Interview-Verzeichnis Presse

21. März 2018 · Sächsische Zeitung

Hartmut Haenchen 75

Bernd Klempnow im Gespräch mit Hartmut Haenchen

Am 21. März bei

Hartmut Haenchen in Dresden-Loschwitz zu klingeln, konnte man sich Jahrzehnte

lang sparen. Wohl hat er an dem Tag Geburtstag, aber stets war er irgendwo auf

der Welt mit Musik beschäftigt. An diesem 21. hingegen ist er daheim. „Das ist mein

Geschenk an mich zum 75. Geburtstag“, sagt der Jubilar, „zufällig.“ Groß feiern

will er nicht, aber spazierengehen, ein wenig aufräumen. „In den vergangenen

Monaten hat eine Produktion die nächste gejagt. Da ist viel liegengeblieben.“

 

Haenchen, seit

jeher einer der deutschen Topdirigenten, ist gefragter und erfolgreicher denn

je. 2017 wurde er von den Kritikern des Fachblatts „Opernwelt“ zum Dirigenten

des Jahres gewählt. Die Aufnahme seines Bayreuther „Parsifals“ fand mehrfach

dickes Lob von internationalen Experten. Gerade hat die Bayerische Staatsoper

ihn für die nächste Saison gewinnen können. Was selten ist, weil der Dresdner

eigentlich nicht an Repertoire-Häusern arbeitet. „Dort wird zuwenig geprobt,

ständig wechseln die Sänger und Musiker.“ Lange, zu lange hat er an Berliner

und sächsischen Bühnen so arbeiten müssen.

 

Die Vorzüge des

anderen, des Stagione-Theaters mit zeitnah zur Premiere wiederholten

Inszenierungen, lernte er vor allem in Amsterdam kennen. Dort war er ab 1986

über ein Jahrzehnt Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper und

Chefdirigent der Philharmonie. Für die DDR war er Devisenbringer. Obwohl ihm,

dem Deutschen, die Niederländer zunächst skeptisch gegenüberstanden, sorgte er

für maßstabsetzende Produktionen und Aufzeichnungen in jener Zeit. Man dankte

es ihm spät: Er wurde als erster Deutscher zum Ritter im Orden vom

Niederländischen Löwen ernannt, wurde er Ehrenbürger von Amsterdam und erhielt

2006 die niederländische Staatsbürgerschaft ehrenhalber.

 

„Es waren meine

schönsten Jahre“, sagt er, auch wenn er längst die Freiheit eines nicht

festgebundenen Dirigenten genießt. Gern arbeitet er in Brüssel und Lyon, an

interessanten Häuser mit erstaunlich guten Orchestern. Sonst musiziert er an

den ersten Musikadressen von London bis Paris.

 

Hartmut

Haenchen braucht keinem etwas zu beweisen. Höchstens sich selbst: Schon als

Kruzianer, als 14-Jähriger, stand der Berufswunsch fest. Mit zwölf Jahren hatte

ihm Kreuzkantor Rudolf Mauersberger Gruppenproben übertragen. „Ich habe mich

reingekniet, zuweilen auch aus dem Widerspruch zum Kantor heraus.“ Mit 15

dirigierte er das erste Mal Chor und Orchester – in der Cossebauder Kirche.

Somit feiert er jetzt auch 60-jähriges Pult-Jubiläum.

 

Es sei

unverändert ein aufregender Beruf. Er habe noch anhand der Partituren gelernt,

wie etwas zu klingen habe. Im Gegensatz zu viele Dirigenten heute, die Werke

mit CD lernen, also dem Hören nach. Und die Selbstdarsteller würden zunehmen.

„Viele Dirigenten vergessen, dass sie nur Diener der Komponisten sein sollten.

Ich aber gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Beurteilung der Arbeit mehr im

Mittelpunkt steht und nicht Äußerlichkeiten.“ Und dass viele im Publikum das

auch wahrnehmen können. „Um ein solches Urteilsvermögen zu erlangen, braucht

man eine gute Bildung. Deshalb sind Debatten um eine Kürzung des

Musikunterrichtes wie jetzt in Sachsen fehl am Platz.“

 

Vieles an dem

Mann ist erstaunlich: Nicht nur sein Arbeitspensum ist enorm. Über 135 Platten,

CDs und DVDs  zeugen von hoher

Qualität, sind oftmals Referenzaufnahmen. So gilt er als Spezialist, aber nicht

nur eines Komponisten oder einer Epoche: Die Experten feiern ihn als Kenner der

Alten Musik, der Barockmusik, der Frühklassik, der Musik des 18. Jahrhundert,

der Neuen Musik ... Wie er würden nur wenige Haydn, Mozart, Brahms, Mahler,

Strauss, Wagner, Schostakowitsch, Bruckner ... ausloten.

 

Das ist

richtig, weil er sich in bester Kapellmeister-Manier ungewöhnlich intensiv

vorbereitet. Schon als Schüler studierte er Partituren am liebsten am Original.

„Heute unvorstellbar – aber als Kruzianer habe ich in der Landesbibliothek die

– damals noch zugänglichen – Originalausgaben von Mozart und Quantz in der Hand

gehabt.“ Seitdem sucht er nach den Quellen, forscht nach den ursprünglichen und

den zuletzt autorisierten Absichten der Komponisten.

 

Die Suche nach

für ihn Ungereimtheiten in den Stücken treibt ihn an. So wie die eigene

Unzufriedenheit mit dem Abend. „Auch wenn man ein Stück schon x-mal gemacht

hat. Man sollte sich immer selbst hinterfragen. Eigentlich ist in meinem ganzen

Dirigentenleben der Zweifel meine Triebfeder gewesen.“ Viele Irrtümer, viele

Fehler konnte er dank dieser Recherchearbeit aufklären. Zuletzt deckte er

falsche Tempi und sogar falsche Textpassagen in den verwendeten

„Parsifal“-Noten der Bayreuther Festspiele auf. „Meine Erfahrung ist, nicht das

Autograph oder der Erstdruck ist das Entscheidende, sondern die letzten

Änderungen der Meister, die sich oft in Uraufführungspartituren und

Orchestermaterialien verstecken. Die meisten haben nämlich nach dem ersten

Hören ihrer Werke diese korrigiert.“ Trotz aller wissenschaftlichen Arbeit: „Am

Abend habe ich nicht zu analysieren, sondern Emotionen zu transportieren.“

 

 So wie beim

nächsten Projekt. Haenchen nimmt sich noch einmal Anton Bruckner vor. Mit zwei

Orchestern in Belgien studiert er nach der neuesten Quellenlage einen

kompletten Zyklus ein. Gut dreieinhalb Jahre wird das Projekt dauern. Der

Dirigent verspricht sich viel von diesen Urtext-Gesamtausgaben, auch weil er

mit seiner großen Erfahrung den Wiener Meister anders deuten wird. „Ich glaube,

ich werde langsam gut, wobei des Lernens kein Ende ist.“

 

Und dann? Die

nächsten Jahre sind verplant. „Ich garantiere aber, dass ich wie bei der

Auflösung meines Bach-Kammerorchesters auf Topniveau aufhören werde.“