Wenn Hartmut Haenchen jetzt seine erste Saison als Intendant der Dresdner Musikfestspiele bestreitet, ist das ein Heimspiel. Der gebürtige Dresdner war Mitglied des Kreuzchors und schlug sich später viele Jahre mit der DDR-Kulturpolitik herum. Über diese Erfahrungen, über seine Jahre in Amsterdam ab 1986 und über das neue Profil des sächsischen Festivals sprach der Dirigent, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feierte, mit Dieter David Scholz.
Herr Haenchen, Sie sind jetzt sechzig Jahre alt geworden, ein fast jugendliches Alter für einen Dirigenten. Wenn Sie Bilanz ziehen würden, was wäre für Sie die "beste", die glücklichste Zeit bisher gewesen?
Ich denke besonders gern an die Jahre bei der Dresdner Philharmonie zurück. Das war keine sehr lange Zeit, ich war dort vier Jahre, aber im Blick zurück war es ein unglaubliches Ereignis. Es war ein Spitzenorchester, das mir als damals blutjungem Dirigenten eine Chance gab. So etwas ist heute nicht selbstverständlich.
Konnten Sie denn in Dresden damals alles verwirklichen, was Sie wollten?
Nein, natürlich nicht. Man war schon sehr eingeschränkt, das Repertoire wurde einem vorgeschrieben, aber das war nie ein Problem für mich. Die Möglichkeit, in diesem Alter auf einer solchen Qualitätsstufe zu arbeiten, war für mich damals das Wichtigste. So etwas gibt es heute gar nicht mehr. Gastierend herumreisen konnte ich damals nicht. Man wurde von der staatlichen Agentur der DDR reglementiert. Deswegen war so ein Heimatorchester umso wichtiger. Und damit komme ich schon zu Amsterdam, meinem zweiten und vielleicht eigentlichen, jedenfalls dauerhafteren "Heimatorchester". Amsterdam war meine bisher glücklichste Zeit, vor allem in den letzten zehn Jahren.
Lassen Sie uns noch einmal zurückgehen in die Zeit vor Dresden. Das war ja nicht ihre erste Station als Dirigent.
Richtig, ich habe in Halle an der Saale angefangen beim Staatlichen Sinfonieorchester Halle. Dort hatte ich von Anfang an große politische Probleme. In der DDR ging es – wie Sie wissen – bei aller Kunst eben nicht nur um Kunst. Mein Problem in Halle hieß Olaf Koch, er war mein Chef. Und an ihm wäre ich fast zugrunde gegangen, gesundheitlich und als Dirigent. Er hat mir Knüppel zwischen die Beine geworfen, wo es nur ging, er versuchte meine Karriere zu knicken. Er hat mir vier politische Prozesse an den Hals gehängt. Das war eine sehr harte Lehrzeit für mich.
Haben die politischen Verhältnisse, wie sie in der DDR herrschten, ihre "große" Karriere wo nicht ver- so doch behindert?
Gewisse Dinge konnte oder durfte man nicht dirigieren. Ich wurde beispielsweise exmatrikuliert, weil ich im Studentenorchester Schönberg aufführte. Ich habe eine Stelle aufgeben müssen, weil ich eine Bach-Motette dirigierte, die ich nicht hätte dirigieren dürfen. Insofern war meine Karriere immer politisch sehr stark beeinflusst, auch behindert. Aber darunter litten wir Musiker ja mehr oder weniger alle. Auf der anderen Seite ist natürlich das Aufwachen in einer Stadt wie Dresden mit ihren Klangkörpern, musikalischen Institutionen und Musiktraditionen ein Glücksfall. Und ich erhielt dort schließlich eine hervorragende musikalische Ausbildung. Deshalb fällt es mir schwer, im Nachhinein alles negativ zu beurteilen. Was ich zu DDR-Zeiten erlebte. Mir ist auch viel Positives widerfahren. Dazu gehört an erster Stelle meine Zeit im Dresdner Kreuzchor. Dort wurde ein musikalisches Fundament gelegt, das in anderer Weise kaum so umfassend hätte gelegt werden können. Die musikalische Bildung reichte ja stilistisch von der Alten Musik über Bach bis zur Moderne. Rudolf Mauersberger war enorm experimentierfreudig und offen. Ganz davon abgesehen, dass er eine beeindruckende Persönlichkeit war, die uns vorlebte: "Krankheit ist Schlamperei". Er war es übrigens, der mir als Erster klar gemacht hat, dass man sich mit den Quellen beschäftigen muss. Das war der Anfang meiner Leidenschaft für die Alte Musik. Deshalb ging ich schon sehr früh in die Sächsische Landesbibliothek und studierte alte Manuskripte und Handschriften. Bis heute sind Primärquellen für mich enorm wichtig, denn der Zweifel an der tradierten Überlieferung nagt permanent an mir.
Nicht zufällig haben Sie ja auch ein Buch mit dem Titel "Zweifel als Waffe" geschrieben.
Das ist kein kulturpolitischer Kampfspruch, sondern das Prinzip meiner Kreativität. Wenn ich am Pult stehe, darf ich natürlich nicht zweifeln. Da muss ich etwas wissen und muss mir sicher sein. Aber sobald ich vom Pult herabsteige, beginnen meine Zweifel schon wieder, und ich beginne mein Tun zu hinterfragen, noch bevor ich an anderen zweifle.
Auch in Sachen Wagner haben Sie Ihre Zweifel, wie Sie ja vor etwa einem Jahr in Leipzig demonstrierten, wo Sie eine "Tristan"-Serie einstudiert und dirigiert hatten, für die Sie Wagners Handschrift mit dem Uraufführungsmaterial aus München und dem Wiener Material verglichen, um die heutige gängige Partitur zu korrigieren. Ist es an der Zeit, einen "neuen" Wagner entdecken?
Ja, unbedingt. Vieles in der Tradition der Wagner-Aufführungspraxis ist einfach falsch, angefangen bei den Instrumenten bis hin zu Tempi, Phrasierungen, Noten und Orchesterbesetzungsfragen, ganz zu schweigen vom Wagnergesang. Wagner hat übrigens einen ganz hohen Stellenwert für mich.
Wie kam es eigentlich, dass Sie in den achtziger Jahren die DDR Richtung Holland verließen, wo Sie dann sechzehn Jahre lang Chef des Nederlands Philharmonisch Orkest waren und Generalmusikdirektor der Amsterdamer Oper?
Auch das hat, wie alles in der DDR, komplizierte politische Hintergründe. Ich hatte beinahe drei Jahre Dirigier- und Reiseverbot. Da kam mir das Kammerorchester "Carl Philipp Emanuel Bach" zu Hilfe, das damals noch "Kammerorchester Musica Nova" hieß. Es wurde ja ursprünglich als Ensemble für die Neue Musik gegründet. Auch da wurden wir von der Politik gegängelt. Wir durften nicht spielen, was wir wollten. Das, was wir spielen durften, wollten wir nicht spielen. Also beschlossen wir auf meinen Vorschlag hin, den Namen und das Repertoire gänzlich zu wechseln, mit Carl Philipp Emanuel Bach als geistigem Zentrum. Und dieses Orchester hat mich zu seinem künstlerischen Leiter gewählt, als ich bei den staatlichen Orchestern und Opernhäusern nicht mehr auftreten durfte.
Wie kam es denn zu diesem Dissens mit den "Kultur-Oberen" der DDR?
Da sind mehrere Dinge zusammengekommen. Ich war Chefdirigent in Schwerin. An sich ein Idealfall, nach Dresden in einer Chefposition an ein solches Haus zu kommen, das ein großes, traditionsreiches Orchester besitzt. Dort konnte ich meinen ersten "Parsifal" dirigieren, was übrigens auch politisch sehr schwierig war. Das war der dritte "Parsifal" überhaupt zu DDR-Zeiten. Es kam zu großen Auseinandersetzungen mit dem Intendanten und der Parteiteilung, weil ich mich geweigert hatte, gewisse Parteiveranstaltungen zu dirigieren. Bei irgendeinem der vielen Festtage, die die DDR hatte, kam es zum Eklat. Es sollte der Schlusschor mit dem Lenin-Text aus Schostakowitschs zweiter Symphonie aufgeführt werden. Ich habe erklärt, natürlich werde ich diesen Schlusschor dirigieren, aber nur im Zusammenhang mit der ganzen Symphonie. Die zwischen der Zwölftönigkeit und der Plakativität des Schlusschores verborgene Absicht Schostakowitschs sollte nicht vertuscht werden. Daraufhin hat mir die Bezirksparteileitung klipp und klar erklärt, ich habe als staatlicher Leiter des Orchesters zu tun, was sie verlange, oder meine Position zu verlassen. Ich habe mich in meiner damaligen Naivität für Letzteres entschieden, denn ich hatte bereits für die kommende Spielzeit einen Vertrag als musikalischer Leiter der Komischen Oper in Berlin in der Tasche. Ich wurde dann ins Kulturministerium in Berlin einbestellt, zu dem damaligen Minister, Herrn Dr. Rackwitz. Der teilte mir kurz und bündig mit, dass mein Vertrag mit der Komischen Oper null und nichtig sei, obwohl er unterschrieben war. Er wisse zwar nicht, wer den vakanten Posten des Intendanten der Komischen Oper bekommen würde, aber gewiss würde niemand in diesem Amt mit einem politisch so unreifen Dirigenten wie mir zusammenarbeiten. Wenige Zeit später erfuhr ich, dass Herr Dr. Rackwitz Intendant der Komischen Oper geworden sei. In dem juristischen Streit, der dann folgte, ging es natürlich um Fragen einer Auszahlung, aber mir ging es nicht um Geld, sondern ums Dirigieren. Ich wollte Arbeit. So kam es, dass ich dann an der Komischen Oper immerhin gastweise dirigieren durfte. Ich sollte die Einstudierung und die Leitung des "Lear" von Aribert Reimann übernehmen. Die Partei hatte wohl nicht damit gerechnet, dass mir das zu meinem internationalen Durchbruch verhelfen würde. Die Angebote durfte ich natürlich nicht annehmen, ich hatte damals eine Reisesperre. Erst als der "Lear" auf Gastspielreise gehen sollte, durfte auch ich wieder ins westliche Ausland reisen. Man musste mich reisen lassen, denn ich war der Einzige in der DDR, der dieses Stück dirigieren konnte. Ich hatte die Möglichkeit, im Westen zu bleiben, aber ich hätte Haus und Familie zurücklassen müssen. Das war ausgeschlossen für mich, und ich wollte mich auch in meiner Heimat durchbeißen, denn ich fühlte, dass es dort ein Publikum gab, das aufgeschlossen war für die politischen Botschaften der Musik. Das war nicht leicht. Es gab Jahre, in denen hatte ich für eine fünfköpfige Familie fünfzig Ost-Mark pro Woche zur Verfügung. Aber dann kamen doch innerhalb der DDR permanent Anfragen auch für Chefdirigentenpositionen, beispielsweise von der Leipziger Oper. Die Vertragsverhandlungen wurden natürlich im letzten Moment immer wieder von Seiten der Parteioberen unterbunden. Aber man war im ganzen Lande auf mich aufmerksam geworden. Dennoch musste ich resigniert feststellen, dass ich in der DDR keine Chance hatte, jemals wieder eine Chefposition zu bekommen. Da kam das Angebot aus Amsterdam, zunächst Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und kurze Zeit später Chefdirigent der Oper werden zu können. Da es ein Kulturabkommen der DDR mit Amsterdam gab und zu dieser Zeit Hans Vonk nach Dresden ging, hat die holländische Regierung bei einem Besuch Erich Honeckers meinen Fall auf höchster Ebene dringlich angesprochen. Nach vielen Schwierigkeiten, die sich über zwei Jahre hinzogen, gestattete man mir schließlich offiziell die Ausreise, und ich konnte das Amsterdamer Angebot annehmen.
Nun sind Sie mit sechzig Jahren nach Dresden, zum Ort Ihres Ursprungs zurückgekehrt. Hat das etwas mit Ihrem Alter und mit Heimweh zu tun?
Nein. Ich bin ja in ein Land zurückgekehrt, das ich nicht wiedererkenne. Die Situation in Dresden ist heute eine vollständig andere als damals. Und in diesem Zwiespalt befinde ich mich tagtäglich in meiner Funktion als Intendant der Dresdner Musikfestspiele. Ich bin allerdings auch immer noch mit einem Bein in Amsterdam, denn ich habe nicht zuletzt im Hinblick auf den "Ring", meinen Vertrag an der Amsterdamer Oper bis 2006 verlängert. Dieses permanente Umschalten und Umdenken von der deutschen Residenzstadt zur holländischen Weltstadt ist nicht leicht.
Was hat Sie bewogen, die Leitung der Dresdner Musikfestspiele zu übernehmen?
Ich habe mich nie darum beworben. Die Stadt Dresden hat bei mir angefragt. Ganz spontan habe ich erst mal Nein gesagt, weil ich mich primär als Dirigent verstehe. In einem zweiten Anlauf hat mir die Stadt Dresden goldene Brücken gebaut, indem sie mir versicherte, sie wolle mich auch als Dirigent, und ich begann das Angebot ernsthaft zu überdenken und ein programmatisches Konzept zu entwickeln.
Was hat Sie veranlasst, mit so einem Mammutprogramm "Wagner & Wolf" zu starten?
Für mich war von Anfang an klar, dass Dresden in seiner kulturellen Nabelschau ein Konzept benötigt, das die Innenschau auch mit dem Außen, dem weniger Vertrauten konfrontiert, Dresdner Tradition mit Auswärtigem. Die kleinen Jubiläen von Richard Wagner, der in gewissem Sinne ein Dresdner ist, und einem Wagnerianer wie Hugo Wolf, der in Dresden überhaupt keine Rolle spielt, boten sich für mich an, um beispielhaft diese Kombination von Innen und Außen zu demonstrieren. In jedem Jahr soll ein anderes Thema das Erscheinungsbild der Musikfestspiele bestimmen. Die Themen der nächsten Jahre sehen übrigens ganz anders aus, es sind nicht immer Komponistenpaare, die den konzeptionellen Rahmen abstecken. Die Dresdner sind sehr konservativ, ohne das traditionelle Repertoire kommt man in Dresden nicht weit. Aber ich möchte den Dresdnern auch andere Städte, Kulturen und Komponisten nahe bringen. Nun habe ich mich auch bemüht, auch ein zufälliges Laufpublikum anzusprechen, indem ich die traditionellen Aufführungsorte erweiterte um bisher nicht genutzte, indem wir auf Wiesen gehen, offene Formen von Programmangeboten machen, Gesprächskonzerte, ohne deshalb die traditionellen Formen zu zerbrechen. Ich möchte ein neues Publikum heranziehen, ohne das alte zu verlieren.
Was kommt in den nächsten Jahren?
Im nächsten Jahr wird das Thema "Märchen, Mythen, Sagen, Legenden" die Festspiele bestimmen, als europäische Hauptstadt wird Paris zu Gast sein. 2005 heißt das Thema "Lust am Fremden" mit der Gaststadt Lissabon. 2006 wird das Thema "Glauben" heißen, mit der Gaststadt Rom. 2007 stehen "Landschaften" auf dem Programm. Die Gaststadt heißt Helsinki. Die Planung für mein nach bisherigem Vertrag letztes Jahr, 2008, ist noch nicht abgeschlossen. Der tägliche Kampf ums Geld ist sehr zermürbend. Wenn ich meinen Etat mit dem von vor zehn Jahren vergleiche, dann habe ich jetzt etwas mehr als ein Viertel dessen zur Verfügung. Nach der Wende wurde sehr optimistisch ein Etat von fast zwanzig Millionen veranschlagt. Es gab dann drastische Kürzungen, auch im Personalbereich. Und es drohen weitere. Wir stemmen jetzt unser großes Programm mit acht Mitarbeitern, vor zehn Jahren gab es mal zwanzig Mitarbeiter. Dabei haben wir jetzt die doppelte Zahl von Veranstaltungen. Ich lebe an der Schmerzgrenze. Die Stadt Dresden hat Finanzprobleme, zugegeben, aber nicht nur seit der Flutkatastrophe. Das sind strukturelle Probleme. Die Stadtväter sollten sich bei jedem neuen Sparvorhaben erinnern, wie tot Dresden nach der Flut war, weil die Kultur nicht mehr funktionierte und niemand mehr nach Dresden kam. Die Kulturstadt Dresden sollte sich bewusst sein, dass die Kultur das größte Pfund ist, mit dem sie wuchern kann. Eine jüngste Studie belegt, dass man mit jedem Euro Subvention 1,16 Euro verdient. Kultur ist ein gutes Geschäft, aber das sehen leider die Politiker in Dresden nicht.