Interview-Verzeichnis Presse

01. März 2013 · BIS, Zeitschrift der Sächsischen Bibliotheken

Grenzüberschreitung

Vom Dresdner Kreuzchor zur Mailänder Scala

Ein Interview mit Hartmut Haenchen, der am 21. März 70 Jahre alt wird

Von Thomas Bürger und Karl Wilhelm Geck

 

Der Dirigent Hartmut Haenchen hat einen Schenkungsvertrag mit der SLUB geschlossen, um die Dokumente seines künstlerischen Wirkens dauerhaft für Forschung und Praxis zur Verfügung zu stellen. Schon als Schüler und Student hat er sich mit den musikalischen Quellen der Bibliothek beschäftigt, heute ist er auf den Konzert- und Opernbühnen der Welt zu Hause. Die SLUB widmet ihm eine Ausstellung vom 22. Februar bis 5. Mai und eine Matinee am 17. März. Thomas Bürger und Karl Wilhelm Geck befragten ihn im Vorfeld zu den Feiern zu seinem Werdegang und zu seinen weiteren Plänen.

 

SLUB: Herr Haenchen, warum schenken Sie der SLUB Ihren umfangreichen künstlerischen Vorlass?

HH: Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Ich möchte gern, dass diese Erfahrungen an einer solch prominenten Stelle bewahrt werden. Dann können andere schon früher davon profitieren. Ich bereite dazu auch gerade ein Buch zu diesem Thema vor.

 

SLUB: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch der Bibliothek?

HH: Es muss 1956 gewesen sein. Mit der Pubertät kamen Zweifel in mir auf, ob das, was mein verehrter Kreuzkantor Rudolf Mauersberger in Sachen Alter Musik tat, wirklich die einzige Wahrheit war. Um dies zu hinterfragen ging ich damals in jeder freien Minute auf die Marienallee (immer eine „Weltreise“ von der Eisenacher Str. oder von Cossebaude) um zunächst die wichtigsten theoretischen Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts zu lesen. Es gab ja damals kaum Reprints und auch kein Internet. Und ich wurde neugierig auf die originalen Handschriften der Komponisten dieser Zeit.

 

SLUB: Wann und wie fiel Ihr Entschluss, Dirigent zu werden?

HH: Rudolf Mauersberger ermutigte mich (immer kritisch), Teilproben des Chores zu machen, als ich 13 Jahre alt war – deswegen wurde ich auch auf die Quellen neugierig -, unterstützte mein Klavierspiel und meinen Drang zu komponieren und hörte sich das alles geduldig an. Wenig später gab es nur Eines: Du wirst Dirigent. Deswegen habe ich mit 15 Jahren dann schon als Kantor in Cossebaude vor genau 55 Jahren mein erstes Konzert dirigiert. Eben in der Praxis Erfahrungen gesammelt. Dafür bin ich all denen dankbar, die ja alle viel, viel älter waren als ich, dass sie mir die Chance gegeben haben.

 

SLUB: Welche Rolle spielt der Kreuzchor in Ihrem Leben?

HH: Der Kreuzchor hat mir mein musikalisches Basis-Wissen gegeben, war eine gute Schule in sozialer Haltung und auch für das Durchsetzungsvermögen. Mauersberger war das Vorbild: „Krankheit ist Schlamperei“. Hart zu sich selbst sein habe ich da gelernt.

 

SLUB: Wenige wissen, dass Sie in der ersten Phase Ihrer Profikarriere auch als Baritonsolist tätig waren. Inwieweit hat die Sängerperspektive die Art und Weise Ihres Dirigierens beeinflusst?

HH: Das ich Gesang studiert habe, war ein bewusster Umweg, um Dirigent werden zu können. Ganz einfach: ich fiel durch die erste Aufnahmeprüfung durch, weil ich kein Beethoven-Klavierkonzert spielen konnte sondern nur Bachs f-Moll-Konzert. Also wich ich aus auf Gesang. Da wurde ich sofort genommen, weil ich eine sehr lange, virtuose a cappella Arie aus dem 17. Jahrhundert gesungen habe und perfekt in der Intonation war. Es waren also mehr die musikalischen, als die stimmlichen Qualitäten, die überzeugten. Da ich auch mein Examen als Gesangspädagoge gemacht habe (meine Diplomarbeit liegt in Vitrine....) habe ich sowohl für die Opernarbeit als auch für das Phrasierungsverständnis von Sinfonik nach meinem Gefühl einen enormen Vorteil erlangt.

 

SLUB: Der heutige Bundespräsident Joachim Gauck schrieb Ihnen vor 10 Jahren, sie seien aus dem Osten herausgedrängt worden. Warum haben Sie Dresden verlassen?

HH: Die Stasi beobachtete mich schon seit meinem 16. Geburtstag wegen Flugblättern gegen die so genannte Wahl. Spätestens nach dem Eklat als Chefdirigent des Mecklenburgischen Staatstheaters, wo ich mich geweigert habe, eine zerstückelte Sinfonie für eine Parteiveranstaltung zu dirigieren, war klar, dass ich in diesem Lande keine feste Arbeit mehr bekommen werde. Es blieb mir keine andere Wahl, als mich selbst „freizukaufen“. Die offizielle Bezeichnung war ein "Austausch", denn Hnas Vonk kam aus Holland nach Dresden. Aber ich musste - im Gegensatz zu dem "Tauschpartner" 20% meiner Einkünfte an die DDR abführen. Und dies für 10 Jahre. Glücklicherweise existierte die DDR nur noch 3 Jahre danach.

 

SLUB: Und warum kehren Sie immer wieder zurück nach Dresden, warum wohnen Sie und Ihre Familie hier?

HH: 20 Jahre haben wir in Amsterdam gelebt, einen Koffer haben wir immer in Dresden gelassen. Hier sind meine Wurzeln und hier habe ich für die wenigen Tage die ich hier bin ein schönes Zuhause, wo ich auch den nötigen Abstand zu vielen falschen politischen Entscheidungen in der Stadt bewahren kann.

 

SLUB: Welche Erinnerung haben Sie an die Wiedereröffnung der Semperoper?

HH: Ich werde nie vergessen, wie das erste C in der Freischütz-Ouverture erklang. Für mich war die Einladung eine der Eröffungspremieren zu dirigieren einfach überwältigend. Und ich denke gern an diese denkwürdige Inszenierung von Ruth Berghaus zurück, die vielfach vor ausverkauftem Haus gespielt wurde, was heute für ein solches Stück in Dresden schwer vorstellbar ist. Und ich denke an die wunderbaren Solisten der Staatskapelle wie Peter Damm, dem die Soli auf den Leib geschrieben waren, und Soloflötist Eckart Haupt zurück, die in dieser Oper große Aufgaben hatten.

 

SLUB: Sie haben weltweit mehrere Tausend Aufführungen von Opern und Konzerten in über 100 Städten geleitet. Wie schafft man das physisch und psychisch?

HH: Da hilft nur eines: An Rudolf Mauersberger denken: Disziplin.

 

SLUB: Sie sind mit der sogenannten „Alten Musik“ groß geworden. Welche Bedeutung hat die vorklassische Musik für Sie?

HH: Sie ist die Basis all der vielen modernen Werke und der großen romantischen, die ich ebenfalls dirigiere.

 

SLUB: Das Internetportal YouTube präsentiert die Gleichung "Black Metal Ist Wagner". Als Beweis dient Ihre Interpretation des „Walküren“-Vorspiels mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest. Können Sie dem Vergleich etwas abgewinnen?

HH: Nein, da ich mich nie mit Black Metal wirklich beschäftigt habe.

 

SLUB: Sie haben im Laufe Ihrer Karriere immer schwierigere Aufgaben bewältigt, man denke an Ihren Mahler-Zyklus oder Wagners „Ring“. Worin besteht für Sie die größte Herausforderung?

HH: Man wird seine Ziele nicht erreichen, aber je höher sie gestellt sind, umso weiter kommt man. Die Herausforderung besteht in dem möglichst genauen Quellenstudium und die gewonnenen Erkenntnisse emotional für ein großes Publikum wahrnehmbar zu machen.

 

SLUB: Welche Ihrer vielen Aufnahmen empfehlen Sie unseren Lesern ganz besonders?

HH: Die 18 Haydn-Sinfonien (Berlin Classics), die eben erschienenen Aufnahmen von Mahler 1. und 8. Sinfonie (ica), Der Ring des Nibelungen als SACD bei Et’cetera und als Zeugnis meiner Suche nach Werken aus den Schätzen der SLUB La Gara degli Dei von Heinichen im April bei Berlin Classics als Anfang einer Editionsserie. Strauss’ Alpensinfonie (Laserlight) würde ich gern noch nennen.

 

SLUB: Welchen Förderern sind Sie noch heute dankbar?

HH: Meiner Mutter, Rudolf Mauersberger, Rudolf Neuhaus, Heinz Bongartz, Kurt Masur, Arvid Jansons, Herbert von Karajan und vor allem, das mag merkwürdig klingen, meiner Lehrerin für Liedinterpretation Lotte Böttger, da habe ich jede Minute ein „Aha“-Erlebnis gehabt.

 

SLUB: Was würden Sie heute anders machen?

HH: Dazu muß ich eine Geschichte erzählen: Als ich das Gewandhausorchester nach vielen Jahren dirigierte, kam der Solocellist zu mir und sagte: Ich war bei Ihnen im Kinderchor in Halle. Das war herrlich. Dann haben Sie das Amt niedergelegt, weil Ihnen die Bach-Motetten verboten wurden. Was dann kam, war einfach furchtbar: Kampflieder usw. Sie haben nach Ihrem Gewissen richtig gehandelt. Wir haben Sie verloren und uns fehlte ein ganzes Stück unserer musikalischen Entwicklung. Ich würde heute versuchen, zwischen meinem Gewissen und den Folgen für Andere besser abzuwägen.

 

SLUB: Wenn künftig junge Musiker oder Wissenschaftler mit Ihren der SLUB übereigneten Quellen arbeiten, was werden sie dort finden?

HH: Zunächst eine sehr umfangreiche Partitur-Bibliothek von ca. 3000 Bänden, die weitgehend mit allen Dingen, die man in Musik schriftlich ausdrücken kann, bezeichnet sind. Inklusive aller Quellen-Befunde, die über Partituren hinausgehen. Dazu eine umfangreiche Orchester-Material-Bibliothek, komplett eingerichtet und spielfertig von etwa 600 Werken für Kammerorchester und 40 Opern sowie etwa 200 sinfonischen Werken. Dazu tausende von Karteikarten, wo ich meine Notate gemacht habe und eine umfangreiche Sammlung von Zeitdokumenten wie Programme, Plakate, Fotos, Texte usw. Dazu ein paar bibliophile Besonderheiten oder eine kostbare Handschrift von Richard Strauss.

 

SLUB: Was ist für Sie Glück?

HH: Eine gute Partitur beim lesen vollständig zu hören.

 

SLUB: Lieber Herr Haenchen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.