1) Ausgehend von Ihrer musikalischen Doppelausbildung als Dirigent und Sänger, würden Sie die Meinung teilen, dass es in Salomé zwei Orchester gibt, eines für Salomé und eines für Jochanaan ?
Ich sehe nicht zwei verschiedene Orchester, sondern einen Klangkörper, der – wie bei Strauss üblich – ganz entsprechend der Situation des Dramas eingesetzt wird. Also zwei Seiten einer Medaille.
Ich habe als in Dresden geborener und langjährig an der Semperoper und mit der Staatskapelle arbeitender Dirigent (z.B. dort habe ich die erste Elektra-Premiere nach der Wiedereröffnung dirigiert) die Möglichkeiten gehabt, das Salome-Stimmen-Material und die Partitur (Nr. 2) der Uraufführung studieren können. So sind die Aufzeichnungen von Ernst Schuch und Richard Strauss, der selbst fünf Vorstellungen in Dresden dirigierte, in der Partitur und in den Stimmen dokumentiert und bedeuten doch teilweise große Veränderungen gegenüber der gedruckten Partitur.
Diese Erfahrungen werde ich in einem eigenem Orchestermaterial mit nach Paris bringen. Die Aufzeichnungen von Schuch und Strauss unterstreichen zwei Dinge für Salome und Jochanaan: Der scheinbar überladene Orchesterpart von Salome muss leicht und durchsichtig interpretiert werden. Erst ganz kurz vor Schluss, nach Salomes letztem Satz „Ich habe ihn geküsst deinen Mund“ entlädt sich die ganze Kraft des Orchesters. Strauss wollte einen Klang zwischen gefährlichem Kinderspiel und unkontrollierter Erotik, der sich in einer sehr aufgespaltenen Partitur ausdrückt. Aber auch Joachanaan ist nicht der schwere Held. Mit mehr homophon unterlegten Gesangspart wird – bis auf wenige Momente der Unsicherheit – seine Sicherheit des Glaubens ausgedrückt und bei seinen Unsicherheiten damit überspielt.
2) Könnten Sie beschreiben, wie Strauss das Zwitterspiel aus Anziehung und Ablehnung zwischen Salomé und Jochanaan musikalisch übersetzt ?
In gewisser Weise habe ich diese Frage für Joachanaan schon etwas beantwortet. Jochanaans Musik wird vor allem von Blechbläsern, den meist homophon geführten Hörnern dominiert.
Wenn er Salome erstmals sieht „Wer ist dies Weib, das mich ansieht“ bleiben zwar die Bläserakkorde, die Verunsicherung und Verwirrung Jochanaans ist aber deutlich an einem synkopierenden Walzer im pizzikato der zweiten Violinen zu hören, die mit den Oboen gedoppelt sind und das ganze, scheinbar sichere innere Gebäude Jochanaans ins Wanken bringen. Dieses Wanken bleibt in der Chromatik der tiefen Streicher im weiteren Verlauf der Begegnung mit Salome erhalten. Erst wenn er von Jesus spricht gewinnt er seine Festigkeit zurück. Unterschwellig bleibt aber fast unhörbar der Walzerrhythmus. Der Walzer tritt dann in Salomes Tanz deutlich in den Vordergrund.
Salomes Verführungskünste äußern sich in flirrenden hohe Streichern und Holzbläsern, in Geigensoli, vielfach geteilten Streichern,
Beide verbindet eine wortausdeutende, fast naturalistische Musik.
So wie Jochanaan mit dem Walzer der Salome musikalisch als „verwirrbar“ gezeichnet wird, so ist Salome von Jochanaan fasziniert und seine Motivik wird in Salomes Musik aufgenommen. Sie schwankt zwischen der Süße der Hoffnung und dem dissonanten Hass des unerfüllten Wunsches. Dieser wiederum ist nur möglich, wenn es vorher eine große Liebe gab. (In Elektra zeichnet Strauss sogar die Verwandtschaft von Hass-Motiv und Kindesliebe Motiv).
3) Salomé gehört zum Genre der Literaturopern. Wie ordnen Sie, der Sie unter anderem auch als Autor arbeiten - zum Beispiel einer fiktiven Korrespondenz von Gustav Mahler -, das Werk in diesem Kontext ein?
Das Genre der Literaturoper kam um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert auf. Salome, Pelléas et Mélisande, Ariane et Barbe-bleu, Elektra und daraus entwickelt sich die Zusammenarbeit mit Literaten wie Hugo von Hoffmansthal und daraus ergibt sich eine Vermischung der Gattungen zwischen Libretto-Oper und Literaturoper, denn es wird eine Zusammenarbeit und keine reine Übernahme. Das deutet sich bei Salome schon an, denn Strauss übernimmt nicht den vorliegenden literarischen Text von Wilde. Er kürzt das Libretto nahezu um die Hälfte und legt damit auch in der Figurenzeichnung andere Akzente.
In gewisser Weise ist bei ihm Salome das Gegenteil von Elektra:
Elektra wird ein Tier aus Menschlichkeit, handelt unmoralisch aus moralischen Gründen und verleugnet ihre Fraulichkeit aus Gründen der Fraulichkeit.
Bei Salome ist eigentlich alles genau entgegengesetzt.
Wenn Sie in diesem Zusammenhang meine 14 Mahler-Bücher und zahlreiche andere Veröffentlichungen zur Aufführungspraxis und mein Wagner-Buch ansprechen:
Ich sehe meine Bücher sicher nicht als Literatur. Sie sind das Ergebnis der Vorstudien für meine Interpretationen, die ein weites Umfeld der Entstehung der Kompositionen, die ich dirigiere mit einbeziehen. Im Falle der „Fiktiven Briefe“ von Gustav Mahler an einen Freund, die anlässlich meines Mahler-Zyklus im Amsterdamer Concertgebouw entstanden, handelt es sich um fiktive Briefe, die auf der Grundlage von Dokumenten und meiner Studien sozusagen als Einführung für die Werke entstanden.
Letztlich muss aber beim Dirigenten sich alle wissenschaftliche Vorbereitung am Abend wieder in Emotion umsetzen. Nur diese ist direkt für den Hörer wahrnehmbar und darum geht es schließlich.
4) Nach Salomé und vor Capriccio (in der nächsten Saison) werden Sie ein Konzert mit den Kindertotenliedern dirigieren, in dem wiederum die Stimme im Vordergrund steht. Könnten Sie die Auswahl Ihres Konzertprogramms etwas erläutern?
Zwei Werke, die kurz vor dem Tode des kurzen Lebens von Schubert und Mozart geschrieben wurden umrahmen ein Werk über den Tod eines Kindes von Gustav Mahler. Dieses Werk schrieb Mahler, als seine Tochter sich noch bester Gesundheit erfreute. Er hatte aber immer Visionen vom Leben und vom Tod, seiner eigenen Zukunft. In einem seiner „Fiktiven Briefe« lasse ich ihn schreiben: „Und wenn einer gut zu lesen verstünde, müßte ihm in der Tat mein Leben in meinen Kompositionen durchsichtig erscheinen. So sehr ist bei mir Schaffen und Erleben verknüpft, daß, wenn mir mein Dasein fortan ruhig wie ein Wiesenbach dahinflösse, ich, dünkt mich, nichts Rechtes mehr machen könnte.
Von wo kommen wir? Wohin führt unser Weg? Habe ich wirklich, wie Schopenhauer meint, dies Leben gewollt, bevor ich noch gezeugt war? Warum glaube ich frei zu sein und bin doch in meinen Charakter gezwängt wie in ein Gefängnis? Was ist der Zweck der Mühe und des Leides? Wie verstehe ich die Grausamkeit und Bosheit in der Schöpfung eines gütigen Gottes? Wird der Sinn des Lebens durch den Tod endlich enthüllt werden? Das "Wozu" bleibt die quälende Grundfrage meiner Seele. Aus ihr entsprangen die stärksten seelischen Impulse zu meinem Schaffen, jedes meiner Werke ist ein neuer Versuch zu einer Antwort. »
Diese Worte erklären im Grunde auch die beiden Sinfonien von Schubert und Mozart, die auf andere Weise die Frage nach Leben und Tod behandeln.