Aktuelles

12. Mai 2008

J.S.Bach: Hohe Messe - L.v.Beethoven: Missa solemnis

Henriette Sehmsdorf im Gespräch mit Hartmut Haenchen über die Missa solemnis von L.v.Beethoven/ Hartmut Haenchens Gedanken zur Interpretation der h-Moll-Messe von J.S.Bach für das Programmheft der Dresdner Musikfestspiele

1) In einem bereits von Ihnen gegebenen Interview zur »Missa solemnis« gehen Sie davon aus, dass Beethoven für die Komposition des Werkes zwei Beweggründe hatte: Erstens seine Stellung bei Erzbischof Rudolf zu konsolidieren, zweitens ein religiöses Werk zu schreiben, das über die Institution Kirche hinausweist.
Die zweite These möchte ich gern hinterfragen. Ist dies wirklich Beethovens ureigenste Absicht gewesen, oder hat sich die Dimension des Stückes nicht im Laufe des langen Schaffensprozesses entwickelt – vor allem nachdem der Anlass, die Inthronisation von Rudolf, bei Fertigstellung des Werkes schon Jahre zurücklag?

HH: Die Inthronisation, für die das Stück gedacht war, lag bei Vollendung des Werkes so weit nicht zurück. Die Grundkonzeption ist natürlich im Hinblick auf diese entstanden. Erzherzog Rudolf war sein Schüler, war ihm sogar freundschaftlich verbunden und versuchte ihm eine Rente zu verschaffen. Beethoven ist natürlich katholisch aufgewachsen, und er kennt auch aus seiner eigenen Erfahrung – er war für kurze Zeit Organist - die Tradition der Messkomposition. Dass er nun ein Werk schreibt, das in vielerlei Hinsicht diese Tradition sprengt, zeigt schon, dass er nicht an eine kirchliche Aufführung gedacht haben kann.

2) Beethoven sprengt alle Regeln der Messkomposition. An welcher Stelle tut er das Ihrer Meinung nach am auffälligsten?

HH: Das Erste ist schon mal die Länge. Selbst eine »feierliche Messe« durfte die Dauer von einer halben Stunde nicht übersteigen. Beethovens Missa von über einer Stunde Länge ist selbst an hohen Festtagen oder bei feierlichen Anlässen kaum spielbar. Es kommt hinzu, dass die vorgeschriebene Orchesterbesetzung praktisch in keiner Kirche auf einer Orgelempore unterzubringen ist. Als Drittes kommen die enormen Anforderungen an die Instrumentalisten und Solisten hinzu. Henriette Sonntag, die die Teilerstaufführung in Wien gesungen hatte, sagte, sie hätte in ihrem ganzen Leben nie eine so schwere Partie gesungen. Sie ist auch heute noch für eine Sopranistin ein heikles Unterfangen.
Aus der Tradition übernommen hat Beethoven eine Reihe von Merkmalen: die Dreiteilung des Kyrie oder die Einteilung von langsamem Sanctus und schnellem »Pleni sunt coeli«, aufsteigende Figuren bei »Ascendit«, die ja schon von Anfang der polyphonen Kirchenmusik ein fester Topos sind. Er hat sogar Kirchentonarten verwendet: dorisch bei »Et incarnatus« oder mixolydisch bei »Et resurexit«.
Demgegenüber stehen eine Reihe von Brüchen dieser Tradition. Er löst die klare Einteilung in Chöre und Arien auf und macht daraus eine durchkomponierte Fünfsätzigkeit. Er gibt auch den Solisten eine vollständig andere Funktion: Arien gibt es nicht mehr, das Solistenquartett ist manchmal zweiter oder dritter Chor und agiert in nahezu opernhafter Weise. Für mich ist der gravierendste Unterschied, dass er eine strikte musikalische Trennung von Himmel und Erde vornimmt. Aus diesem Spannungsfeld postuliert er als drittes Thema den Frieden.

3) Ist Beethoven ein Neuerer in jeder Hinsicht?

HH: Beethoven hat sich in der Zeit, da er mit der Missa beschäftigt war, sehr stark mit dem »Messias« von Händel befasst. Es gibt Stellen, wo er sogar aus dem »Messias« zitiert. Er ist seiner Zeit in Riesenschritten vorausgegangen und hat Neues geschaffen, hat aber immer dem Tribut gezollt, was seinerzeit schon als Meisterwerk Bestand hatte. Diese Haltung wünschte ich einigen unserer zeitgenössischen Komponisten.

4) Was die Textgenauigkeit anbelangt, ist Beethoven sehr korrekt, kein Wörtchen der seit Jahrhunderten festgelegten Liturgie hat er hinweggenommen oder hinzugefügt. Wie man weiß, hat er sich selbst dem Lateinstudium gewidmet, um alles genau zu verstehen. Dennoch ist die Behandlung des Messtextes sehr unkonventionell. Wo wird das besonders deutlich?

HH: Es wird an zwei Stellen besonders deutlich: einmal im Credo, wo er am Ende das Ritornell des Anfangs wiederholt und auch den Text zurückbringt, der an dieser Stelle sonst nie wiederholt wurde. Im Agnus dei wird es noch mal deutlich, wo die Friedensrufe »Dona nobis pacem« an Stellen stehen, wo sie liturgisch gesehen längst passé sind. Damit und mit Repetitionen von Worten, die ihm besonders wichtig sind, setzt er ganz eigene Gewichtungen. Gleichzeitig macht er Liturgietext unhörbar, beispielsweise an der Stelle im Credo, wo es um den Glauben an die heilige katholische Kirche geht.

5) Halten Sie Beethoven mehr für jemandem, dem die Frage nach möglichst dramatischer Ausgestaltung des Textes mehr interessiert, als die vertonten Glaubensinhalte?

HH: Ich würde nicht sagen, dass Beethoven am Glauben nicht interessiert war. Er ist ein Gottsucher, wie später Gustav Mahler, der sein ganzes Leben auf der Suche ist, aber nicht begreift und daran verzweifelt, warum Gott bestimmte Dinge zulässt. Schon ganz am Anfang wird der Zweifel deutlich, wenn das Kyrie mit einer Pause beginnt und somit eine Instabilität in der Harmonik nach sich zieht. Selbst der Laie kann diese Instabilität spüren. Auf der anderen Seite kommt er am Ende seines Lebens zu der Überzeugung, dass man durch das Leiden zur göttlichen Freude kommen kann. Dies interessiert ihn auch bei der Komposition der Missa. Dennoch bewegen ihn die menschlichen Seiten von Jesus Christus mehr als die theoretische Theologie. Das sieht man ganz deutlich in der Proportionsverteilung. Da, wo es um das Erdendasein von Jesus Christus geht, breitet er sich auffallend aus. Die Doppelnatur von Jesus, nämlich Gottes- und Menschensohn gleichzeitig zu sein, hat er – wie seinen Äußerungen zu entnehmen ist – bezweifelt. Dass er das Zusammentreffen von Himmel und Erde in der Anrufung Jesu Christi im Kyrie doch einmal komponiert, kann ich mir nur durch die drohende Zensur erklären.


6) Das »Ordinarium missae« war nur für den liturgischen Rahmen zulässig, deshalb bezeichnet Beethoven in der Wiener Erstaufführung, die im Kärntnertortheater stattfand, die drei ersten Sätze auch als Hymnen. Das klingt mehr nach einem wirtschaftlichen Trick, ein und dasselbe Werk bei möglichst vielen Gelegenheiten anzubieten. Meinen Sie nicht, dass auch pekuniäre Interessen eine Rolle dabei spielten, dass er das Werk als »Oratorium« verkaufte?

HH: Es gibt bei Beethoven in bezug auf die Missa zwei außermusikalische Interessen: Das eine ist das Streben nach einer Hofkappellmeisterstelle, die ihm Erzherzog Rudolf verschaffen sollte und an die er ihn sogar über chiffrierte Noten erinnerte - wie wir wissen, leider umsonst. Zweitens wollte Beethoven mit der Missa – die ihren endgültigen Namen erst durch das Gemälde von Stieler erhielt - natürlich Geld verdienen. Er preist es überall als sein größtes Werk an und verhandelt, ja pokert gar mit acht Verlagen gleichzeitig, um das bestmögliche Geschäft zu machen.

7) Sie gehen davon aus, dass die Kirche die Vertonung ablehnte, es sind aber mehrere komplette Aufführungen zwischen 1828 und 1840 innerhalb des katholischen Hochamtes nachgewiesen. Danach ist das Werk mehr und mehr in die Konzertsäle gewandert. Ich sehe darin nicht vordergründig die Ablehnung durch die Kirche, sondern die zunehmende finanzielle Unmöglichkeit dieser, das Riesenwerk ohne Eintrittsgelder aufführen zu lassen.

HH: Es ist schon so, dass die katholische Kirche bis heute sehr stark an den überlieferten Formen festhält und diese auch für moderne Kompositionen fordert. Meiner Erinnerung nach gab es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Aufführungen innerhalb eines Hochamtes, aber da will ich mich nicht streiten. Ich gebe auch zu, dass nach der Aufhebung der Klöster durch Napoleon die katholische Kirche ein Großteil ihrer finanziellen und personellen Möglichkeiten, solch ein anspruchsvolles Opus auszuführen, eingebüßt hat. Es bleibt zudem das Problem der geeigneten Größe des Kirchenraums bestehen. Dennoch denke ich, dass die Meinung von Beethovens Atlatus Anton Schindler von vielen und so auch vom katholischen Klerus geteilt wurde: »Vornehmlich dürfen in der Missa die Sätze Agnus und Dona der Gegenstand kaum zu schlichtenden Streites verbleiben, weil er (Beethoven) sich hierbei auf einen Standpunkt gestellt, wohin kein frommes Gemüth so leicht zu folgen vermag.«

8) Auch Sie führen die Missa als Konzert auf, nicht als Gottesdienst – warum?

HH: Es gibt in Dresden keine geeignete Kirche, in der die Missa in originaler Besetzung innerhalb des Gottesdienstes aufgeführt werden könnte. Insofern besteht die Frage nicht.

9) Das »Dona nobis pacem« aus der Missa ist in diesem Jahr Thema des Schülermalwettbewerbs. Was ist an der Bitte um Frieden utopisch?

HH: Beethovens eigene Bemerkung zu Beginn des »Dona nobis« ist schon auffallend: »Bitte um innern und äussern Frieden«. Das hat sicher auch mit seinen Erfahrungen aus dem Jahr 1809 zu tun. Wien wurde damals von Napoleonischen Truppen belagert und Erzherzog Rudolf musste nach Ungarn fliehen. Beethoven konnte akzeptieren, dass der innere Frieden als Folge des Einflusses Gottes beim Menschen eintritt. Der äußere Frieden aber ist permanent bedroht. Das zeigt er an der opernhaftesten Stelle der Missa, im »Dona«, indem die Trompeten von Unheil künden. Er bemüht die Form des Rezitativs für die Solisten – in welcher Messe kam dies jemals vor? - und setzt sie gegen die Angstschreie des Chores.
Er holt die Dramatik der Kriegsereignisse in die Messe hinein, die damit eine ganz aktuelle Komposition wird. Wenn wir uns nun Thomas Morus’ Werk »Utopia« anschauen, gibt es dort eine zentrale Idee: der Ruf nach Frieden - sowohl im Umgang mit Waffen, als auch im Umgang mit Worten, also nach der Frage, wie Menschen miteinander umgehen. Er setzt sich für Gleichberechtigung ein, sowohl was die Geschlechter als auch die Verteilung der Produktionsmittel und Güter anbelangt. Zu Beethovens Zeiten war Frieden keine Erfahrung, sondern eine Utopie, ständig war um ihn herum Krieg. Heute haben wir schon länger als 60 Jahre Frieden in Deutschland, aber die Kriegsschauplätze in Afghanistan, dem Irak oder dem Tschad sind infolge der Mediengeschwindigkeit viel näher an uns herangerückt.
Demnach bleibt Frieden auch für uns eine Utopie.


10) Wie Beurteilen sie die weitaus geringere Beteiligung der Dresdner Schüler an dem Malwettbewerb im Vergleich zum Vorjahr, wo »Finlandia in Farbe« so
große Resonanz fand. Ist das Thema Frieden nicht mehr up to date?

HH: Ich habe zwei Erklärungen: Zum einen ist es sicher weitaus schwieriger, dies Thema bildhaft darzustellen als ein landschaftliches Thema. Das wussten wir aber auch im Voraus. Es gibt auch noch eine ganz praktische Seite, nämlich, dass die Schulen, die im letzten Jahr gewonnen haben, sich sagen: »diesmal gewinnen wir sowieso nicht noch einmal, also machen wir erst gar nicht mit.« Ich finde aber nach wie vor die Themenwahl anhand der Komposition der Missa sehr passend und richtig. Inzwischen ist die Beteiligung im Übrigen auch so gut, dass ich mir keine Sorgen mache.

11) Die Missa solemnis ist ihr Abschlussdirigat, nicht nur der diesjährigen Festspiele, die unter dem Motto »Utopia« standen, sondern am Ende ihrer sechsjährigen Intendanz der Dresdner Musikfestspiele – ein Zufall ?

HH: Nein. Zunächst ist das Thema kein Zufall, auch dass es am Ende meiner Amtszeit steht. Die »Missa solemnis« verkörpert natürlich das Thema in nahezu idealer Weise. Für mich als Dirigent ist die Ausführung dieses Werkes immer noch ein utopischer Gedanke, da man sich seinen Anforderungen höchstens annähern kann.

12) Was verbinden Sie persönlich mit Beethovens Anweisung : Bitte um innern und äussern Frieden.

Wie Sie wissen, bin ich in Dresden in einer Zeit aufgewachsen, da es sich mehr um eine graue Ruinenlandschaft, als um eine Stadt handelte. In diesen Zeiten hat es meiner Empfindung nach mehr inneren Frieden unter den Menschen gegeben als es heute der Fall ist. Die Menschen beschäftigen sich heute nicht mehr mit der Frage nach dem inneren – damit meine ich den zwischenmenschlichen - Frieden, wie sie sich überhaupt nicht um philosophische Fragen scheren. In schweren Zeiten, wie den Nachkriegszeiten, wurden diese Fragen härter und klarer diskutiert. Ich wünsche der Stadt Dresden zum Ende meiner Amtszeit, dass es sich diesem Thema wieder ernsthaft zuwendet.

Das Gespräch führte Henriette Sehmsdorf. Berlin im Januar 2008

ein Fernseh-Interview zur Missa solemnis finden Sie hier

Hartmut Haenchen
Fragen der Aufführungspraxis: Bachs h-Moll-Messe

Wenn die Vermutung stimmt, dass die erste Gesamtaufführung der h-Moll-Messe erst am 12.2.1835 mit nicht weniger als 160 Choristen der Berliner Singakademie unter Carl Friedrich Rungenhagen (bei der Matthäus-Passion waren es sogar 320) stattgefunden hat, dann ist Bachs Utopie einer vollständigen Aufführung seines Werks erst 100 Jahre nach der Entstehung Wirklichkeit geworden – und die Bandbreite »authentischer Besetzungen« sehr groß. Auch Bachs berühmter Antrag zur »wohlbestallten Kirchenmusik« stellt eher ein den Leipziger Umständen geschuldetes Minimalprogramm dar, so dass die dort angegebene kleine Besetzung sicher nicht die Idealbesetzung ist. Die Wahrheit liegt – wie so oft – dazwischen. Man muss in aller Deutlichkeit feststellen: die oftmals gefeierten »authentischen Besetzungen« gibt es nicht: weder war seinerseits der Kammerton einheitlich (und der heute international genormte einheitliche Kammerton für Alte Musik ist somit ohnehin für die Mehrzahl der Werke vollständig stilwidrig), noch waren Stimmbildung und Instrumentalausbildung identisch. Vor allem aber haben wir heute kein »authentisches« Publikum. Unsere Bildung differiert zu der in früheren Zeiten, wir leben mit anderen optischen und akustischen Reizen. Um also den Willen eines Komponisten Alter Musik nachvollziehbar zu machen, braucht es eine Aufführungspraxis auf Grundlage aller zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, die aber entsprechend den Hörmöglichkeiten und -gewohnheiten heutiger Menschen gewissermaßen übersetzt ist.

Dazu gehört vorab, dass – um beim Beispiel der h-Moll-Messe zu bleiben – h-Moll auch als h-Moll gespielt wird; folgte man dem derzeit üblichen Kammerton für Alte Musik wäre dies gis-Moll. Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts aber lebt von der Tonartencharakteristik und den sich daraus ergebenden Gegensätzen. Auch für die Mehrzahl der Menschen ohne absolutes Gehör, richtet sich die Tonartenempfindung unbewusst nach dem vertrauten Kammerton, also jenem Kammerton, mit dem man aufgewachsen ist. Somit ist der heutige Kammerton auch die Grundlage heutiger Musikempfindung.
Ebenso muss die musikalische Architektonik der Ausgangspunkt der Interpretation sein. So z.B. folgt die musikalische Gestaltung des Messeteils »Symbolum Nicenum« (Das Glaubensbekenntnis benannt nach dem Konzilium in Nicaea im Jahre 325) der Symmetrie eines barocken Bauwerkes. Um Symmetrie zu erreichen hat Bach hat bewusst eine Korrektur vorgenommen: Er hat das »Et incarnatus est« aus dem Duett »Et in unum« herausgetrennt um die neun Teile des »Symbolum Nicenum« zu erreichen. Auf jeder Seite des mittleren (fünften) Blocks (»Crucifixus«) in e-Moll (Unterdominante von h-Moll – symbolisch die größte Erniedrigung Christi) stehen vier Teile mit jeweils drei Dur-Teilen und einem Moll-Teil: Wie ein Barockschloss mit drei Flügeln. Selbst die Taktarten sind symmetrisch. In der Mitte stehen die ungeraden Taktarten und an den Seiten die geraden Taktarten. Diese Erkenntnis erschließt dem Interpreten, welche Version der beiden überlieferten Fassungen des Duettes »Et in unum« zu wählen ist, nämlich die spätere, wodurch das »Crucifixus« entsprechend der lutherischen Theologie in das Zentrum der Großform rückt. Erstaunlicherweise sieht selbst die weltweit wissenschaftlich anerkannte Neue Bach-Ausgabe (Herausgeber W. Smend) diesen Zusammenhang nicht, weswegen auch an dieser Stelle auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, jede Ausgabe zu hinterfragen.
Schließlich schärfen die architektonischen Zusammenhänge den Blick für die Tempoverhältnisse: Ein Viertel eines Taktes aus dem 1. Teil wird zur Hälfte eines Taktes im 2. Teil; ein ganzer Takt des 3. Teiles wird zum ganzen Dreiertakt des 4. Teiles, dieser wiederum wird zum Grundschlag der Halben des 5. Satzes und verdoppelt sich zum 6. Satz. Im anderen »barocken Seitenflügel« werden die halben Takte des 6. Satzes zum halben Takt des 7. Satzes und diese markieren wieder zum ganzen Takt des 8. Satzes und halbieren sich schlussendlich zum 9. Satz. In Bachs Zeit war dieses Verfahren unter dem Begriff »integer valorum« bekannt. Der gesamte Verlauf von »Symbolum Nicenum« basiert also trotz unterschiedlichster Charaktere der Einzelsätze auf einem gemeinsamen Tempo-Grundschlag und schafft somit eine übergreifende Großform.
Vom Studium der vielfältigen autografen Quellen und zeitgenössischen Abschriften, von dem unsere Aufführung der h-Moll-Messe gekennzeichnet sein wird, ist auch die vor kurzer Zeit erschienene Partitur von Joshua Rifkin geprägt: In ihr sind sämtliche Zusätze von Carl Philipp Emanuel Bach vor allem im »Symbolum Nicenum« für eine Aufführung in Hamburg 1786 aus dem Partiturautograph wieder beseitigt worden. In ihm hatte Johann Sebastian Bach – erst in spätem Lebensalter – die sämtlich früher entstandenen Teile (1. Missa, 2. Symbolum Nicenum, 3. Sanctus, 4. Osanna, Benedictus, Agnus Dei et Dona nobis pacem) in einer Partitur für eine – in seiner Zeit utopischen – Gesamt-Aufführung zusammengefügt. Dieses Partiturautograph liegt in der in der Berliner Staatsbibliothek und wird derzeit mit einer Röntgenfluoreszenzanalyse der unterschiedlichen Tinten auf die wirklichen Änderungen des Bachsohnes untersucht.
Selbstverständlich sehe ich in der Tilgung der Zusätze von Carl Philipp Emanuel in der Ausgabe von Rifkin zwar eine gute wissenschaftliche Grundlage, nicht aber eine Verbesserung am Werk in jedem Fall. Denn der Sohn hatte ja beim Ausschreiben der Stimmen mitgearbeitet (was Rifkin sehr schön dokumentiert) und hat dabei möglicherweise auch Details direkt von seinem Vater bekommen, die dieser selbst nicht schriftlich festgelegt hatte. Wie schon in der »Johannespassion« differiert auch die von Johann Sebastian niedergeschriebene Partitur der h-Moll-Messe zu den Stimmen. In ihnen finden sich Interpretations-Anweisungen, die über die Partitur hinausgehen, weswegen das Partitur- Manuskript nicht die alleinige Quelle für meine Aufführung sein kann. Zu berücksichtigen sind Details, die hier nicht oder unklar vorhanden sind, beispielsweise die »Inégalité« in den Flöten in »Domine Deus«, wo in der Neuen Bach-Ausgabe auch eine falsche Besetzungsanweisung steht, nämlich nur eine Flöte, an Stelle von »Flauti« (also zwei), oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die falsche Übertragung von Artikulationen im »Et in spiritum sanctum« Insofern ist es zwingend, wichtige Informationen von Carl Philipp Emanuel Bach einzubeziehen. Ich habe deshalb eigenes Aufführungsmaterial vorbereitet, es berücksichtigt die Musizierpraxis der Zeit Bachs und – wo es den Absichten von Vater Bach nicht widerspricht – das Wissen und die Veränderungen des Sohnes mit verwendet.

Aussprache des Lateinischen bei Bach
Immer wieder stellt sich die Frage nach der Aussprache der lateinischen Texte. Ursprünglich hatte jede Gegend in Europa seine eigenen Regeln. Erst im 20. Jahrhundert setzte sich von Italien aus die italienische Aussprache durch. Verstärkt durch viele internationale Aufführungen erfuhr die lateinische Sprache eine phonetische Normierung, die heute auch in der »authentischen Aufführungspraxis« als Regel gilt, was insofern bemerkenswert ist, als ja mit der Einheitlichkeit auch eine Vereinfachung einherging. Beim genauen Hinsehen jedoch lässt die Mehrzahl der Werke erkennen, welchen Aussprache-Regeln der Komponist folgte, die ja in erheblichem Maße das Klangbild der Komposition beeinflusst. (Auch andere, in hohem Maße überlieferten Zeugnisses belegen, welche Aussprachen in den jeweiligen Kirchen üblich waren.) Auch Bach war eindeutig. In der h-Moll-Messe gibt er überwiegend die vierteilige Verteilung des Wortes »e-le-i-son«an. Diese Schreibweise sowie andere Beispiele verlangen eindeutig eine »deutsche« Aussprache, die für den Gesamtklang des Vokalparts große Folgen nach sich zieht.

Vibratofragen
Kernfragen, die heute in vielen Ensembles für alte Musik einseitig behandelt und pauschal betrachtet werden, scheinen zum anerkannten Standard einer »historischen Aufführungspraxis« zu werden. Zu ihnen gehört das durchgängige non-Vibrato-Spiel. Man beruft sich auf Leopold Mozart: »Es gibt schon solche Spieler, die bey ieder Note beständig zittern, als wenn sie das immerwährende Fieber hätten.«
Als Folge des Ausspruchs wird jedes Vibrato verbannt. Dabei bedeutet dieser Satz lediglich, dass man tatsächlich schon zu Zeiten Leopold Mozarts Dauervibrato kannte, welches nach vielen anderen Quellen angeblich erst im 20. Jahrhundert aufgekommen sein soll. Zum anderen bedeutet o.g. Kritik lediglich, dass Leopold Mozart das Vibrato nicht immer für angebracht hält, sondern – zeitlich begrenzt – für eine »Auszierung, die aus der Natur selbst entspringt, und die nicht nur von guten Instrumentisten, sondern auch von geschickten Sängern bey einer langen Note zierlich kann angebracht werden. Die Natur selbst ist der Lehrmeister hiervon.«
Wolfgang Amadeus Mozart bestätigt den Gebrauch des Vibratos bei den Sängern und allen Instrumentalisten: »... die Menschenstimme zittert schon selbst – aber so – in einem solchen grade, dass es schön ist – dass ist die Natur der stimme. Man macht ihrs auch nicht allein auf den blas=instrumenten, sondern auch auf den geigen instrumenten nach – ja so gar auf den Claviern –.«
Ähnliche Argumente finden sich ebenso in Bachs Zeit oder selbst weit davor. So suchte beispielsweise Johann Krüger schon 100 Jahre vor Bach seine Knaben danach aus, ob sie ein gutes Vibrato singen konnten. Diese Forderung nach einem guten, variablen und als Verzierung eingesetztem Vibrato setzt sich bei allen Gesangschulen und den großen Instrumentalschulen fort, da ja das höchste Ziel des Instrumentalspieles war, die Gesangsstimme nachzuahmen.

Bach der komponierende lutherischer Theologe
Trotz der langen Entstehungsgeschichte der h-Moll-Messe, deren Existenz als einheitliches Gesamtwerk lange Zeit angezweifelt wurde, ist für mich das Gesamtwerk und die Notwendigkeit, es als solches aufzuführen, immer stärker hervorgetreten.
Die erste von mir dirigierte Aufführung der Missa (also tatsächlich nur das von Bach so bezeichnete Teil-Werk von »Kyrie« bis »Cum sancto spirito«) stand noch ganz unter der Beweisführung von Friedrich Smend, die ja auch heute noch in der Eigenständigkeit der “Missa« durchaus Berechtigung hat. Inzwischen erschloss sich mir die Bedeutung von »Pleni sunt coeli« und »Osanna« als die musikalischen Bindeglieder für eine von Bach offensichtlich langfristig geplanten großen Zusammenhalt der Einzelteile: Am Ende des »Pleni« steht bereits das »Osanna«- Thema im Bass. Deswegen braucht es auch kein Vorspiel zum »Osanna« (wie in der Parodievorlage BWV 215). Bach nutzt es hier als Nachspiel.
Die Gesamtaufführung einer Messe dieses Ausmaßes musste für den Komponisten in weiter Ferne gerückt bleiben, denn in der lutherischen Kirche gab es keinen Platz für eine solche Komposition, und in der katholischen Kirche wäre damals – wie teilweise heute – eine mit lutherischen Elementen versehene Messe undenkbar. Trotzdem hat Bach die Idee einer Gesamtaufführung durch die Zusammenfügung einzelner Sätze, welche einzeln teilweise auch aufgeführt wurden, an spätere Generationen überliefert.
Interessant ist zunächst zu verfolgen, wie ein Protestant den im Prinzip katholischen Messe-Text für seine Komposition modifiziert und ihm schließlich einen eindeutig protestantischen musikalischen Charakter gibt. Entsprechend der lutherischen Anwendung des Messetextes verändert Bach im »Pleni sunt coeli« »gloria tua« in »ejus« (ersteres wäre in der lutherischen Kirche nur an hohen Festtagen möglich) und die nach der lutherischen Liturgie übliche Abweichung »altissime« im Text des »Domine Fili unigenite, Jesu Christe, altissime« . Wie ein protestantisches Signum beginnt Bach sein Werk mit dem Zitat aus Luthers »Deutsche Messe« von 1525 als Grundlage für sein Kyrie, die Spitzentöne d, e, fis, fis, g, fis, fis des lutherischen »Kyrie« greift Bach wörtlich wieder auf. Auch andere lutherische Liturgie-Formeln verwendet Bach ganz bewusst in seinem musikalischen Material. Die »Credo«- Formel zitiert Bach ganz wörtlich und stellt sogar damit den theologischen Zusammenhang mit dem »Confiteor« her, wo diese Formel ebenfalls verwendet ist.
Man könnte die h-Moll-Messe als die erste große verwirklichte Utopie eines ökumenischen Oratoriums bezeichnen, da Bach katholische Tradition mit lutherischer Erneuerung nahtlos verbindet.

Der trinitarische Gedanke
Trotz – oder gerade wegen – der zahlreichen Parodien erster und zweiter Ordnung in der h-Moll-Messe tritt uns Bach unverhohlen als Theologe entgegen. Nirgendwo ist die trinitarische Theologie (Einheit von Gott-Vater, Christus-Sohn und Heiliger Geist) so verankert und teilweise so verschlüsselt.
Im »Christe eleison« wählt Bach die Form des Duetts, um die zweite Person der Trinität (Sohn) deutlich zu machen. Gleiches gilt für das »Domine Deus« dem aber durch zusätzliche Flöten eine Trio-Besetzung hingefügt ist. Der Hauptrhythmus setzt sich aus drei Noten zusammen, denen eine weitere im Gesamtwert dieser drei vorausgegangenen Noten folgt. Das ist das musikalische Symbol für die Trinität. Das Motiv kommt immer drei Mal hintereinander und das Duett hat 3 Mal 30 Takte. Auch in der Parodie der Kantate BWV 46 »Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei« herrscht die trinitarische Ordnung: Im Tenor steht 3 x 3 x 3 der Text.
»Et in unum« ist theologisch insofern besonders interessant als die 2. Stimme (Christus) aus der 1. Stimme (Gott) hervorgeht, wodurch eine unglaubliche musikalische Allegorie entsteht. Inhaltlich steht das schon in der »Parodie« bei der Kantate »Herkules am Scheidewege« zum Text »Ich bin deine, du bist meine«. Auch hier liegen die Einheit und gleichzeitig Unterschiedlichkeit zweier Personen übereinander. Musikalisch sind sie gleich, nur die Artikulationen sind verschieden. Für den Interpreten ist ein wichtiger Hinweis, mit unterschiedlichen Artikulationen sehr sorgfältig umzugehen und sie nicht, wie heute oft üblich, anzugleichen.
Das »Sanctus« basiert auf dem »dreimal heilig«als Struktur, immer drei Anrufungen .
Aber auch die Instrumentation folgt dem trinitarischen Gedanken. Fünf dreistimmige Klangkörper von Trompeten, Oboen (deswegen ist nur hier eine dritte Oboe nötig), Streicher, 2 x 3 Vokalstimmen und Continuo entspricht 6. Dies symbolisiert die sechs Flügel der Seraphim (sechstimmiger Chor), Pauken in den ersten 6 Takten 6 Schläge bis Takt 3 x 6 x 6.
Im »Crucifixus« erscheint zwölf Mal (3x4) das Chaconne-Thema im Bass. Beim 13. Erscheinen ist das Thema verändert. Die Zahl 13 war die teuflische Zahl und entstand aus der Störung der Zwölf, die das göttliche Gleichgewicht symbolisierte.

Weitere Zahlensymbolik
In unserem heutigen gesellschaftlichen wie kirchlichen Leben spielt die Zahlensymbolik längst nicht mehr die Rolle, wie es zu Bachs Zeiten der Fall war.
Die bewusste Wahrnehmung in Bachs Zeit von dergleichen musikalischen Vorgängen unterscheidet sich also grundsätzlich – wie anderes – zu unserer Zeit. Für den Interpreten aber erschließen das Wissen um diese Grundlagen wichtige Einsichten in die Struktur des Werkes und stützen seinen Interpretationsansatz.
So bezieht z.B. das »Gloria« seinen siebenfach gegliederten Aufbau aus der Symbolzahl 7, die für göttliche Allmacht und Vollkommenheit steht. Gleiches gilt auch für das »Credo«. Es ist im Prinzip ein 7-stimmiger A-cappella-Satz, dessen nicht singbaren hohen Stimmen durch Geigen ersetzt sind. Im ersten Continuo-Takt charakterisiert dazu der Bass mit den sieben Tönen die sieben Schöpfungstage. Selbst die Gesamtzahl 84 der Takte ergibt sich aus der 7 multipliziert mit den 12 Aposteln, die uns das »Credo« überbracht haben. Das »Et incarnatus« besteht aus 7 x 7 Takten – Symbol der Vollendung der Aufgabe Christi auf Erden. Auch die Gesamtzahl der Takte des »Et in spiritum sanctum« mit 144 Takten ergibt sich aus 12 x12. Die 144 ist das Symbol für die »Ecclesia triumphans«, die himmlische Musik also. Das »Agnus Dei« besteht aus 2 mal 22 Takten und bezieht sich damit auf den Psalm 22 »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen«. »Et resurrexit« hat nicht nur die größte Instrumentalmusik (66 Takte) als »Himmelsmusik«, dem jeweils zwei vokale Teile zu je 33 Takten vorausgehen sondern ein wunderbares musikalisches Bild als Thema: Das Hauptthema des Chorsopranes ist spiegelgleich mit der Botschaft: Der Auferstandene ist der Gestorbene.

Tonartensymbolik
In der theoretischen Schrift »Tota Musica et Harmonia Aeterna« (Erfurt 1716) von Johann Heinrich Buttstedt, auch Lehrer des Bruders von Johann Sebastian Bach und von Bachs Freund J.G.Walther wird bestätigt, was wir bei Bach immer wieder finden: der Dur-Dreiklang stellt die göttliche Person Jesu Christi dar und der Moll-Dreiklang die menschliche Person Jesu Christi. Bach hält sich konsequent an diese Grundlage der Tonartenwahl. Oben habe ich bereits die konsequente Tonartenstruktur an Hand des »Symbolum nicenum« dargelegt. Die Titel-Tonart h-Moll und andere Molltonarten heben also in neun Sätzen ausdrücklich die menschliche Seite, das menschliche Sein von Christus hervor . Die göttliche Seite liegt vor allem in der himmlischen Tonart D-Dur; insgesamt 16 Sätze in Dur-Tonarten machen das göttliche Übergewicht der Komposition deutlich. Bach vollbringt im Adagio »Et expecto« das Wunder, in 24 Takten tatsächlich den gesamten Quintenzirkel (24 Tonarten) zu durchschreiten, um die totale Verwandlung des menschlichen Seins durch die Auferstehung musikalisch darzustellen.
Innerhalb dieser Tonartensymbolik verbirgt sich als weitere Besonderheit das Symbol des auf der Seite liegenden Kreuzes (gleichzeitig das x des Anfangbuchstabens von Christus), welches entsteht, wenn man zwischen den thematischen Tönen der Instrumentaleinleitung des »Et incarnatus« cis- d (seitwärts) und ais- h (aufwärts) eine Verbindungslinie zieht.
Die mit den Tonarten verbundene Affektenlehre, die zahlreiche andere musikalische Strukturen einbezieht, macht verständlich, wieso relativ einfach Parodien selbst innerhalb eines solchen Meisterwerkes möglich sind. Die »ewige Herrlichkeit« des Kantatensatzes aus Nr. 120 »Jauchzet ihr erfreuten Stimmen« macht durch den gleichen Affekt eine Verwendung für das »et expecto« mühelos nutzbar wie auch die Form des Concerto grosso a-b-a-b-a des »Cum Sancto Spiritu«. welches seine Urform in der Weihnachts-Kantate Nr. 191 hat. Auf diese Weise ließen sich alle Parodie-Verfahren bei Bach begründen. Auffallend ist auch die Parodie des Chores der Kantate Nr. 12 »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«, der zweifellos den gleichen Affekt von Trauer und Schmerz transportiert, wie das »Cruzifixus«. Hierfür hatte Bach eine musikalische Idee von Antonio Vivaldi aus einem traurigen Liebeslied verarbeitete.
Oft wurde es als Flüchtigkeit oder Eile Bachs interpretiert, dass er für den Schlusschor des Gesamtwerkes eine Parodie 2. Grades verwendet. Auffallend ist jedoch, dass das Wort »pacem« sehr oft wiederholt wird. Es ist eindeutig, dass Bach damit seine Friedens-Utopie extra betont, die Bitte um Frieden wird zum Lobpreis Gottes durch die bewusste Parodie des »Gratias«.

Instrumentation als theologisches Symbol
Blechblasinstrumente standen immer als Symbol für die göttliche Welt. Deswegen ist im »Quoniam tu solus sanctus« auch ein Corno da caccia als Soloinstrument besetzt. In den ersten 2 Takten werden 5 Töne des Hornsolos gespiegelt und binden die Oktave als Sinnbild der Totalität Gottes als Eckpunkte ein. Aus diesem Prinzip erklärt sich auch, warum Blechbläser nicht in den Mollsätzen verwendet werden.
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