Opern

Deutschlandradio, 29. Januar 2011
Hartmut Haenchen und Romeo Castellucci suchen den Gral an der La Monnaie in Brüssel

Der Kampf zwischen Versuchung und Verzicht, zwischen körperlicher Liebe und geistlicher Bestimmung steht im Zentrum des "Parsifal" von Richard Wagner, jetzt neu inszeniert von Romeo Castellucci in Brüssel. Er gilt als postdramatischer Bilder-Schamane, der zuletzt mit einem dreiteiligen Dante-Schocker in Avignon Aufsehen erregte.
Seit knapp hundert Jahren gehört Richard Wagners "Parsifal" zum allgemeinen Kulturleben. Das "Bühnenweihfestspiel" besetzt in ihm einen repräsentativen Platz (bis 1913 waren Aufführungen wegen einer für das Werk geltenden 30-jährigen Schutzfrist ausschließlich den Bayreuther Festspielen vorbehalten). Hartmut Haenchen gehört zu den ausgewiesenen Kennern dieses Werks. Vor 58 Jahren sang er als Knabensopran die "Stimme aus der Höhe". Als das Verbot szenischer "Parsifal"-Aufführungen in der DDR aufgehoben wurde, stand er am Dirigentenpult - und seitdem an vielen Orten Europas. Zur selbstgewissen Sicherheit, die dieser Maestro Solisten, Chor und Orchester vermittelt, kommt die genaue philologische Kenntnis der Partitur und der akkurat protokollierten Aufführungsgeschichte. Die Ideal-Tempi, die dem Dichterkomponisten vorschwebten, werden von Haenchen leicht unterboten. Es waltet also der Zug zur Zügigkeit vor, der beispielsweise den Gurnemanz-Erzählungen viel von der Schwere nimmt und das Parlando begünstigt. Der bühnen- und lebenserfahrene Bassist Jan-Hendrik Rootering wird bei seinen Exkursen zur Zeit, die hier zum Bild im Raum wird, von einem deutschen Schäferhund begleitet. Dieser Gurnemanz erweist sich musiktheatralisch als immer noch gefährlicher Wachmann im tiefen Forst einer in unscharfer Ferne aufscheinenden Geschichte und als umsichtiger Verteidiger der Fremden: Kundry.
Romeo Castellucci debütierte in Brüssel auf dem Feld der großen Oper. Er ist ein fantasiebegabter Theatermacher - Raumgestalter, Ausstatter und Regisseur in einem. Den ersten Parsifal-Akt, das Auftauchen des nicht hinreichend vorgebildeten jungen Manns bei der dekadenten Gralsritter-Bruderschaft, beließ Castelleucci im Wald. Ja, er machte das Gehölz extra dicht, hoch und schwer durchdringlich. Zwischen den Ästen und Zweigen werden immer wieder einzelne Sänger oder Personengruppen ausgeleuchtet. Vom Schwan zeigt sich nur die Andeutung des Gerippes. Überhaupt bleiben die zentralen Symbole und mittelalterliche Panzerungen ausgespart: kein Gral also, kein Speer, kein Taufbecken.
Mit dem Glockenton lichtet sich das Dickicht. Die Mannen des Amfortas setzen sich in Bewegung wie der Wald von Birnam in Shakespeares "Macbeth". Drei Forstarbeiter mit Stiehl-Säge sehen zu, wie das Laubwerk vollends in sich zusammensackt und der Raum denaturiert wird. In Stellvertretung des Abendmahlskelches treten ein dunkles Rund in Aktion, das als Öffnung zu verstehen ist, und die Schlange, die schon zum Vorspiel am Ohr eines der bekanntesten Nietzsche-Portraitfotos auf dem Vorhang züngelte. Eine Projektion vergrößert, wie ein Tintentropfen ins Wasser fällt, sich ausbreitet und es den Zuschauern Schwarz vor die Augen macht.
Im Kontrast zum Waldschillern und zum eingeschwärzten Intimbereich hüllt sich die Zauberwelt des zweiten Aufzugs in weißen Nebel. Wunderbar, zumindest wundersam. Zunächst begleitet von einer pharmakologisch sachkundig erläuterten Liste von chemischen Substanzen, mit denen die Kundrys von heute wohl hantieren. Auch Klingsor ist ein Zauberer von heute, hat zunächst zwei rechte Arme und dirigiert unterm Kronleuchter mit zwei Stäbchen, während ein weiterer Arm surrealistisch durch die Luft schwebt. Die gekrümmt herumliegenden Körper erwachen zu Schlangenseilakrobatik. Der Immigrant Parsifal, ausgestattet mit dem geschmeidigen Piano und den betörenden Tenorkräften von Andrew Richards, tritt unterm Brautschleier herein, lässt sich aber weder von fünf Barbusigen noch von Anna Larsson, der fürsorglich-begehrlichen Kundry verführen und in die Amfortas-Falle locken. Nur virtuelle Wölkchen kommen zu einem animierenden Paarungstanz zusammen. Dass sich bei 'seinem' Parsifal Hunger nach Leben in ontologische Angst wandle, macht Castelluccis Produktion deutlich.
Der lange "Parsifal"-Schluss lebt in Brüssel vom Aufgebot vieler ansonsten opernferner junger Leute. Die Statisten ziehen auf einem zügig bewegten Laufband unter Führung des zunehmend charismatisch ausgeleuchteten Parsifal dem Auditorium und der Machtergreifung im Gralsland entgegen. Das ist eine starke Bildkonfiguration, die sich weit von politisch vernebelten Bayreuther Tagen entfernt - und in der modernen Großstadt ankommt, deren Luftbild vom Firmament herabsinkt.
Manche Passagen zu dieser Bewegungschoreographie muten an wie Kinomusik vor Erfindung des Kinos. Was jedoch nur so viel besagt: dass einige Nachfolger Richard Wagners von dessen Technik der musikalischen Illustration und Instrumentation gelernt haben. Dass sie also, kulturgeschichtlich gedacht, die Wunderkiste des umtriebigen Sachsen zur größtmöglichen Wirkung brachten. Vom Sog dieser ursächlichen Effekte profitiert nun auch die Aufführung des "Bühnenweihfestspiels" wieder, wenn - wie jetzt in Brüssel - einerseits auf die Magie der Bilder gesetzt wird, andererseits der Tonsatz dergestalt effektiv und zugleich intensionsreich "durchgezogen" wird, dass man ihm eine neue Jugendlichkeit ablauschen mag.
Frieder Reininghaus