Opern

Die Welt, 09. Februar 2011
Sind wir nicht alle ein bisschen Parsifal?
In Brüssel träumt sich Regisseur Romeo Castellucci wie ein reiner Tor in Richard Wagners letzte Oper hinein

Während sich die Belgier offenbar daran gewöhnen, dass man sich ohne richtige Regierung noch viel wütender um die Vorherrschaft im Königreich streiten kann, steuert jetzt auch der aufgerissene Vorplatz der Oper seinen Teil zum angeschmuddelten Image Brüssels bei. So wirkt es fast wie ein Anachronismus, dass Opernintendant Peter de Caluwe sein Haus mit einer blitzeblanken, gelungenen Produktion nach der anderen auf Kurs hält.
Dabei geht er weder mit der Stückauswahl noch mit seinen Regisseuren auf Nummer Sicher. Dass Krzysztof Warlikowski mit "Macbeth" einen Erfolgstreffer landen würde, war ebenso wenig klar, wie die szenische Liaison zwischen Andrea Breth und "Katja Kabanowa". Da wirkt es keineswegs vermessen, wenn Caluwe verrät, dass ihn beim "Parsifal" der Ehrgeiz getrieben habe, eine ähnlich auf das Haus und den Ort zugeschnittene Produktion zustande zu bringen, wie sie Stefan Herheim mit seinem genialischen Multigeschichtsspektakel für Bayreuth maßgeschneidert hat.

Dieses Ziel hat er jetzt grandios erreicht. Gelungen ist ein verblüffend origineller Beitrag zu Deutungsgeschichte des immer noch von einer diffus religiösen Aura umwehten Spätwerkes. Der vom Theater kommende Opernneuling Romeo Castellucci imaginiert einen Karfreitagszauber, der vom religiös aufgeladenen Naturwunder zu einem massenhaften Akt der Selbstbestimmung wird. Da marschiert nämlich ein dreihundert Köpfe starker Querschnitt der Brüsseler Bürgerschaft von heute, wie geradewegs von der Straße auf die Bühne gebeten, einem Parsifal folgend, der aus ihrer Mitte kommt, auf einem Laufband an der Rampe in Richtung des erleuchteten Zuschauerraumes. Ganz neu ist dieses Zu-sich-selbst-kommen zwar nicht, in diesem Kontext allerdings und als Fazit eines bewusst naiven und säkularisierten Zugangs, der sich seine Bilder aus der Musik erträumt, wirkt er verblüffend stimmig.

Was bei dem 51-jährigen Italiener sozusagen auf einem laufenden Band und dann in der absoluten Einsamkeit einer urbanen Schreckensprojektion endet, hatte mit einem fulminant wuchernden Dschungelbild begonnen. Die Grals-Ritter geistern hier in einem der wohl opulentesten Bühnenwälder der Operngeschichte herum, sind kaum zu sehen.

Hier stolpert Parsifal geradewegs von heute aus hinein, versteht kaum etwas, staunt mit uns über die Schlange und den Schäferhund, die mitspielen, und erfühlt dennoch viel. Die üblichen Insignien des Religiösen braucht hier keiner. Bei Castellucci, der auch sein eigener Ausstatter ist, ist nicht nur der Himmel leergefegt, sondern auch die negative Klingsor-Welt ein höllischer, weiß kontaminierter Raum. Hier treibt der Zauberer als befrackter Dirigent übel sadistische Spiele mit weißen, nackten Frauengestalten, während die Blumenmädchen in die Unsichtbarkeit der Seitenlogen verbannt sind. Parsifal ist auf der Suche nach sich selbst. Sein Schild wird dabei zu einem Spiegel für die Selbsterkenntnis. Auch hier, wie dann am Ende, bleibt er allein zurück. Und niemand holt ihn raus. Zumindest szenisch.

Musikalisch hat man sich Hartmut Haenchen, einen vorzüglichen "Parsifal"-Kenner mit philologischem Ehrgeiz, ans Pult verpflichtet. Haenchen folgte Wagners Tempo-Intentionen, ließ zügig und dramatisch spielen, ohne zu hetzen. Er lieferte zudem eine geradezu kammermusikalische Transparenz ohne Nebeldunst und sakralen Tand, aber mit dramatischer Emphase. Davon profitierten der klug dosierte Parsifal von Andrew Richards ebenso wie Anna Larssons dunkel intensive Kundry und Thomas Johannes Mayers Amfortas.