Opern

Opernwelt, 01. Juni 2012
OPERNWELT, Heft 6, 2012, Seite 12

Kopenhagen gewinnt im skandinavischen «Parsifal»-Wettbewerb gegen Malmö.

Trauma und Tai Chi

Wagners «Parsifal», dirigiert von Hartmut Haenchen in Kopenhagen, dirigiert von Leif Segerstam in Malmö

So ein Wagner-Glück gibt es in Skandinavien nicht alle Tage: In zwei Städten, die nur ein sechzehn Kilometer schmaler Wasserstreifen trennt, standen «Parsifal»-Premieren auf dem Programm. Man musste nur über den Øresund fahren, jene geschichtsträchtige Meer­enge, die Dänemark von Schweden trennt, um erhellende Vergleiche zwischen den Aufführungen in Kopenhagen und Malmö zu ziehen: nicht nur in Bezug auf die unterschiedlichen Annäherungen der Regisseure Keith Warner und Stefan Johansson an Wagners Weltabschiedswerk, sondern auch hinsichtlich der völlig verschiedenen äußeren Bedingungen, unter denen die beiden Produktionen entstanden.

Keith Warner wollte mit «Parsifal» die erste eigene Regiearbeit in Kopenhagen vorlegen, seit er die Künstlerische Leitung der dortigen Oper (im Sommer 2011) übernommen hatte. Die Produktion sollte auch den Beginn jener neuen Ära markieren, die sich die dänischen Entscheidungsträger wünschten: Anhebung des künstlerischen Niveaus, um langfristig und nachhaltig international konkurrieren zu können. Es kam bekanntlich anders: Die neue Regierung kürzte Ende letzten Jahres das Opernbudget so radikal, dass Warner sich außerstande sah, die von ihm erwartete Mission zu erfüllen. Mit großer Geste trat er im Januar 2012 von seinem Amt zurück, so dass dieser «Parsifal» zu seinem Schwanengesang in Kopenhagen mutierte.

Gemeinsam mit seinem Dramaturgen Barry Millington entwickelt Warner eine düstere, unbequeme Lesart aus tiefenpsychologischer Perspektive. Sie scheut nicht die verstörenden, ideologisch kontaminierten Schichten: Religion, sexuelle Verfehlung und vor allem Antisemitismus – Themen, die der eminente Wagner-Kenner Millington immer wieder in den Fokus seiner Betrachtungen rückt. Die Gralswelt ist ein Sanatorium, ihr Oberarzt Gurnemanz. Seine Patienten sind Ritter von der traurigen, «traumatisierten» Gestalt. Amfortas kommt allein die Rolle eines primus inter pares zu, der sich nur durch die blutende Wunde auszeichnet. Bei der Enthüllung des Grals öffnet er Kisten, die – wie Matroschka-Puppen – kleinere Fassungen ihrer selbst enthalten. Allein: Der Gral bleibt unauffindbar, das Ritual läuft leer. Kundry erinnert mit ihrer weißen Strähne im schwarzen Haar an Susan Sontag. Eine Intellektuelle, schutzlos der siechen Männerwelt ausgeliefert – Sinnbild für Wagners Chauvinismus und Rassismus? In dieser Welt ist selbst Parsifal ein Kranker, als Einziger vollzieht er jedoch den Schritt vom Trauma zur Selbstfindung.

Der zweite Akt führt ins innere Ich. Durch die Gitterstangen eines Kinderbettchens bestaunt Parsifal mit großen Augen den Streit des Elternpaares Klingsor und Kundry. Freud steht Pate, wenn Keith Warner hier den Ödipus-Komplex zitiert: Verführung durch die Mutter und Vatermord inklusive. Dazu passt die ovale Öffnung eines gigantischen konischen Tunnels (Bühne: Es Devlin), der – mit rotem Stoff ausgekleidet – an eine gigantische Vagina denken lässt. Ein starkes Raumbildzeichen, das in verschiedenen Perspektiven und Funktionen den ganzen Abend beherrscht.

Auch am Ende verweigert Warner eine versöhnliche Geste: Die Gralskiste ist aus Papier und zerbröselt in Parsifals Händen. Was die Zukunft bringt? Keiner kann es sagen. In übertragenem Sinne gilt das auch für die Kopenhagener Oper. Die Lücke, die der englische Regisseur dort hinterlassen hat, ist noch nicht geschlossen.

Die gute Nachricht ist: Das bei der Premiere stimmlich überzeugende Ensemble bleibt Kopenhagen in Zukunft erhalten. Angeführt wird es von Stig Fogh Andersens Parsifal, der über die – freilich im Verlauf des Abends nachlassende – Strahlkraft seines geschmeidigen Tenors routiniert disponiert. Stephen Millings verkörpert Gurnemanz vielschichtig, ein Gebieter, vokal gesund und zuverlässig. John Lundgren debütiert als Amfortas, fächert eine breite Palette von Leidenstönen auf. Harry Peeters, der einzige Gast in Kopenhagen, bleibt als Klingsor blass und unter seinen Möglichkeiten. Im Unterschied zu Randi Stenes Kundry: dramatisch in der Höhe, mit gespannter Deklamation im unteren Register.

Größten Jubel verdient Hartmut Haenchen, der die Königliche Kapelle auf ein bisher ungehörtes Niveau führt. Die Wahl der Tempi, auf intimer Kenntnis der Aufführungsgeschichte fußend, der herrlich nuancierte Klang, der die raffinierten Strukturen der Partitur brillant hörbar macht, die umsichtig gesetzten dramatischen Gipfel – das ist eine Klasse für sich.

Ganz andere Akzente setzte Stefan Johansson, der seit 2011 als Chefdramaturg an der Oper in Malmö wirkt. Auch er lieferte mit «Parsifal» seine erste Inszenierung an neuer Wirkungsstätte ab. Von Hause aus Schauspielmann, ein enger Freund Ingmar Bergmans, baute er ab 1997 in Stockholm die Dramaturgie der dortigen Oper auf und will 2013 dorthin auch wieder zurück. Malmö ist nur eine Zwischenstation. Sein «Parsifal» verläuft in freundlichen, fast heiteren Bahnen. Man könnte an einen Abend aus der Zeit der Uraufführung denken (die passenden Kostüme entwarf Jan Lundberg). Naturalismus statt Subversion. Es gibt einen grünen Wald, eine Quelle, eine Säulenhalle als Gralstempel. Und viel Statik. Die Spannung zwischen den Figuren, vor allem zwischen Parsifal und Kundry, bleibt kraftlos, auch wenn Johansson eine Art Selbstfindung Parsifals anzudeuten versucht: Erst für den Kuss tritt Parsifal aus dem Proszenium auf die Bühne, auf der bis dahin ein junges Double ihn «vertreten» hat.

Die bescheidenen Ansätze, das Geschehen hier und da zu verfremden, ihm die Aura des Erhabenen zu nehmen, bleiben blass. Gurnemanz treibt Tai Chi-Gymnastik, Titurel tritt als Samuraikrieger auf, Klingsor hat etwas von einem verunglückten Tramp. Zum Schluss kann sich Johansson ein Augenzwinkern nicht verkneifen: Ein Kinderpaar, Klein-Parsifal und Klein-Kundry, schmökert in einer Riesenpartitur des «Parsifal», während Titurel und Klingsor wie zwei Martial-Arts-Krieger hinten in Zeitlupe einen Endloskampf austragen.

Malmö hat zwar kein Wagner-Ensemble, aber größere finanzielle Möglichkeiten, um renommierte Kräfte zu engagieren. Thomas Mohr als Parsifal gefällt mit frischem, schön-timbrierten Tenor. Reinhard Hagen überzeugt mit sonorer, samtiger Bass-Tiefe, die seinem Gurnemanz eine fast edle Gravitas verleiht. Susanne Resmark, aus Kopenhagen ausgeliehen, ist eine intelligente und ausdrucksstarke Kundry. Klingsor ist auch in Malmö zu leicht besetzt: Lars Arvidson charakterisiert die Figur mit ironischem Zungenschlag. Leif Segerstam, der neue Musikchef in Malmö, malt in der Tiefe des amphitheatralisch angelegten Orchestergrabens mit breitem Pinsel: viel große Geste, wenig Filigran.
Andreas Bücker