangen, z. B. dass sich Leistung wirklich lohnt. Man muss vielmehr zu einem bestimmten Netzwerk gehören. Leistung setzt sich auch durch, aber viel, viel langsamer.

 

Wie könnte es Ihrer Meinung nach geschafft werden, den Einigungsprozess zu einem wirklich einigenden Prozess zu machen?

 

Die Regierung, die wir haben, legt großen Wert auf die Wahrung von Besitzständen, und daher wird es auch die nächsten hundert Jahre so sein, dass das Geld in der anderen Hälfte Deutschlands liegt. Wir leben in einem kapitalistischem System, das immer mehr eine Art Turbokapitalismus wird. Aber es kann nicht ein endloses Wachstum geben. Die Profite steigen, aber das Geld wird leider nicht zurückgeführt in den gesellschaftlichen Kreislauf. Wenn der Staat sich immer weiter aus kulturellen Verpflichtungen herausnimmt, muss man im Gegenzug darüber nachdenken, wie man das Stiftungsrecht und die Steuergesetze verändert, wie man einen viel größeren Anreiz schaffen kann, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen, wie das in Amerika beispielsweise der Fall ist.

 

Worin sehen Sie die Funktion von Kunst und Kultur?

 

Auf der einen Seite gibt es Kunst, die konform läuft mit Entwicklungen – da denk ich an „Eventkultur“, so genannte „Highlights“, „Superstars“, es gibt ja da nichts Normales mehr, was einfach gut ist. Aber Kunst ist natürlich auch in der Lage, kritisch zu bleiben, Gegenentwürfe zu bieten... Es geht aber leider meist nicht darum, was gut ist für den, der die Kunst braucht, sondern darum, was an der Börse gehandelt wird. Da kann der Einzelne, außer an seinem eigenen Platz, wenig machen. Er sollte es aber tun. Man sollte seine Meinung äußern in einer Demokratie, auch wenn wir schon so weit sind – und da spreche ich aus eigener Erfahrung –, dass man in einer demokratischen Partei für eine Meinungungsäußerung beschimpft und beleidigt werden kann. Da haben wir auch ein Stück Kultur verloren, und ich wünsche mir, dass man mehr Zivilcourage zeigt.

 

Ist Dresden mit seinem Konservatismus eine Mauer in der Brandung des vermeintlich progressiven Wachstumsglauben?

 

Zunächst einmal: Konservatismus ist nicht verwerflich. Ich glaube, dass gutes Neues nur im Zusammenhang mit Altem entstehen kann. Der Konservatismus hat etwas Positives, weil er die Wurzeln bewahrt. Aber die Dresdner haben auch die Neigung, alles immer so zu stutzen, dass es ja nicht anders aussieht, als es immer ausgesehen hat. Und wenn man nur bei der „Wurzelpflege“ bleibt, dann verfault der Baum. Es fehlt an Visionen.

 

Und wie sind die Amsterdamer?

 

Es ist natürlich ein Kaufmanns-, ein reisendes Volk mit einer völlig anderen Einstellung zum Reichtum. Den Reichtum sieht man nicht an der Kleidung, nicht an den Autos, sondern da muss man in die Häfen gehen, wo die Yachten liegen. Die reichen Holländer sind auch durchaus Kunstsammler. Aber vom Staat her ist die Gesamtsituation der Kunst in Holland schlechter als in Deutschland. Es herrscht ein kaufmännisches Denken vor, aber es hat sich dort stärker als in Deutschland die bürgerliche Kultur entwickelt, denken Sie nur an das berühmteste, das wirklich beste Konzerthaus der Welt: Das Concertgebouw haben die Bürger gebaut und bezahlt und als es drohte einzustürzen, hat man etwas gemacht, was durchaus etwas mit dem Frauenkirchen-Modell zu vergleichen ist. Man hat 16 Jahre lang auf jede Karte einen Gulden (0,40 €) draufgelegt. Alle haben es bezahlt, der Besuch ist nicht zurückgegangen, bei laufendem Spielbetrieb sind die Pfähle unter dem Gebäude saniert worden.

 

Könnten Sie sich das für den Kulturpalast vorstellen?

 

Ja, ich kann mir für Dresden durchaus vorstellen, dass die Bürger auf diese Weise auch ihren Beitrag leisten. Sie werden das nicht allein finanzieren können, aber Dresden braucht einen Konzertsaal. Den Konzertsaal in Amsterdam haben die Bürger sich gebaut. Heute ist das ein Gewinnunternehmen, weil die Sponsoren sich darum reißen, dort Sponsor sein zu dürfen.

 

Was würden Sie denn Dresden wünschen? Einen neues Konzerthaus oder einen umgebauten Kulturpalast?

 

Für mich ist beides denkbar. Wünschenswert ist natürlich ein komplett neu gebauter Saal. Aber man kann auch in den Kulturpalast einen Saal hineinsetzen, wenn man denn dieses Gebäude erhalten will, aus welchen Gründen auch immer. Es ist auch ein Stück Dresdner Geschichte. Aber Dresden steht genauso ein neues Konzerthaus zu. Das Entscheidende ist, sich die entsprechenden Experten für die Akustik zu holen. Es kostet vielleicht ein bisschen mehr, aber zahlt sich langfristig hundertprozentig aus. Wir haben in Deutschland schon genügend schlechte moderne Konzertsäle, die viel Geld gekostet haben. Ich hoffe, dass hier nicht wieder an der falschen Stelle gespart wird.

 

„Utopia“ ist Ihr letzter Jahrgang bei den Musikfestspielen. Ein Abschiedstitel?

 

Der Gedanke, den ich verwirklichen wollte, die Musikfestspiele nach außen zu öffnen, ist nach kurzer Phase der Verwirklichung eine Utopie geblieben. Mein positives Fazit ist aber, dass ich meinem Nachfolger einen besseren Zustand hinterlassen kann als zu dem Zeitpunkt, da ich beschloss, nicht weiterzumachen. Es ist natürlich auch die Utopie, die sich für mich mit Dresden verbindet. Ich hatte größere Hoffnungen in eine Stadtregierung gesetzt, nicht nur was die Kultur betrifft.

 

Bleiben Sie Dresden künstlerisch verbunden?

 

Nein, das denke ich nicht. Meine Planung, nachdem ich nun weiß, dass ich in Dresden nicht gebraucht werde, geht inzwischen bis 2014. Mein Kalender hat sich rasant gefüllt, weil ich mir keine Freiräume für die Festspiele mehr halten muss, und ich will mich im wesentlichen auf ein paar große Städte konzentrieren. Das werden Tokio, Paris, London, Wien, Los Angeles und New York sein, Amsterdam ist sowieso immer dabei.

 

Sind Sie nur noch ein Reisender?

 

Ja, aber nicht überallhin, denn ich bin ja immer jemand gewesen, der gern kontinuierlich arbeitet. Deswegen wähle ich (dann) lieber ein paar Städte, wo ich regelmäßig bin... Aber ich schaue mich jetzt auch in anderen Städten um: z.B. ist die Königliche Philharmonie Stockholm auch ein hervorragendes Orchester.

 

Und der Schwerpunkt liegt bei der Oper?

 

Ich bin immer noch in der glücklichen Lage, meine Arbeit auf drei Bereiche gleichmäßig verteilen zu können: Sinfoniekonzerte, Kammerorchesterkonzerte, Oper. In der Spielzeit 2009/10 wird es „40 Jahre Kammerorchester C.Ph.E.Bach“ geben. Diese ganz andere Art der Arbeit ist immer sehr wohltuend. Weil da Spitzenmusiker zusammenkommen, die weder aufs Geld noch die Arbeitszeit schauen. Es sind also auch sehr viele Konzerte, nicht nur große Oper...

 

Gibt es Werke, für die Sie sagen: Jetzt muss es sein...?

 

Es gibt für mich die Erfüllung, noch einmal den „Ring“ in Amsterdam zu machen. In der Oper sind es eigentlich zwei Stücke: „Tristan“ und „Frau ohne Schatten“. Und im Konzertbereich ist es die „Matthäuspassion“. Das glaubt mir ja keiner, dass ich diese noch nie musiziert habe, nur als Sänger in meinen „Jugendsünderjahren“, aber ich hab sie noch nie dirigiert.

 

Einige Ihrer Dirigentenkollegen verfassen Autobiografien, haben auch Sie daran gedacht, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?

 

Eigentlich nicht. Die meisten davon haben für mich auch einen merkwürdigen Beigeschmack. Es gibt ja bereits ein Buch, das über mich geschrieben wurde, das sehr viel Biografisches hat und was auch provisorisch ins Deutsche übersetzt wurde. Ich schreibe keine Autobiografie.

 

Sie haben in Dresden ein Haus, werden Sie diesen Wohnsitz behalten?

 

Ja, von dort aus packe ich meine Koffer und da bin ich auch sehr, sehr glücklich.

 

Und wenn man Sie zum 65. fragt, was Sie sich wünschen, was sagen Sie?

 

Dass man die jungen Künstler mehr unterstützt. Das würde für die Zukunft unseres Landes und darüber hinaus der wichtigste Beitrag sein.