Opern

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. März 2008
FAZ, 6.3.2008

Wagnerianer wollen nur ahnen
Verkehrte Welt: In der Opéra Garnier beklatscht man in "Rake's progress" Orgien, in der Opéra National buht man über Rosselini-Szenen im "Parsifal".

PARIS, 5. März

Das Pariser Premierenpublikum war außer sich. In wütenden Zwischenrufen und lautstarken Drohgebärden verschaffte es sich zu Beginn des dritten Aufzugs Luft. Gerade, dass es sich nicht geprügelt hat. Viel Mut gehörte freilich nicht zu diesem Protest. Denn schon beim Frühstück hatten die "Parsifal"-Besucher im "Figaro" lesen können, dass sie abends recht daran tun würden, sich zu beschweren. Das Blatt warf dem Operndirektor Gerard Mortier vor, er habe sich wegen ähnlicher Proteste während der Generalprobe erdreistet, zu unterbrechen und um Ruhe zu bitten. Der Kolumnist schlussfolgerte, Mortier "vertrage nicht die mindeste Kritik".
Was war auf der Bühne geschehen? Anstößiges, Blasphemisches, Widerwärtiges? Nichts davon. Die Inszenierung des jungen polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, der manchem Pariser schon mit einer ins Altenheim verlegten "Iphigénie en Tauride" übel aufgefallen war, zeigt vor Beginn des Vorspiels zum dritten Aufzug einen Filmausschnitt: Ein kleiner Junge irrt durch das zerbombte Berlin, fängt bitterlich an zu weinen und stürzt sich schließlich von einer hohen Ruine hinab in den Tod. Zur endzeitlichen Trauer, die Wagner im Vorspiel zum letzten Aufzug walten lässt, passt dieses Zitat aus Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" nicht schlecht. Ähnlich hatte schon Götz Friedrich 1982 in Bayreuth die "lachende Aue" des Karfreitagszaubers durch eine Landschaft schwarzer Baumstümpfe ersetzt: Die verendende Gralsrunde im Licht eines apokalyptischen Nachkriegsszenarios. Warlikowski indes komponiert dem Werk szenisch eine bei Wagner so nicht vorgesehene diesseitige Erlösungsperspektive ein. Kundry überlebt und nimmt nach ihrer Taufe an einer Zeremonie teil, die irgendwo zwischen dem katholischen Abendmahl, dem jüdischen Sederabend und einem gewöhnlichen Abendessen liegt. Eine junge Familie - neben Kundry besteht sie aus Amfortas, Parsifal und einem Jungen, der das Gralsgeschehen als stummer Zeuge beobachtet hat - trinkt vom Kelch der Hoffnung. Die Generationen sind vereint und der Kreis schließt sich mit einer Anspielung auf den Anfang des Abends, an dem ebenfalls ein Filmzitat stand: das Ende von Stanley Kubricks "Odyssee im Weltraum".
Dass der Astronaut Bowman sich in dieser Szene in verschiedenen Altersphasen seines Lebens sieht, als Erwachsener, als Greis und als Fötus, mag Warlikowski an das berühmte Gurnemanz-Zitat: "Zum Raum wird hier die Zeit" erinnert haben. Tatsächlich nimmt man diese Assoziation, ebenso, wie den Rossellini-Filmauschnitt, als irgendwie stimmig wahr. Doch in diesem "irgendwie" liegt das Problem dieser nur atmosphärisch funktionierenden Inszenierung. Warlikowski vertraut auf Nietzsches Wort, dass "der Wagnerianer ahnt". Zum Entschlüsseln seiner kryptischen Bilder bräuchte man eine Gebrauchsanweisung.
Eine solche, eine lange theoretische Abhandlung, hat der Dirigent Hartmut Haenchen in der ihm eigenen Sorgfalt seiner musikalischen Interpretation beigestellt. Das wiederum wäre ganz und gar nicht notwendig gewesen. Denn Haenchens kammermusikalische "Parsifal"-Durchleuchtung ist in ihrer Vielschichtigkeit, ihren dramaturgisch raffiniert gewählten Temporelationen, ihrem "natürlich" wirkenden Fluss so transparent und schlüssig, dass man ihr auch ohne Erklärungen zwingend folgt. Sie basiert auf eingehenden Quellenstudien und einer gründlichen Revision des Notenmaterials und zieht vor allem, darin der Boulez'schen Auffassung recht ähnlich, jene Aufführungstradition des Schleppens und der klangwuchtigen Überwältigung überzeugend in Zweifel, die das "Bühnenweihfestspiel" seit seiner Uraufführung in zunehmend dichtere Nebel gehüllt hat. Haenchen möchte zeigen, dass Wagner mit dem "Parsifal" seine sparsamste und formal zwingendste Partitur schrieb. Seidig durchströmt der Klang den riesigen Saal der Bastille-Oper. Voller Wärme "sprechen" die Streicher, indem sie, zart und schmiegsam, das mimetische "Parsifal"-Prinzip eines Trost spendenden Mitleidens zu realisieren scheinen. Schillernd mischen sich die Klänge in Klingsors Zaubergarten, während die Bühne nur den üblichen stereotypen Abklatsch erotischer Versuchungen vorführt.
Die größten Ausdrucksgegensätze scheinen in dieser Aufführung bruchlos vermittelt. Hier gibt es kein exzessives Wühlen in chromatischen Wunden, keine Zerrissenheit, keine Lust am Schmerz, scheinbar überhaupt nichts Unreines. Stattdessen fließt und formt und verwandelt sich die Musik in gewaltloser, geradezu heilig wirkender Integration: beinahe zu widerstandslos. Die Sänger profitieren von der dynamischen Zurückhaltung und artikulieren fast ausnahmslos nuanciert und wortverständlich. Waltraud Meier ist nach wie vor eine elektrisierende Kundry, deren sopranistischen Verführungskünsten eigentlich jeder Parsifal erliegen müsste. Christopher Ventris verlieh der Titelpartie, mit der er kommenden Sommer auch sein Bayreuthdebüt geben wird, differenziertes und geschmeidiges Tenortimbre, wenn er den Anstrengungen der Partie im letzten Aufzug auch nicht mehr vollständig gewachsen schien. Alexander Marco-Buhrmester als Amfortas und Franz Josef Selig als Gurnemanz boten hohe Verlässlichkeit und stimmliche Solidität.
Am Abend zuvor waren in einer ärgerlich nichts sagenden und flachen Inszenierung von Strawinskys "The rake's progress" in der Opéra Garnier jede Menge Nackte, in allen nur erdenklichen Stellungen kopulierende, einander unentwegt vergewaltigende, es wahllos mit Männern, Frauen, Tieren und verkohlten Skeletten treibende Menschen zu sehen gewesen. Der englische Regisseur Oliver Py, der neue Direktor des Pariser Théatre de l'Odéon, sparte an keiner vorstellbaren Widerlichkeit und an keinem Klischee. Diese kleinkrämerhafte Pedanterie wiederum ließ seine Inszenierung andererseits zum Gähnen bieder wirken. Sängerisch hatte der Premierenabend mit dem trefflichen Toby Spence als strahlendem Tom Rakewell Laura Claycomb als glockenrein intonierende Anne Trulove und Laurent Naouri als prägnantem Nick Shadow ungleich mehr Format. Doch auch im Graben waltete unter Edward Gardner eine deprimierende Fadheit, ja Konturlosigkeit. Das hat den Parisern, wie es scheint, gefallen. Versteh einer das Publikum. JULIA SPINOLA

Text: F.A.Z., 06.03.2008, Nr. 56 / Seite 38