1) Sie üben eine Profession aus, die mit offiziellem Eintritt ins Rentenalter nicht aufhört. Was bedeutet die Musik und das Dirigieren für Ihr Leben?
Da Dirigieren ein Erfahrungsberuf ist, bin ich trotz genau 50jährigen Bühnenjubiläums noch in der frühen Phase. Ein Eintritt in das Rentnerleben ist also noch nicht vorgesehen, wenn es mir die Gesundheit weiter erlaubt.
Hätte es rückblickend für Sie eine Alternative zum Beruf des Dirigenten gegeben?
Natürlich denkt man über Alternativen nach, aber eigentlich war der Berufswunsch schon mit 14/15 Jahren so deutlich, dass ich ihn unbedingt – und wenn nötig mit Umwegen – erfüllen wollte.
Können Sie mir ein nachhaltiges Erlebnis aus Kindertagen schildern, welches Sie für die Musik begeistert hat?
Das ist natürlich die Welt des Dresdner Kreuzchores mit der Musik von Heinrich Schütz über die großen Oratorien bis zu den zahlreichen Uraufführungen und die prägenden Erfahrungen unter der liebevollen und sehr strengen, sich aufopfernden Leitung von Rudolf Mauersberger.
2) Sie haben in Ihrer Karriere viele Ehrungen und Auszeichnungen erhalten? Welche ist die wichtigste für Sie?
Natürlich sind die zahlreichen internationalen Auszeichnungen – auch jüngste, wie z.B. für die „Ring des Nibelungen“ – Aufnahmen ganz wichtig. Aber die wohl außergewöhnlichsten Auszeichnungen habe ich in den Niederlanden bekommen, wo meine künstlerische Arbeit und eben auch mein Wirken für ein besseres Verständnis zwischen Niederländern und Deutschen durch drei hohe Auszeichnungen geehrt wurde: die Ehrenbürgerwürde von Amsterdam, die Niederländische Nationalität ehrenhalber und als erster Deutscher wurde ich „Ridder in de Orde van de Nederlandse Leeuw“ (im Englischen entspräche das dem Sir-Titel).
Nennen Sie mir bitte ein oder zwei musikalische Sternstunden und vielleicht auch eine Erfahrung, die das ganze Gegenteil davon war?
Verdis Requiem unter Claudia Abbado in Dresden und Beethovens 9. Sinfonie mit den Münchner Philharmonikern, die ich dirigieren durfte.
Das Gegenteil: Mein Dirigat von Beethovens Fidelio an der Staatsoper München im Jahre 1984.
Nennen Sie bitte Ihre musikalischen Vorlieben (Mahler etc.) und vielleicht auch jene Komponisten, die Ihnen nicht so liegen?
Da Musik, auch die wortlose, immer mit Sprache zu tun hat, liegen meine Vorlieben bei Komponisten, deren Sprache ich zumindest etwas verstehe. Stilistisch reicht das von frühem Barock bis zum heutigen Tag. Komponisten welche die emotionale Wirkung von Musik ablehnen, kommen in meinem Repertoire nicht (mehr) vor.
Gibt es bei dem breiten Repertoire, das sie dirigieren, immer noch ein paar weiße Flecken? Welche musikalischen Wünsche (Stücke und eventuell auch musikalische Partner) möchten Sie sich in den kommenden Jahren noch erfüllen?
Ich denke, dass ich die wesentlichen „weißen Flecken“ in den nächsten Jahren noch farbig gestalten kann: Wagners „Lohengrin“ und „Holländer“, Webers „Freischütz“ (geplant in Brüssel und Amsterdam).
Bachs „Matthäuspassion“ steht auch auf dieser Liste. Schönbergs „Moses und Aaron“ steht auch noch auf dieser Wunschliste, da ich in Amsterdam dafür Pierre Boulez gewinnen konnte, habe ich ihm diese Produktion überlassen.
Daneben gibt es natürlich Wünsche, bestimmte Werke noch einmal dirigieren zu dürfen.
Bei den musikalischen Partnern sind viele Wünsche in Erfüllung gegangen und einige Begegnungen würde ich gern oft wiederholen.
Wie lautet Ihr musikalisches Credo?
„Zweifel als Waffe“ heißt das Buch über meine musikalische Arbeit und umschreibt schon im Titel meinen musikalischen Grundansatz wohl sehr treffend.
3) Wir haben im vergangenen Jahr das Jubiläum einer Dirigenten-Generation (Masur, Davis etc.) erleben können. Sie verkörpern bereits die nachfolgende Generation. Wie hat sich das Dirigenten-Dasein im Lauf der Zeit verändert?
Gibt es Dinge, die dabei auf der Strecke geblieben sind und die Sie vermissen?
Ich denke, dass ich ganz bewusst wesentliche Grundsätze der älteren Dirigenten-Generation für mich bewahrt habe, die heute nahezu schon den Charakter einer ausgestorbenen Spezies haben: An einem Platz zu arbeiten, zu formen, aufzubauen und Klangkörper mit eigenem Charakter zu gestalten. 28 Jahre leite ich mein Kammerorchester C.Ph.E. Bach. Nahezu 20 Jahre war ich Chef bzw. Erster Gastdirigent der Niederländischen Oper, der Niederländischen Philharmonie und des Niederländischen Kammerorchesters. Das hat zur Folge, dass ich all die Jahre neben dieser Arbeit wenig gastiert habe und mich deswegen dem üblichen Jet-Set-Trend von 3 bis 4 Chefstellen und zahllosen Gastdirigaten ohne wirkliche Verantwortung entzogen habe.
4) Als gefragter Dirigent leben Sie in einer Situation, bei dem im Terminkalender de facto jeder Tag des Jahres verplant ist. Kommen Sie mit dieser Situation klar. Lähmt das nicht auch Kreativität, wenn man heute schon weiß: Ich bin am 1. Mai 2011 mit Puccini in New York?
Es ist durchaus so, dass ich Ihnen sagen kann, was ich z.B. am 2. Februar 2014 um 10.00 Uhr tun werde oder zumindest geplant habe. Das ist in dem Fach so. Manchmal mache ich mir Sorgen, ob die Gesundheit dies zulassen wird, aber gerade die Langfristigkeit gestattet Projekte in einer Weise vorzubereiten, die oft jahrelanges Studium und Forschung voraussetzen.
5) Sie sind mit Ihrer Karriere ein Weltbürger geworden und trotzdem immer ein bekennender Dresdner geblieben?
Was lieben Sie besonders an der Stadt und was wiederum gefällt Ihnen hier gar nicht?
Ich liebe die einmalige Landschaft, die es – wenn sie denn erhalten wird – kaum in dieser Vielfalt in und um eine Stadt gibt.
Gar nicht liebe ich die erschreckende Kurzsichtigkeit der Politik, die erschreckende Folgen für die Stadt hat und haben wird.
6) Welche Hobbys abseits der Musik hat Hartmut Haenchen?
Die Liebe zu anderen Künsten, Gartenarbeit und einen guten Wein.
7) Wie werden Sie ihren Geburtstag verleben und was wünschen Sie sich selbst für die kommenden Jahre?
Zwischen zwei Vorstellungen von „Parsifal“ an der Opéra National de Paris werde ich meinen Geburtstag mit ein paar (Dresdner) Freunden dort verbringen.
Ich wünsche mir noch viele musikalische Einsichten und natürlich Gesundheit, um diese verwirklichen zu können.
Das Interview führte Jörg Schurig