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Gluck, Christoph Willibald: Orfeo ed Euridice

Booklet-Text zur CD-Ausgabe von Glucks Orfeo

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Christoph Willibald Gluck: Orfeo ed Euridice
Booklet-Text zur CD-Aufnahme Capriccio 60 008-2, aufgenommen 1988

Die Arbeit eines Interpreten - im Sinne des lateinischen Wortes „interpretor“ als Vermittler, Erklärer, Deuter - muss versuchen, auf Quellen zurückzugreifen.

Von Orfeo gibt es leider kein Autograph, sondern nur den Pariser Druck von 1764 (damit ist nicht die spätere Pariser Fassung gemeint), der von Gluck durchgesehen wurde. Mit der Deutung der Quellen beginnt der Interpretationsvorgang. Daraus soll der Wille des Komponisten sichtbar werden, was aber nur bei Kenntnis des aufführungspraktischen Umfeldes, Kenntnis der kulturhistorischen Strömungen und der gesellschaftlichen Zusammenhänge möglich ist.

In der vorliegenden Einspielung geht es um die Darstellung der Fassung, die - ohne Auftrag (ein gewöhnlicher Vorgang für diese Zeit) - für Wien geschrieben wurde und am 5. Oktober1762 unter Glucks Leitung mit dem Kastraten Gaetano Guadagni als Orfeo ihre erste öffentliche Aufführung erlebte.

Die Aufführung mit einem Countertenor kommt dem von Gluck vorgesehenem Klangideal am nächsten. Die heute oftmals üblichen Varianten, die man auf Bühnen erleben kann, mit Bariton oder Frauen-Alt, entsprechen weder der Stimmführung der Partitur noch Glucks dramaturgischer Absicht der Wahrhaftigkeit. Gluck selbst schuf neue Fassungen mit anderen Besetzungen (Kastraten-Sopran als Titelrolle für Parma 1769 und für (sehr hohen) Tenor für Paris 1774).

Unsere Besetzung des Amor mit einem Knaben - die Rolle wurde in der Uraufführung von Lucia Clavareau gesungen - folgt der Lage der Partie und der Mythe, nach der Amor der Sohn von Ares und Aphrodite ist. Den unmenschlichen Götterbefehl der Bedingung für das Wiedererlangen von Euridice muss das nicht reflektierende Kind überbringen.

Auch wenn Orfeo noch ein lieto fine als Zugeständnis an den Zeitgeschmack hat, so stellt diese azione teatrale per musica einen Wendepunkt in der Operngeschichte dar. Die erstarrte Form des Wechsels von Rezitativ und Arie wird durchbrochen, dem Chor wird eine wichtige Funktion zuteil, die er in der Zeit der metastasianischen Oper verloren hatte. Es ist der Beginn der Opernentwicklung, die wesentlich mit durch den Text von Ranieri de’ Calzabigi, ein Jünger des Philosophen Jean-Jacques Rousseau, ermöglicht wird. Gluck sagt 1773 über das Libretto, dass es ihm die Möglichkeit gab, „große Leidenschaften auszudrücken, eine kraftvolle und ergreifende Musik zu schaffen". Die Rezitative werden ausinstrumentiert, erhalten dadurch eine vollständig neue Ausdrucksbedeutung und gestatten den sofortigen Wechsel in ariose Teile.

Wenn Rudolf Gerber in seinem Gluck-Buch sagt: „Das Orchester tritt kaum als selbständiges dramatisches Ausdrucksmittel der Singstimme zur Seite", entspringt das offensichtlich einem Irrtum in der Aufführungspraxis. Zunächst ändert die Instrumentierung nichts an der Freiheit der Ausführung des Rezitatives. Die von Johann Adam Hiller und Johann Adolf Scheibe und anderen Theoretikern geforderte vollständige Auflösung des Taktgefüges bei den sogenannten Seccorezitativen (dies ist allerdings kein streng historischer Begriff) gilt auch hier, und die Orchesterbehandlung muss sich entsprechend auf die harmonische Stützung beschränken. Das unterscheidet sich aber von den zahlreichen kommentierenden Stellen, wo die Orchesterfarbe zum Ausdrucksträger wird. Wenn man nicht außer acht lässt, dass die bereits 1627 von Carlo Farina beschriebenen und in den Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber und Johann Gottfried Walther vorgeschriebenen klanglichen Effekte wie col legno, pizzicato, scordatura und sul ponticello zu Glucks Zeit bereits 150 Jahre zur Aufführungspraxis gehörten, so muss das Orchester gerade mit seinen Klangfarben als dramatisches Ausdrucksmittel verwendet werden. Es bietet sich an, Worte wie „terribile segreto" („schreckliches Geheimnis“) oder „Furien" mit besonderen Orchesterfarben zu unterlegen. An anderer Stelle werden Klangfarben durch die Vibratobehandlung hervorgebracht. In der Pariser Fassung hat Gluck selbst zahlreiche Stellen markiert, die mit Vibrato gespielt werden sollen. Die sängerische Tradition von Schwelltönen aus Giulio Caccinis Regeln wird sinngemäß auf das Orchester übertragen, da alle Instrumentallehren des 18. Jahrhunderts davon ausgehen, dass die Instrumente die ideale Singstimme nachahmen sollen.

Ohne dass eine Vermischung der Fassungen entstehen sollte, sind natürlich Glucks Anweisungen aus der Pariser Fassung eine Quelle der Inspiration für eine stilgerechte Interpretation. So wurden z.B. die Akzente für das Duett „Vieni, appaga il tuo consorte" übernommen, jedoch nicht veränderte Tempobezeichnungen, die auch mit veränderten Strukturen einhergehen. Die Tempi und deren Relationen entspringen hier immer noch dem integer valor, dem gleichmäßigen Grundschlag. Deutlich wird das zum Beispiel bei der Euridice-Arie „Che fiero momento". Hier bestimmen in der Folge Allegro - Andante - Allegro als bindende Grundbewegung Achtel - Sechzehntel - Achtel die Einheit des Tempos, begründet in der anhaltenden Erregung Euridices. Im Gegensatz dazu gibt es aus dramaturgischer Absicht feine Unterschiede zwischen Andantino „ieni a regni" als Gruß der Seligen und dem „bewegteren" Allegretto bei der Zusammenführung von Orfeo und Euridice, obwohl die musikalische Struktur gleich bleibt. Eine musikalische Aufführungspraxis, die auch durch Johann Joachim Quantz bestätigt wird.

Einige Tempoergänzungen der Herausgeber werden von mir durch Tempi aus anderen Quellen ersetzt und führen im berühmten Beispiel „Che farò" zum Gegensatz zur Pariser Fassung. Nach einer zeitgenössischen Quelle in Florenz ist das „Ah, non m'avanza" Allegro und nicht Adagio, wie in der Gesamtausgabe ohne Quellenbezug ergänzt wurde.

Die doppelte Einspielung des „Reigen seliger Geister" nimmt die Unterschiede (besonders im Tempo) zwischen den Angaben der Wiener und Pariser Fassung, die mit einer vollständigen Formveränderung einhergehen (von A zu ABA), sehr ernst.

Glucks Vorschlagsnotation ist inkonsequent. Die Ausführung erfolgt nach den ab Mitte des 18. Jahrhunderts weitgehend übereinstimmenden Regeln, die in der Wiener Praxis mit der italienischen Oper verbunden waren, jedoch auch von den deutschen Theoretikern vertreten wurden. Als besondere Schärfung des Ausdrucks bewährt sich auch hier der deutliche Unterschied von Glucks ausdrücklicher Notation von vier Sechzehnteln und der klassischen Vorschlagsfigur: Vorschlag vor einem Achtel mit zwei folgenden Sechzehnteln. Tartini, Quantz, Carl Philipp Emanuel Bach, Marpurg, Tosi, Agricola, Hiller, Rigler sind sich über die kurze Ausführung dieses Vorschlages einig. Am Beispiel der Ouvertüre zeigt sich die Wirkung dieser Ausführung deutlich.

Sowohl bei den von mir geleiteten Opernaufführungen wie auch bei dieser Einspielung soll die unterschiedliche dramaturgische Funktion des zweiten Orchesters deutlich werden. Zunächst ist es das Echo der Klage Orfeos und deren Reflektion. Hier ist als Continuo-Instrument eine Theorbe beigegeben. Später wird das zweite Orchester das Begleitinstrument Orfeos.

Kernstück einer Aufführung von Orfeo wird immer die berühmte und schon zu Glucks Zeiten umstrittene Arie „Che farò senza Euridice?“ sein. Hier prallen die Gegensätze zwischen Aufführungstraditionen des späten 19. Jahrhunderts und der tatsächlichen Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts deutlich aufeinander. Dass hier Missverständnisse von den ersten Aufführungen an bestanden, liegt in der Fehldeutung der dramaturgischen Funktion dieser Arie. Schon Gluck musste sich in dem Vorwort zu Paris ed Helena gegen die Vorwürfe verteidigen, die Arie sei zu heiter. Dort sagt er, es gehöre nichts dazu, durch einen sinnwidrigen Vortrag einen „leirigen Marionettentanz“ daraus zu machen. Zunächst muss man sich der Funktion dieser Arie bewusst werden: Es ist kein Trauergesang: deshalb das C-Dur, deshalb die doppelte Tempovorschrift Alla breve (als Zeichen für flüssigen Grundschlag) und Andante espressivo. Deshalb sind die Begleitfiguren nicht im Legato von seufzenden Zweierbindungen, sondern ausdrücklich von Gluck als spiccato assai (in der Pariser Fassung pique) erregte, kurze Begleitfiguren vorgezeichnet. Eine Notation, die man schon bei Händels Saul kennt. Die Kreisbewegung der Melodie (beginnend und endend auf C) hat ihre Entsprechung in der kreisförmigen Rondo-Form. Orfeo findet durch das erfahrene Leid die artifizielle Seite seines Erlebnisses. Die durch das Leid hervorgerufene künstlerische Eingebung des Sängers und Komponisten Orpheus steht im Vordergrund. Entscheidend wird die künstlerische Umsetzung des Erlebten. Besonders deutlich wird dieser Vorgang, wenn wir dieses Rondo nach dem zweiten Tod von Euridice mit der „Rondokantate“ nach dem ersten Tod von Euridice vergleichen. Der Ansatzpunkt des Rondos ist schon als künstlerischer Ausdruck des Schmerzes, der Einsamkeit vorhanden. Hier antwortet noch das Echo auf seine verzweifelten Rufe. Das verstummt in der „Che farò“-Arie. Der künstlerische Ausdruck wird auf das Einfachste reduziert. Die Azione teatrale wird zur Betrachtung über künstlerische Schaffensprozesse, über Glucks Anliegen und erklärtes Ziel, „die Quellen meiner Kunst bloßzulegen“. Der Wechsel zwischen gefasster Trauer und „schreiendem“ Schmerz bestimmt die „Rondokantate“; das künstlerisch verarbeitete Leid prägt die letzte Arie „Che farò“, den Weg des Künstlers auf dem Streben nach Vollendung zeigend.

Christoph Willibald Gluck studierte die Partie des Orfeo mit dem Kastraten Gaetano Guadagni für die Uraufführung ein. Guadagni brachte das Werk auch in London zur Aufführung. Von dort sind uns seine Verzierungen überliefert. Der heftige Streit, ob in Glucks Werken willkürliche Sängerverzierungen noch Platz haben, kann nur im Verhältnis zwischen Aufführungspraxis und den neuen Ideen zum wahrhaftigen Ausdruck der Oper geklärt werden. Zunächst muss man feststellen, dass die Guadagni-Verzierungen, gemessen an den üblichen, rein virtuosen und bedeutungsleeren Kastratenverzierungen, die uns überliefert sind, bescheiden anmuten. Das könnte ein erstes Indiz sein, dass die Verzierungen auf Gluck zurückgehen, da er entsprechend seiner Auffassung „große Leidenschaften auszudrücken“ hat. Also müssen alle Verzierungen sich diesem Ausdruckswillen unterordnen. Zunächst glaubte ich, die originalen Verzierungen Guadagnis verwenden zu müssen. Ich habe mich dann für den aufführungspraktischen richtigeren Weg entschieden, entsprechend der stimmlichen Veranlagung unserer Solisten aufgrund der vorhandenen Überlieferung Verzierungen im Sinne des überhöhten Ausdrucks zu erfinden und in der genannten Arie das Artifizielle durch Verzierungen besonders deutlich zu machen, entsprechend der Überlieferung mit der Entwicklung des Künstlers Orfeo, die Kunstfertigkeit zunehmen zu lassen, die sich über den einfacher werdenden Grundstrukturen erhebt.

Für die Bogenführungen der Streicher wurden weitgehend die Grundprinzipien von Leopold Mozart zugrunde gelegt, der fast ein Altersgenosse von Gluck war und etwa den spieltechnischen Standard seiner Zeit in Wien repräsentiert.

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