Sinfoniekonzerte

Leipziger Volkszeitung, 28. April 2001
Ein Schubert für den Bauch und das Herz

Haenchen im Gewandhaus

Manchmal wanken Weltbilder: sollte das allseits mit missionarischem Eifer betriebene Gezerre ums historisch vermeintlich korrekte Musizieren am Ende nur ein Stellvertreterkrieg sein? Spielfeld derer, die mit Musik wenig zu sagen haben und darum umso ausführlicher über Musik palavern? Hartmut Haenchen jedenfalls hat mit seiner Sicht auf Schuberts "Große" im vor ungeteilter Begeisterung brodelnden Gewandhaus mit virtuosem Furor jedes Gezanke um Darm- oder Stahlsaiten, um mehr oder weniger oder kein Vibrato, um Viertel oder Halbe von der Tagesordnung gefegt. Sein Schubert klingt einfach richtig. Da muss sich keine Phrasierung, kein Akzent, kein Tempo, kein Detail und auch keine Großform erst in die Hirnwindungen des uneitlen Könners zwängen, um mit musikologischer Weisheit angereichter ins Ohr des Hörers entlassen zu werden. Dieser Schubert geht von Bauch zu Bauch, von Herz zu Herz.

Aber Haenchen ist kein Bauchmusiker. Nur wenige andere haben sich so lange und so ausführlich mit aufführungspraktischen Fragen auseinander gesetzt wie er. Aber bei ihm fließt Erkenntnis in ein sinnliches Konzept - und nicht in einen klingenden Analyse-Aufsatz.

Aber dadurch wird es nicht automatisch besser. Zum Wissen müssen Fühlen und Können kommen. Dann entstehen musikalische Glücksmomente. Dann funkelt und glänzt das Gewandhausorchester wie schon lange nicht mehr. Dann ist es nicht weiter schlimm, dass dieses Orchester nach wie vor nie wirklich leise tönt, sobald die Bläser dabei sind. Dann kann es plötzlich alles spielen.

Denn Haenchens Musizierhaltung kennt keine Gattungs- oder Epochengrenzen. Ebenso wie bei Schuberts vielen Tönen zwischen Klassik und Romantik lädt er die zwischen Romantik und Moderne klemmenden Bohuslav Martinus und Karl Amadeus Hartmanns mit Emotion und Bedeutung auf. Des Tschechen bohrende Momentaufnahme der Trauerarbeit nach dem Ende des Nazi-Terrors, des im braunen Sumpf fast versunkenen Deutschen fahle Melancholie, Martinus hilflosen Schrei, Hartmanns hilflose Idylle. Das Gewandhausquartett lädt Hartmanns Kammerkonzert mit Bedeutung auf, die Tutti-Streicher verkeilen die Ungarismen - und über allem strahlt die schwerelose, überirdisch schöne Klarinette Sabine Meyers. Ein Wunder an sprechender Beherrschtheit.

Und schmerzliche Erinnerung an eine vertane Chance: Vor zwei Jahren hätte Leipzig den Ausnahmedirigenten als Opern-Generalmusikdirektor an sich binden können. Hoffentlich kommt er wenigstens als Gast bald wieder.

Peter Korfmacher