Aktuelles

21. März 2008

Hartmut Haenchen ist 65

Zahlreiche Interviews und Zeitungsberichte

dpa
Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf

Hartmut Haenchens 50jähriges Bühnenjubiläum und sein 65. Geburtstag
1) Sie üben eine Profession aus, die mit offiziellem Eintritt ins Rentenalter nicht aufhört. Was bedeutet die Musik und das Dirigieren für Ihr Leben?
Da Dirigieren ein Erfahrungsberuf ist, bin ich trotz genau 50jährigen Bühnenjubiläums noch in der frühen Phase. Ein Eintritt in das Rentnerleben ist also noch nicht vorgesehen, wenn es mir die Gesundheit weiter erlaubt.
Hätte es rückblickend für Sie eine Alternative zum Beruf des Dirigenten gegeben?
Natürlich denkt man über Alternativen nach, aber eigentlich war der Berufswunsch schon mit 14/15 Jahren so deutlich, dass ich ihn unbedingt – und wenn nötig mit Umwegen – erfüllen wollte.
Können Sie mir ein nachhaltiges Erlebnis aus Kindertagen schildern, welches Sie für die Musik begeistert hat?
Das ist natürlich die Welt des Dresdner Kreuzchores mit der Musik von Heinrich Schütz über die großen Oratorien bis zu den zahlreichen Uraufführungen und die prägenden Erfahrungen unter der liebevollen und sehr strengen, sich aufopfernden Leitung von Rudolf Mauersberger.

2) Sie haben in Ihrer Karriere viele Ehrungen und Auszeichnungen erhalten? Welche ist die wichtigste für Sie?
Natürlich sind die zahlreichen internationalen Auszeichnungen – auch jüngste, wie z.B. für die „Ring des Nibelungen“ – Aufnahmen ganz wichtig. Aber die wohl außergewöhnlichsten Auszeichnungen habe ich in den Niederlanden bekommen, wo meine künstlerische Arbeit und eben auch mein Wirken für ein besseres Verständnis zwischen Niederländern und Deutschen durch drei hohe Auszeichnungen geehrt wurde: die Ehrenbürgerwürde von Amsterdam, die Niederländische Nationalität ehrenhalber und als erster Deutscher wurde ich „Ridder in de Orde van de Nederlandse Leeuw“ (im Englischen entspräche das dem Sir-Titel).
Nennen Sie mir bitte ein oder zwei musikalische Sternstunden und vielleicht auch eine Erfahrung, die das ganze Gegenteil davon war?
Verdis Requiem unter Claudia Abbado in Dresden und Beethovens 9. Sinfonie mit den Münchner Philharmonikern, die ich dirigieren durfte.
Das Gegenteil: Mein Dirigat von Beethovens Fidelio an der Staatsoper München im Jahre 1984.

Nennen Sie bitte Ihre musikalischen Vorlieben (Mahler etc.) und vielleicht auch jene Komponisten, die Ihnen nicht so liegen?
Da Musik, auch die wortlose, immer mit Sprache zu tun hat, liegen meine Vorlieben bei Komponisten, deren Sprache ich zumindest etwas verstehe. Stilistisch reicht das von frühem Barock bis zum heutigen Tag. Komponisten welche die emotionale Wirkung von Musik ablehnen, kommen in meinem Repertoire nicht (mehr) vor.

Gibt es bei dem breiten Repertoire, das sie dirigieren, immer noch ein paar weiße Flecken? Welche musikalischen Wünsche (Stücke und eventuell auch musikalische Partner) möchten Sie sich in den kommenden Jahren noch erfüllen?
Ich denke, dass ich die wesentlichen „weißen Flecken“ in den nächsten Jahren noch farbig gestalten kann: Wagners „Lohengrin“ und „Holländer“, Webers „Freischütz“ (geplant in Brüssel und Amsterdam).
Bachs „Matthäuspassion“ steht auch auf dieser Liste. Schönbergs „Moses und Aaron“ steht auch noch auf dieser Wunschliste, da ich in Amsterdam dafür Pierre Boulez gewinnen konnte, habe ich ihm diese Produktion überlassen.
Daneben gibt es natürlich Wünsche, bestimmte Werke noch einmal dirigieren zu dürfen.
Bei den musikalischen Partnern sind viele Wünsche in Erfüllung gegangen und einige Begegnungen würde ich gern oft wiederholen.

Wie lautet Ihr musikalisches Credo?
„Zweifel als Waffe“ heißt das Buch über meine musikalische Arbeit und umschreibt schon im Titel meinen musikalischen Grundansatz wohl sehr treffend.

3) Wir haben im vergangenen Jahr das Jubiläum einer Dirigenten-Generation (Masur, Davis etc.) erleben können. Sie verkörpern bereits die nachfolgende Generation. Wie hat sich das Dirigenten-Dasein im Lauf der Zeit verändert?
Gibt es Dinge, die dabei auf der Strecke geblieben sind und die Sie vermissen?
Ich denke, dass ich ganz bewusst wesentliche Grundsätze der älteren Dirigenten-Generation für mich bewahrt habe, die heute nahezu schon den Charakter einer ausgestorbenen Spezies haben: An einem Platz zu arbeiten, zu formen, aufzubauen und Klangkörper mit eigenem Charakter zu gestalten. 28 Jahre leite ich mein Kammerorchester C.Ph.E. Bach. Nahezu 20 Jahre war ich Chef bzw. Erster Gastdirigent der Niederländischen Oper, der Niederländischen Philharmonie und des Niederländischen Kammerorchesters. Das hat zur Folge, dass ich all die Jahre neben dieser Arbeit wenig gastiert habe und mich deswegen dem üblichen Jet-Set-Trend von 3 bis 4 Chefstellen und zahllosen Gastdirigaten ohne wirkliche Verantwortung entzogen habe.


4) Als gefragter Dirigent leben Sie in einer Situation, bei dem im Terminkalender de facto jeder Tag des Jahres verplant ist. Kommen Sie mit dieser Situation klar. Lähmt das nicht auch Kreativität, wenn man heute schon weiß: Ich bin am 1. Mai 2011 mit Puccini in New York?
Es ist durchaus so, dass ich Ihnen sagen kann, was ich z.B. am 2. Februar 2014 um 10.00 Uhr tun werde oder zumindest geplant habe. Das ist in dem Fach so. Manchmal mache ich mir Sorgen, ob die Gesundheit dies zulassen wird, aber gerade die Langfristigkeit gestattet Projekte in einer Weise vorzubereiten, die oft jahrelanges Studium und Forschung voraussetzen.

5) Sie sind mit Ihrer Karriere ein Weltbürger geworden und trotzdem immer ein bekennender Dresdner geblieben?
Was lieben Sie besonders an der Stadt und was wiederum gefällt Ihnen hier gar nicht?
Ich liebe die einmalige Landschaft, die es – wenn sie denn erhalten wird – kaum in dieser Vielfalt in und um eine Stadt gibt.
Gar nicht liebe ich die erschreckende Kurzsichtigkeit der Politik, die erschreckende Folgen für die Stadt hat und haben wird.

6) Welche Hobbys abseits der Musik hat Hartmut Haenchen?
Die Liebe zu anderen Künsten, Gartenarbeit und einen guten Wein.

7) Wie werden Sie ihren Geburtstag verleben und was wünschen Sie sich selbst für die kommenden Jahre?
Zwischen zwei Vorstellungen von „Parsifal“ an der Opéra National de Paris werde ich meinen Geburtstag mit ein paar (Dresdner) Freunden dort verbringen.
Ich wünsche mir noch viele musikalische Einsichten und natürlich Gesundheit, um diese verwirklichen zu können.

Das Interview führte Jörg Schurig

dpa

"Ich habe mich dem Jet-Set-Trend bewusst entzogen"
Hartmut Haenchen im Gespräch mit dpa

Dresden (dpa) - Dirigent Hartmut Haenchen bekennt sich zu alten Tugenden seiner Zunft. «Ich habe ganz bewusst wesentliche Grundsätze der älteren
Dirigenten-Generation für mich bewahrt, die heute schon den Charakter einer
ausgestorbenen Spezies haben: An einem Platz zu arbeiten, zu formen, aufzubauen und Klangkörper mit eigenem Charakter zu gestalten», sagte Haenchen im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa. Als Beleg führt er seine langjährigen Ämter als Chef der Niederländischen Oper und der Niederländischen Philharmonie an. Seit 1980 bereits leitet er das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach.

«Das hat zur Folge, dass ich all die Jahre neben dieser Arbeit wenig gastiert
habe und mich deswegen dem üblichen Jet-Set-Trend von drei bis vier Chefstellen
und zahllosen Gastdirigaten ohne wirkliche Verantwortung entzogen haben», betonte der Maestro. Dabei empfindet er einen weitreichenden Terminkalender als
hilfreich: «Ich weiß, was ich beispielsweise am 2. Februar 2014 tun werde oder
zumindest geplant habe. Manchmal mache ich mir Sorgen, ob die Gesundheit dies
zulassen wird. Aber gerade die Langfristigkeit gestattet Projekte in einer Weise
vorzubereiten, die oft jahrelanges Studium und Forschung voraussetzen.» Haenchen feiert am 21. März seinen 65. Geburtstag.

Das Pensionsalter sieht er humorvoll nur als Etappe. Da Dirigieren ein
Erfahrungsberuf sei, befinde er sich noch in einer «frühen Phase». «Ein Eintritt
ins Rentnerleben ist also noch nicht vorgesehen.» Obwohl er ein breites
Repertoire vom frühen Barock bis in die Gegenwart dirigiert, will Haenchen noch
manche «weißen Flecken» farbig gestalten. Wagners «Lohengrin» und «Holländer»
sowie Webers «Freischütz» sind in Brüssel und Amsterdam geplant. Auch Bachs
«Matthäuspassion» und «Moses und Aaron» von Schönberg stehen auf der Wunschliste:
«Mit meinen musikalischen Partnern gingen viele Wünsche in Erfüllung, und einige
Begegnungen würde ich gern oft wiederholen.»

Autor: Jörg Schurig, dpa

Dresdner Neueste Nachrichten

Niemand rührt sich
Kerstin Leiße im Gespräch mit Hartmut Haenchen aus Anlass seines 65. Geburtstages

Gerade hat er mit seinem „Parsifal“-Dirigat in Paris großen Erfolg gefeiert, in reichlich einem Monat beginnen die letzten Dresdner Musikfestspiele unter seiner Intendanz. Morgen aber feiert er erst einmal seinen 65. Geburtstag: Hartmut Haenchen. DNN trafen ihn aus diesem Anlass zum Gespräch.

Frage: Hat für Sie die Vollendung des 65. Lebensjahres überhaupt eine Bedeutung?

Hartmut Haenchen: Ich nehme dieses Datum, ehrlich gesagt, nicht wahr, schon gar nicht im Zusammenhang mit meiner Position als Intendant der Musikfestspiele. Denn ich hätte verlängern können, wenn ich gewollt hätte. Das war vertraglich geregelt. Aber: So, wie sich die Situation der Festspiele entwickelt hat, war das für mich Anlass aufzuhören.

Was genau meinen Sie damit?

Ich mache mir sehr große Sorgen. Das betrifft die Musikfestspiele auch, vor allem aber die Jugendarbeit. Dort müsste das Meiste investiert werden, wenn man eine gesellschaftliche Zukunft entwickeln will. Alles, was mit Kultur im weitesten Sinne zu tun hat, ist das einzige Mittel, um Erscheinungen wie Jugendkriminalität verhindern oder aufhalten zu können. Dass man in der Kultur spart und es dann beim Aufsichtspersonal wieder ausgibt – das ist ein Gedankengang, den ich nicht nachvollziehen kann.

Wenn Sie Kulturpolitiker wären, was würden Sie insbesondere für die Jugend tun?

Für mich würde die Schließung oder Reduzierung der Mittel für ein Jugendtheater wie das Dresdner Theater Junge Generation nicht einmal als Gegenstand einer Diskussion in Frage kommen. Ich kenne noch die Zeiten, als im Kulturpalast Schulkonzerte waren. Aber das veränderte sich allmählich so, dass es nicht mehr möglich war, dort 2500 Kinder reinzubringen, die dann auch wirklich zuhören und etwas davon haben. Mir ist klar geworden, dass wir da etwas verloren haben. In Los Angeles z.B. spielt die Jugendarbeit eine ganz andere Rolle, da wird richtig Geld investiert. Aber es betrifft auch genauso die anderen Künste, die Kultur des Umgangs miteinander, wie man sich älteren Menschen gegenüber verhält usw.

Es gibt für Jugendliche Möglichkeiten, z. B. ein Instrument zu lernen, Sport zu treiben, es gibt durchaus auch soziale Unterstützung wie z.B. am Schütz-Konservatorium. Liegt nicht also das Problem nur zum Teil beim Staat und dem, was er tut oder auch nicht? Es ist immer so gewesen, dass sich kulturelle Traditionen vor allem über die Erziehung und das Vorbild der Familien vermittelt haben…

Sie haben Recht, es ist natürlich ein Familienproblem. Wenn ich die letzten 50 Jahre zurückschaue – das ist ja die Generation, die jetzt 30, 40 Jahre jünger ist als ich – dort hat die Sparsamkeit auf diesem Gebiet angefangen. Sicher, die Zeit hat sich verändert, es gibt inzwischen andere Medien, neue technische Möglichkeiten, aber ich sehe nicht, dass dadurch auch geistige Möglichkeiten stärker ausgeschöpft werden.

Wie kann man junge Menschen erreichen, die in ihrem sozialen Umfeld nicht per se das Interesse an Bildung finden?

Das hängt natürlich auch alles mit dem Schulsystem zusammen. Was man früher „humanistische Bildung“ nannte, das ist – bis auf ganz wenige Schulen – eigentlich kaputtgegangen. Ich beobachte das inzwischen auch bei meinen Enkeln, wie meine Tochter in Weimar darum kämpft, dass eine Schule, in der Kinder von der ersten Klasse an ein Musikinstrument erlernen, nicht geschlossen wird. Durch das gemeinsame musikalische Erlebnis, das Aufeinander-Angewiesen-Sein, sind die Lernergebnisse in allen Fächern nachweislich besser als an anderen Schulen. Es ist also bewiesen, dass es geht, aber niemand rührt sich.

Sehen Sie nach fast 20 Jahren Bundesrepublik viele Dinge bewusst anders?

Kann ich eigentlich nicht sagen. Ich bin ja sozusagen ins kalte Wasser gesprungen und von einem Tag auf den anderen mit meinen Kindern in das andere System gegangen. Es sind durchaus Illusionen verlorengegangen, z. B. dass sich Leistung wirklich lohnt. Man muss vielmehr zu einem bestimmten Netzwerk gehören. Leistung setzt sich auch durch, aber viel, viel langsamer.

Wie könnte es Ihrer Meinung nach geschafft werden, den Einigungsprozess zu einem wirklich einigenden Prozess zu machen?

Die Regierung, die wir haben, legt großen Wert auf die Wahrung von Besitzständen, und daher wird es auch die nächsten hundert Jahre so sein, dass das Geld in der anderen Hälfte Deutschlands liegt. Wir leben in einem kapitalistischem System, das immer mehr eine Art Turbokapitalismus wird. Aber es kann nicht ein endloses Wachstum geben. Die Profite steigen, aber das Geld wird leider nicht zurückgeführt in den gesellschaftlichen Kreislauf. Wenn der Staat sich immer weiter aus kulturellen Verpflichtungen herausnimmt, muss man im Gegenzug darüber nachdenken, wie man das Stiftungsrecht und die Steuergesetze verändert, wie man einen viel größeren Anreiz schaffen kann, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen, wie das in Amerika beispielsweise der Fall ist.

Worin sehen Sie die Funktion von Kunst und Kultur?

Auf der einen Seite gibt es Kunst, die konform läuft mit Entwicklungen – da denk ich an „Eventkultur“, so genannte „Highlights“, „Superstars“, es gibt ja da nichts Normales mehr, was einfach gut ist. Aber Kunst ist natürlich auch in der Lage, kritisch zu bleiben, Gegenentwürfe zu bieten... Es geht aber leider meist nicht darum, was gut ist für den, der die Kunst braucht, sondern darum, was an der Börse gehandelt wird. Da kann der Einzelne, außer an seinem eigenen Platz, wenig machen. Er sollte es aber tun. Man sollte seine Meinung äußern in einer Demokratie, auch wenn wir schon so weit sind – und da spreche ich aus eigener Erfahrung –, dass man in einer demokratischen Partei für eine Meinungungsäußerung beschimpft und beleidigt werden kann. Da haben wir auch ein Stück Kultur verloren, und ich wünsche mir, dass man mehr Zivilcourage zeigt.

Ist Dresden mit seinem Konservatismus eine Mauer in der Brandung des vermeintlich progressiven Wachstumsglauben?

Zunächst einmal: Konservatismus ist nicht verwerflich. Ich glaube, dass gutes Neues nur im Zusammenhang mit Altem entstehen kann. Der Konservatismus hat etwas Positives, weil er die Wurzeln bewahrt. Aber die Dresdner haben auch die Neigung, alles immer so zu stutzen, dass es ja nicht anders aussieht, als es immer ausgesehen hat. Und wenn man nur bei der „Wurzelpflege“ bleibt, dann verfault der Baum. Es fehlt an Visionen.

Und wie sind die Amsterdamer?

Es ist natürlich ein Kaufmanns-, ein reisendes Volk mit einer völlig anderen Einstellung zum Reichtum. Den Reichtum sieht man nicht an der Kleidung, nicht an den Autos, sondern da muss man in die Häfen gehen, wo die Yachten liegen. Die reichen Holländer sind auch durchaus Kunstsammler. Aber vom Staat her ist die Gesamtsituation der Kunst in Holland schlechter als in Deutschland. Es herrscht ein kaufmännisches Denken vor, aber es hat sich dort stärker als in Deutschland die bürgerliche Kultur entwickelt, denken Sie nur an das berühmteste, das wirklich beste Konzerthaus der Welt: Das Concertgebouw haben die Bürger gebaut und bezahlt und als es drohte einzustürzen, hat man etwas gemacht, was durchaus etwas mit dem Frauenkirchen-Modell zu vergleichen ist. Man hat 16 Jahre lang auf jede Karte einen Gulden (0,40 €) draufgelegt. Alle haben es bezahlt, der Besuch ist nicht zurückgegangen, bei laufendem Spielbetrieb sind die Pfähle unter dem Gebäude saniert worden.

Könnten Sie sich das für den Kulturpalast vorstellen?

Ja, ich kann mir für Dresden durchaus vorstellen, dass die Bürger auf diese Weise auch ihren Beitrag leisten. Sie werden das nicht allein finanzieren können, aber Dresden braucht einen Konzertsaal. Den Konzertsaal in Amsterdam haben die Bürger sich gebaut. Heute ist das ein Gewinnunternehmen, weil die Sponsoren sich darum reißen, dort Sponsor sein zu dürfen.

Was würden Sie denn Dresden wünschen? Einen neues Konzerthaus oder einen umgebauten Kulturpalast?

Für mich ist beides denkbar. Wünschenswert ist natürlich ein komplett neu gebauter Saal. Aber man kann auch in den Kulturpalast einen Saal hineinsetzen, wenn man denn dieses Gebäude erhalten will, aus welchen Gründen auch immer. Es ist auch ein Stück Dresdner Geschichte. Aber Dresden steht genauso ein neues Konzerthaus zu. Das Entscheidende ist, sich die entsprechenden Experten für die Akustik zu holen. Es kostet vielleicht ein bisschen mehr, aber zahlt sich langfristig hundertprozentig aus. Wir haben in Deutschland schon genügend schlechte moderne Konzertsäle, die viel Geld gekostet haben. Ich hoffe, dass hier nicht wieder an der falschen Stelle gespart wird.

„Utopia“ ist Ihr letzter Jahrgang bei den Musikfestspielen. Ein Abschiedstitel?

Der Gedanke, den ich verwirklichen wollte, die Musikfestspiele nach außen zu öffnen, ist nach kurzer Phase der Verwirklichung eine Utopie geblieben. Mein positives Fazit ist aber, dass ich meinem Nachfolger einen besseren Zustand hinterlassen kann als zu dem Zeitpunkt, da ich beschloss, nicht weiterzumachen. Es ist natürlich auch die Utopie, die sich für mich mit Dresden verbindet. Ich hatte größere Hoffnungen in eine Stadtregierung gesetzt, nicht nur was die Kultur betrifft.

Bleiben Sie Dresden künstlerisch verbunden?

Nein, das denke ich nicht. Meine Planung, nachdem ich nun weiß, dass ich in Dresden nicht gebraucht werde, geht inzwischen bis 2014. Mein Kalender hat sich rasant gefüllt, weil ich mir keine Freiräume für die Festspiele mehr halten muss, und ich will mich im wesentlichen auf ein paar große Städte konzentrieren. Das werden Tokio, Paris, London, Wien, Los Angeles und New York sein, Amsterdam ist sowieso immer dabei.

Sind Sie nur noch ein Reisender?

Ja, aber nicht überallhin, denn ich bin ja immer jemand gewesen, der gern kontinuierlich arbeitet. Deswegen wähle ich (dann) lieber ein paar Städte, wo ich regelmäßig bin... Aber ich schaue mich jetzt auch in anderen Städten um: z.B. ist die Königliche Philharmonie Stockholm auch ein hervorragendes Orchester.

Und der Schwerpunkt liegt bei der Oper?

Ich bin immer noch in der glücklichen Lage, meine Arbeit auf drei Bereiche gleichmäßig verteilen zu können: Sinfoniekonzerte, Kammerorchesterkonzerte, Oper. In der Spielzeit 2009/10 wird es „40 Jahre Kammerorchester C.Ph.E.Bach“ geben. Diese ganz andere Art der Arbeit ist immer sehr wohltuend. Weil da Spitzenmusiker zusammenkommen, die weder aufs Geld noch die Arbeitszeit schauen. Es sind also auch sehr viele Konzerte, nicht nur große Oper...

Gibt es Werke, für die Sie sagen: Jetzt muss es sein...?

Es gibt für mich die Erfüllung, noch einmal den „Ring“ in Amsterdam zu machen. In der Oper sind es eigentlich zwei Stücke: „Tristan“ und „Frau ohne Schatten“. Und im Konzertbereich ist es die „Matthäuspassion“. Das glaubt mir ja keiner, dass ich diese noch nie musiziert habe, nur als Sänger in meinen „Jugendsünderjahren“, aber ich hab sie noch nie dirigiert.

Einige Ihrer Dirigentenkollegen verfassen Autobiografien, haben auch Sie daran gedacht, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?

Eigentlich nicht. Die meisten davon haben für mich auch einen merkwürdigen Beigeschmack. Es gibt ja bereits ein Buch, das über mich geschrieben wurde, das sehr viel Biografisches hat und was auch provisorisch ins Deutsche übersetzt wurde. Ich schreibe keine Autobiografie.

Sie haben in Dresden ein Haus, werden Sie diesen Wohnsitz behalten?

Ja, von dort aus packe ich meine Koffer und da bin ich auch sehr, sehr glücklich.

Und wenn man Sie zum 65. fragt, was Sie sich wünschen, was sagen Sie?

Dass man die jungen Künstler mehr unterstützt. Das würde für die Zukunft unseres Landes und darüber hinaus der wichtigste Beitrag sein.

Sächsische Zeitung

Rastlos auf Entdeckertour
Der Dirigent und Chef der Dresdner Musikfestspiele wird 65 Jahre
Gespräch mit ihm über Jugendwahn, Antrieb und Ehefrauen
Interview mit Bernd Klempnow

Sehr geehrter Herr Haenchen, theoretisch sind Sie ab heute Pensionär. Wie fühlen Sie sich und was machen Sie draus?
Immerhin kann ich am heutigen Tag auch mein 50jähriges Bühnenjubiläum in Paris mit Dresdner Freunden feiern. Der frühere Chefdirigent der Dresdner Philharmonie Herbert Kegel hat zu Recht gesagt: Beim Dirigieren sind es bis zum 50. Jugendsünden. Dem Jugendwahn der Medien zum Trotz kann ich nur bestätigen, dass Dirigieren ein Erfahrungsberuf ist. So gesehen feiere ich heute erst mein 15jähriges Bühnenjubiläum und dann darf ich heute auch nicht den Ruhestand gehen, denn dann wäre meine Lebensarbeitszeit zu kurz.

Was sind Ihre nächsten Projekte?
Die Premiere von „Parsifal“ ist gerade in Paris gewesen. Es folgen natürlich als nächste große Projekte drei große Konzerte zu den Dresdner Musikfestspielen (Eröffnung in der Semperoper, Bachs h-Moll-Messe und Beethovens Missa solemnis als Abschlusskonzert). Danach mehrere Konzerte wieder bei den Münchner Philharmonikern, verschiedene Konzerte zu anderen Festivals, Konzerte in Tokyo, Montreal und in Paris eine weitere Premiere von „Lady Macbeth“ von D. Schostakowitsch. Danach geht es wieder für Konzerte nach Tokyo und Paris, zu Opernproduktionen in London, Amsterdam, Brüssel, New York und wieder Paris und Los Angeles. Dazwischen Konzerte, Tourneen und Aufnahmen mit meinem Kammerorchester C.Ph.E.Bach in Berlin.

Ihr Leben beschreiben Sie als ständiges Lernen - Stillstand wäre Tod. Was treibt Sie? Haben Sie eine Erklärung für dieses Getriebensein?
Interpretation, die sich nicht entwickelt, ist tot. Der Reiz des Neuen – auch im alten Werk – ist der Antrieb. Entdeckerfreude und Neugierde sind Reize, die ich dann hoffentlich auf mein Publikum übertragen kann.

Welchen Anteil hat Ihre Frau, dass Sie so ganz im Dauerstress leben können?
Eine Arbeit, wie ich sie seit 50 Jahren leiste – und davon kennen wir uns 48 Jahre – ist nur mit einer starken Frau an der Seite möglich. Um einen Dirigenten im Privatleben - soweit es überhaupt eines gibt - und im Berufsleben zu ertragen, muss man sehr viel Einsicht, Nachsicht, Übersicht, Geduld und Stehvermögen haben. Dazu kommt bei meiner Frau eine haarscharfe kritische Betrachtung aus großer musikalischer Erfahrung.

Was ist Luxus für Sie?
Zu Hause zu sein, ein paar Stunden kein Telefon und e-Mail bedienen zu müssen, in Ruhe arbeiten zu können und Gespräche mit Kindern und Enkelkindern.

Was regt Sie auf?
Die Kurzsichtigkeit politischer Entscheidungen.

Haben Sie Hobbys oder Leidenschaften, die nicht mit Musik zu tun haben?
Da bleibt wenig Raum: Graphik sammeln, lesen und Gartenarbeit.

Was lesen Sie?
Natürlich immer noch viel Fachliteratur und – wenn irgend möglich die verschiedensten Bücher. Eben auf einem Langstreckenflug von Stephan Heym: Ahasver und Müller-Stahls Hannah und Thomas Mann, Hermann Hesse und gern auch holländische Bücher in der Originalsprache: Fast alles von Harry Mulisch (jetzt „De ontdekking van de Hemel“).

Können Sie Kochen?
Nein, auch das überlasse ich meiner Frau. Bestenfalls mache ich mal ein Shabu-Shabu für Freunde.

Ihr größtes Dresden-Projekt der vergangenen Jahre waren die Musikfestspiele, deren Finanzmittel immer weiter gekürzt worden waren. Wie ist Ihre Bilanz der hiesigen Kulturpolitik?
Die Frage habe ich schon oben beantwortet.

In Dresden scheinen viele nicht einmal die Kultur des Streits zu beherrschen. Wegen der Angriffe von Arnold Vaatz auf Gegner der Waldschlösschen-Brücke sind Sie aus der CDU ausgetreten. Wie waren die Reaktionen auf den Austritt?
Ein böser Brief und sonst nur Zustimmung zu einer klaren Haltung.

Euphorisch waren die Reaktionen auf Ihre genial-kritische "Ring"-Gesamteinspielung. Haben sich die Bayreuther Festspiele daraufhin gemeldet, wie große Zeitungen dringend empfohlen haben?
Die Bayreuther Festspiele haben sich bei mir bereits 1978 für eine „Der fliegende Holländer“ Produktion gemeldet. Berufsverbot und gute Arbeit der Stasi haben das verhindert. Inzwischen gibt es neben Bayreuth auch andere Häuser, an denen man großartigen Wagner machen kann. Nicht zuletzt jetzt hier in Paris.

Wie kommt es, dass Sie fast das gesamte gängige Opernrepertoire dirigiert haben, aber so wichtige in Dresden entstandene oder uraufgeführte Werke wie "Holländer" und "Freischütz" nicht? Was soll in den nächsten Jahren folgen?
Beide genannten Werke sind in der Zukunft in Amsterdam (neben einem weiteren „Ring“und B.A. Zimmermanns „Soldaten“) geplant. Ich mache also nicht nur die Stücke, die ich schon dirigiert habe.

Über 120 Platten und CDs haben Sie eingespielt. Welche sind Ihnen, und warum sind diese Ihnen besonders wichtig?
Zwei stilistisch extrem auseinander liegende Aufnahmen sind meine „Lieblingskinder“:
Die Einspielung der 16 Namens-Sinfonien von Joseph Haydn, die ein qualitativen Höhepunkt bei den Einspielungen meines Kammerorchesters bedeuten und immer gut sind für herrliche musikalische Überraschungen sowie meine zweite „Ring“- Einspielung, weil ich dort auch mein Ideal der Klangbalance einer Opernaufnahme im Rahmen einer Live-Aufnahme weitgehend verwirklichen konnte, die das Orchester nicht als Begleitung hören läßt und den Sängern das Mikro vollständig unrealistisch in den Mund hängt.

In wenigen Tagen beginnt Ihr letzter Jahrgang der Musikfestspiele. Ihr Tipp? Ihre Vorfreude?
Ich freue mich auf einen Jahrgang, der konzeptionell vielleicht noch geschlossener ist, als mancher anderer Jahrgang, der auch unter der Kürze der Vorbereitungszeit gelitten hat. Mein Tipp: Der Tag der Utopien im Hygiene-Museum mit vielen spannenden Projekten, „Singing Joints“ ein Tanzabenteuer, wie wir es vielleicht nur im letzten Jahrgang hatten, Radu Lupu, Andreas Scholl und die Missa solemnis.

Wo und wann kann man Sie hier zu Lande nach den Musikfestspielen erleben?
Wenn Sie mit „hier zu Lande“ Dresden meinen, wird das wohl kaum der Fall sein.
Ich fühle mich dort zu Hause, wo ich gebraucht werde. Das ist eben Paris, London, Tokyo, Los Angeles, Montreal, New York, Amsterdam, Berlin, München, Wien....

Festschrift zum 60. Geburtstag siehe unter "Veröffentlichungen" - Bibliographie - Bücher über Hartmut Haenchen

mdr: Figaros fragen unter:http://www.mdr.de/mediathek/musik/4432618.html
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