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Lieber, verehrter Herr Prof. Pischner!

Brief zum 100. Geburtstag

1971 erhielt ich einen ersten Anruf von Ihrem Büro, als ich gerade mein Repertoire vom reinen Konzertdirigenten zum (auch) Operndirigenten zu erweitern versuchte, ob ich die Choreinstudierung von Modest Mussorgskis Boris Godunow an der Deutschen Staatsoper Berlin übernehmen möchte. Es wäre sozusagen das Probedirigat für die Stelle des 1. Chordirektors, die frei wurde. Ich sagte zu. Wenig später erkrankte der Dirigent der Produktion Heinz Fricke und ich bekam die Frage, ob ich ohne Probe die Vorstellung der Oper in der Fassung von D. Schostakowitsch mit 12 Bildern übernehmen wolle. Ohne je eine Oper dieses Ausmaßes dirigiert zu haben, sagte ich zu. Körperlich konnte ich das aus Unerfahrenheit nicht bewältigen, aber es war offensichtlich doch gut genug, dass das folgende Gespräch mit Ihnen für mich richtungsweisend war:
Sie boten mir die Stelle des 1. Chordirektors an und schnell verständigten wir uns, dass ich diese nicht annehmen solle. Sie boten mir eine ganze Reihe von Übernahmen zunächst im Mozart-Repertoire an und Konzerte mit der Staatskapelle von Händel bis Mahler. Diese enge Zusammenarbeit hielt selbst bei Ihrem Nachfolger bis zu meinem Weggang aus der DDR 1986 an und umfasste ein Repertoire von G.F. Händel bis Paul Dessau über Mozart und Wagner bis Johann Strauss.
Die Besonderheit war im Gegensatz zu vielen anderen Intendanten, dass Sie der Maßgabe des Zentralkomitees und des Kulturministeriums widerstanden, als ich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre Dirigierverbot, Reiseverbot, Interviewverbot hatte und Sie mich an Ihrem Haus als einzigen Ort in der ganzen DDR auftreten ließen. Und genau in dieser Zeit schlugen die Musiker der von Ihnen 1969 beförderten Gründung eines Kammerorchesters „Musica Nova“ der Staatsoper Berlin mich als Nachfolger des damaligen künstlerischen Leiters Dieter Gerhard Worm vor. Der Apollo-Saal wurde unsere Heimat und für die Profilveränderung des Kammerorchesters 1982 hatten Sie Verständnis, weil Sie, trotz Ihrer politisch hoch angebundenen Position, aber eben als Musiker sahen, dass die zeitgenössischen Werke, die wir spielen wollten nicht spielen durften und die wir spielen sollten nicht spielen wollten. So konzentrierten wir uns auf den wichtigsten Berliner Komponisten der Musikgeschichte: Carl Philipp Emanuel Bach. In diese Zeit fällt auch, dass Sie mich zum Assistenten Otmar Suitners für Wagners Ring in der Regie von Ruth Berghaus ernannten, der aber über das Rheingold nicht hinauskam weil die Verwandtschaft von Wotan in Honeckers Hut, den Verantwortlichen zu weit ging. Sie setzten auch gegen alle Widerstände den ersten szenischen Parsifal (Regie Harry Kupfer) auf den Spielplan, den ich dann vor mit Stasi- Leuten ausverkauftem Haus sogar dirigieren durfte.
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: In einem System wie in der DDR war es schwer sich durchzusetzen, wenn man einmal in das Visier der Stasi geraten war und einige politische Prozesse gegen einen geführt wurden. Sie haben auf wunderbare Weise mir ganz persönlich mit Ihren in diesem Umkreis ungewöhnlichen Entscheidungen geholfen, überhaupt der Dirigent zu sein, der ich jetzt bin. Dafür bin ich Ihnen zutiefst dankbar und wenn ich jetzt gerade meinen 36. kompletten Ring soeben dirigieren konnte, weiß ich, dass ich das ohne Ihre treue Unterstützung nicht hätte tun können.
Zu Ihrem Ehrentag wünsche ich von ganzem Herzen alles Gute Hochachtungsvoll und herzlich
Ihr
Prof. Dr. phil. h.c. Hartmut Haenchen

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