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28. February 2013 · OPERNWELT

Es hat sich für die Kunst gelohnt

Was nicht in den Noten steht - Titel-Interview der OPERNWELT mit Stephan Mösch

«Musik erschöpft sich nicht in Tempo und Dynamik»

In diesem März wird Hartmut Haenchen 70 Jahre alt. Gebucht ist er bis 2017 in aller Welt – nur nicht in Deutschland. Ein Dirigent, der sich oft jahrelang auf ein neues Werk vorbereitet – wissenschaftlich-philologische Details inbegriffen. Einer, für den angemessene Probenbedingungen zur Sache selbst gehören. Einer, dem die Musik wichtiger ist als die Karriere. Haenchens Deutungen von Mozart, Wagner und Strauss gelten als exemplarisch. Für die Moderne zwischen Reimanns Lear und Zimmermanns Soldaten hat er sich lebenslang eingesetzt. Und mit seinem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach hat er über 50 CDs aufgenommen. Hartmut Haenchen bereitet sich oft jahrelang auf ein neues Werk vor – wissenschaftlich-philologische Details inbegriffen.

Sie werden jetzt siebzig, kamen als Dirigent erst spät ins internationale Geschäft und haben nach dem Weg über Halle, Zwickau und Dresden Ihre erste Chefposition in Schwerin gehabt. Die Tendenz geht heute in die ­andere Richtung: Nicht einmal der Posten des Ersten Kapellmeisters an großen Häusern ist wirklich begehrt. Junge Dirigenten wollen sofort Chefs werden, und wer mit dreißig keine berühmten Orchester geleitet hat, bekommt eine Krise. Hat gutes Dirigieren mit Reife zu tun?

 

Es gibt heute zweifellos sehr gute junge Dirigenten. Ich frage mich nur, wie sie mit sechzig oder siebzig Jahren dirigieren. Sind sie dann besser? Können sie einen Reifeprozess durchleben, wenn sie so hoch einsteigen? Ich würde von mir behaupten, dass ich im Laufe der Jahre besser geworden bin. Als sehr junger Mensch habe ich zum Beispiel den Fehler gemacht, Fidelio anzunehmen; in München war das, zu Wolfgang Sawallischs Zeiten. Darüber ärgere ich mich heute noch. Das Stück ist mörderisch schwer! In zwei Jahren werde ich es – nachdem ich es nie mehr dirigiert habe – in Madrid noch mal machen. Ein Herzenswunsch von mir. Bei Beethovens Missa solemnis habe ich immer gesagt: Ich dirigiere das nicht, bevor ich damit wirklich etwas zu sagen habe. Mit 62 Jahren habe ich es dann gewagt. Und auch die Eroica habe ich rausgeschoben, weil man sie so oft schlecht hört. Da war ich 55, beim ersten Mal. Was die sogenannte Karriere betrifft: Meine beiden Positionen in Amsterdam habe ich so ernst genommen, dass die jährliche Präsenz 42 Wochen betrug! Es ging mir wirklich um den Aufbau. Ich glaube sagen zu können, dass es sich für die Kunst gelohnt hat: Mit den heute vielfach üblichen Acht- oder Zwölf-Wochen-Verträgen wäre das unmöglich gewesen.

 

Alle drei Beispiele, die Sie nennen, stammen von Beethoven. Was macht seine Musik so schwer für Dirigenten?

Die Missa solemnis ist nicht nur schlagtechnisch enorm anspruchsvoll, sondern auch geistig. Man muss erst einmal erfassen, wie Beethoven mit Glaubensfragen im Widerstreit liegt, wie er den Text angeht. Es dauert lange, bis man das versteht. Bei Fidelio ist die musikalische Sprache an sich das Problem: dieser Spagat zwischen Spieloper und großer, weltumspannender Musikdramatik. Da steckt der Teufel im Detail. Allgemein lässt sich sagen, dass man bei Beethoven heute meist Stricharten als Artikulation hört. Dadurch werden vielfach musikalische Strukturen zerstört. Interessant und spannend bei Beethoven ist – und da weist er schon auf die Romantik voraus –, dass er oft eine kleingliedrige Artikulation mit langen Phrasierungsbögen abwechselt. Das kann regelrecht nivelliert werden, wenn man die spieltechnische Bogenführung der Streicher als Maßstab für die Artikulation nimmt. Carlos Kleiber war einer der wenigen, die sich dagegen gewehrt haben. Nicht nur deshalb bewundere ich ihn sehr. Er hat vielfach unterschiedliche Bogenführung innerhalb einer Streichergruppe eingeführt. Heute heißt das salopp free bowing. Nur steckt darin auch eine Gefahr: Am Ende haben nämlich doch wieder alle dasselbe Strichgefühl. Es bringt wenig, die Sache sich selbst zu überlassen. Mit anderen Worten: Man muss ein Orchester dazu bringen, die originalen musikalischen Ideen wiederherzustellen.

 

Wie gehen Sie dabei konkret in der Probenarbeit vor?

Meine Arbeitsweise funktioniert so, dass bei jeder Opernaufführung, bei ­jeder Symphonie, sogar bei fast jeder Begleitung in einem Solistenkonzert ­Notenmaterial auf den Pulten der Musiker liegt, das ich vorher eingerichtet habe. Ich bezeichne jede Stimme genau in Bezug auf Artikulation, Verzierungen, Dynamik, Vibrato usw., nicht nur die Stricharten. Soweit man solche Dinge in Schrift ausdrücken kann, versuche ich, den Musikern eine Basis an die Hand zu geben. Gott sei Dank kann man nicht alles in Schrift ausdrücken! Mehr und mehr stelle ich fest, dass Orchester dankbar für diese Arbeitsweise sind. Früher gab es durchaus Widerstände. Ich habe Orchester erlebt, die partout aus dem Material spielen wollten, aus dem immer gespielt worden war. Dem Dirigenten wurde im Grunde nur zugestanden, dass es ein bisschen schneller oder langsamer, lauter oder leiser gehen konnte. Musik erschöpft sich aber nicht in Tempo und Dynamik.

 

Ein Komponist, bei dem Sie zu ganz anderen Ergebnissen kommen als viele Ihrer Kollegen, ist Richard Wagner.

Auch bei Wagner werden die musikalischen Ideen oft durch aufführungspraktische Routine vernebelt. Denken Sie an den frühen Wagner, bis hin zum ­Holländer, Tannhäuser und Lohengrin: Da changiert er noch zwischen italienischer Oper, Weber, Marschner. Zwischendurch gibt es schon seine spezifische Chromatik, die großen Bögen, die neuartigen Klangfarben. Das muss man in allem Kontrastreichtum darstellen, und das bedeutet viel Arbeit, die mit der Einrichtung des Materials beginnt. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum kein Mensch macht, was Wagner ganz klar an Liszt schrieb im ­Zusammenhang mit der Uraufführung des Lohengrin: Wenn mehrere Forte-Anweisungen hintereinander stehen, bedeutet das, dass die Dynamik dazwischen zurückgeht – also ein Diminuendo, das er nicht ausschreibt, weil es selbstverständlich war. Heute wird meist beim zweiten Forte noch lauter gespielt als beim ersten.

 

Hilft denn bei solchen Fragen die quellenkritische, neue Gesamtausgabe?

Sicher, und ich bin mit den Herausgebern in gutem Kontakt und dauerndem Austausch. Es geht nicht nur darum, was im Autograph steht, sondern auch darum, was Wagner später geändert hat. Die Dynamik, die er in München anwies, ist eine andere als die für Bayreuth. Bei manchen Stücken hat er im Laufe vieler Jahre ganz unterschiedliche Dinge angemerkt. Da muss man überlegen, wo er Kompromisse eingegangen ist, weil er aufgeführt werden wollte, und wo er ernsthaft seine Meinung geändert oder weitergedacht hat. Das alles kostet Zeit. Auch Probenzeit. Deshalb habe ich mich nun schon zum wiederholten Mal geweigert, an der Wiener Staatsoper zu dirigieren. Erst kürzlich kam wieder eine Einladung: Parsifal mit drei Orchesterproben. Da kann man das Stück bestenfalls einmal durchspielen. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich können die Wiener das spielen, und ich kann es auch dirigieren. Wir fangen zusammen an und hören zusammen auf. Aber wozu?

 

Zu den Besonderheiten Ihrer Wagner-Aufführungen gehört, dass Sie ­Portamenti einsetzen.

Stimmt. Portamento ist ja heute verpönt, und viele Sänger schauen mich mit großen Augen an, wenn ich es verlange. Es gilt als unseriös. Wagner schreibt aber hin, wo er Portamenti haben will, und ist dabei ganz konsequent. Mit diesen Anweisungen hat er sehr wahrscheinlich gegen zu häufigen Gebrauch von Portamenti in der damaligen Zeit angeschrieben. Es gibt bei ihm Stellen, die geradezu auf ein Portamento als Ausdruckssteigerung angelegt sind. Und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde das auch gepflegt.

 

Dass ein Komponist nach Abschluss des Autographs bei den Proben ­Änderungen vornimmt, kommt ja oft vor. Puccini, Verdi haben da nicht anders gearbeitet als Wagner. Es ist eigentlich der Normalfall. Nur landen diese Veränderungen selten im Druck. Sie gelten als etwas, das nicht zum «eigentlichen» Stück gehört.

So ist es. Wobei es das Stück als definitive Größe ja gar nicht gibt. Die Komponisten waren viel flexibler, als der Notendruck suggeriert. Gerade bereite ich mich auf Daphne von Richard Strauss vor, die Aufführungen finden im Juni 2014 im Théâtre du Capitole Toulouse statt. Das Notenmaterial der Dresdner Uraufführung hat sich erhalten. Da können Sie sehen, dass Strauss und Karl Böhm enorme Retuschen vorgenommen haben. Strauss kam erst zur Generalprobe nach Dresden. Und nach dieser Generalprobe wurde eine Zusatzprobe angesetzt, weil er – durchaus selbstkritisch – meinte, so ginge es nicht. Für Wien hat er dann weiter retuschiert, weil ihm das Orchester noch immer zu dick erschien. Das sind alles Dinge, von denen bis heute nichts in der ­gedruckten Partitur steht.

 

Erstaunlich, denn Daphne ist ja kein frühes Stück. Da hatte er doch reichlich Erfahrung im Austarieren des Orchesterklangs.

Es gibt einen herrlichen Brief von Strauss an Clemens Krauss, wo er sich über sich selbst ärgert und meint, er hätte immer noch nicht gelernt, dass eine einzelne Violine eine Sopranistin zudecken kann, die in tiefer Lage singt.

 

Sie verfechten die These, dass Bach und die Musik der Wiener Klassik mit Vibrato gespielt werden sollten – und zwar gerade weil man heute historisch informiert ist.

Es irritiert mich immer, wenn die sogenannte historische Aufführungspraxis das Vibrato bei Instrumentalisten und Singstimmen einfach ausblendet. Fingervibrato bei Streichern ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Und der oft zitierte Satz in Leopold Mozarts Violinschule, besagt ja nur, dass nicht vibriert werden soll «wie im Fieber». Wer das ganze Kapitel liest, findet sehr differenzierte Äußerungen zum Vibratospiel. Vibrato wurde damals als Verzierung gelehrt. Sein Kollege Geminiani plädierte zur gleichen Zeit für ein «so oft wie möglich». Von einem sempre non vibrato kann also in der europäischen Musizierpraxis keine Rede sein. Man muss sich allerdings klarmachen, dass die Kinnstütze erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde: Sie ermöglicht Geigern und Bratschern, ihr Instrument zu halten, ohne dass die linke Hand dazu gebraucht wird. Seitdem kann der Arm am Prozess des Vibrierens beteiligt sein. Vorher konnte es nur Fingervibrato geben. Es ist auch eine Mär, dass Joseph Joachim ohne Vibrato gespielt habe und demzufolge Brahms ebenso zu spielen sei. Es gibt Aufnahmen von Joachim. Man hört ganz klar, dass er vibriert, sogar bei Bach – nicht viel, aber doch. Carl Flesch und Pablo de Sarasate ­haben dann das Dauervibrato initiiert, das wir heute als Normalfall kennen und von dem sich wiederum das strikte Non-Vibratospiel absetzt. Weder das eine noch das andere ist historisch korrekt. Es geht um die Dosierung, und die ist bei jedem Komponisten, bei jeder Epoche anders.

 

Hat Bach mit Vibrato gerechnet?

Es gibt von ihm, soweit ich sehe, keine direkten verbalen Äußerungen zu diesem Thema. Aber wir wissen etwas über seine Klangvorstellung durch die zahlreichen Orgel-Gutachten, die er geschrieben hat. Er legte größten Wert auf den Tremulanten. Bisweilen empfiehlt er sogar zwei davon. Warum hätte er das tun sollen, wenn er kein Vibrato wollte? Auch das Register der Vox ­humana war ihm wichtig. Es ging darum, die natürlichen Schwingungen der menschlichen Stimme so weit als möglich auf die Orgel zu übertragen. Was die Knabenstimmen betrifft, so wurden lieblich schwebende oder bebende Stimmen, wie es damals hieß, sogar ausdrücklich bevorzugt. Wir wissen, dass etwa bei Johann Krügers Knabenchor das natürliche Vibrato eine Voraussetzung war, um überhaupt aufgenommen zu werden.

 

Bei Mozarts Da-Ponte-Opern lassen Sie bisweilen das Cembalo nicht nur in den Rezitativen spielen, sondern auch bei Musiknummern mitgehen, was heute vollkommen unüblich ist. Außerdem wird zunehmend ein Hammerklavier statt des Cembalos benutzt. Auf welche Quellen stützen Sie sich?

Es verblüfft mich, dass (ausgehend von Nikolaus Harnoncourt) zunehmend Hammerklaviere eingesetzt werden. Natürlich hat Mozart das Hammerklavier sehr geliebt und sich für dessen Weiterentwicklung eingesetzt. Es gab aber zu seiner Zeit in den Opernhäusern noch gar keine solchen Instrumente. Es existierten insgesamt nur sehr wenige davon; die Entwicklung fing ja gerade erst an. Was die Rolle des Cembalos betrifft: Es existiert eine Zeichnung von der Uraufführung des Don Giovanni in Prag. Daraus geht eindeutig hervor, dass es zwei Cembali gab: eines am Dirigentenpult, mit dem Mozart die Rezitative begleitete, und eines bei den Continuo-Instrumenten. Übrigens ist klar belegt, dass Mozart zum Cembalo ein Cello und einen Kontrabass einsetzte. Rezitative, die nur vom Cembalo begleitet wurden, waren also unüblich. Ob Cello und Bass immer gespielt haben, ist eine ganz andere Frage. Man war da sehr frei. Es gibt einen Bericht von Luigi Bassi, dem ersten Sänger des Don Giovanni, in dem davon die Rede ist, dass man jeden Abend etwas anderes gemacht habe. Als ich Don Giovanni in Los Angeles dirigierte, waren wir ganz frei und undogmatisch. Das Cembalo gibt neue Farbmöglichkeiten. Bei Zerlinas Batti, batti-Arie kommt der Witz viel besser raus, wenn es mitgeht. Andererseits gibt es natürlich Passagen, wo es auf einen dunklen, kompakten Klang ankommt, da hat das Cembalo nichts zu suchen. Allgemein lässt sich sagen, dass das Cembalo eine Art Obertönigkeit in den Orchesterklang bringt, während sich der Klang des Hammerklaviers verselbstständigt.

 

Sie sind im Dresdner Kreuzchor aufgewachsen und haben das Musikleben der DDR von allen Seiten kennengelernt. Neben all den Knüppeln, die man Ihnen zwischen die Beine geworfen hat (siehe OW 2/1995): Würden Sie aus der Rückschau sagen, dass es positive Aspekte gab, die nach der Wende verloren gegangen sind?

Das Leben in der DDR hat ganz andere Wahrnehmungen von Kunst gefördert, als sie im Westen üblich waren. Das gilt auch für die Musik. Man hörte quasi zwischen den Zeilen. Alles hatte einen viel direkteren, existenziellen Zug. Denken Sie etwa an die fünfte Symphonie von Schostakowitsch, wo er nach der Katastrophe mit Stalin und der vierten Symphonie im Finale dauernd das hohe «a» forciert, das im Russischen «ya» heißt. Und dies wiederum bedeutet übersetzt: «ich». Dieses «Ich bin noch da», das haben die Leute verstanden. Das Publikum hat Musik als eine ganz persönliche Sprache wahr­genommen. Das gilt auch für Musik etwa von Beethoven. Diese Kultur der Kunstwahrnehmung habe ich persönlich sehr geschätzt. Heute neigt man ja eher zum Kulinarischen; es geht um Häppchenkultur. Klassik soll unterhalten, und damit sie das tut, fügt man häufig noch was hinzu. «Nur» Hören reicht nicht mehr.

 

Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass das Publikum nicht schlechter geworden ist. Interesse und auch die Bereitschaft, sich emotional auf Musik einzulassen, sind da. Man muss das nur fördern. Wenn aber vor allem die Quote zählt, klassische Musik in den Feuilletons nur noch eine marginale Rolle spielt und auch im Radio primär in Häppchen präsentiert wird, dann geht das Verständnis irgendwann verloren. Wie wichtig es ist, Verständnis zu fördern, habe ich in Amsterdam erlebt. Als ich dort 1986 bei der Niederländischen Philharmonie und als GMD der Oper anfing, gab es viele Leute, die eigentlich nur Mozart und Beethoven hören wollten. Über Jahre hinweg habe ich selbst Einführungen gehalten, wir haben für unseren Mahler-Zyklus auch sein ganzes Umfeld kommuniziert, seine Amsterdamer und seine Wiener Freunde gespielt. So konnten wir jedes Programm sechsmal im Concertgebouw ansetzen. Das waren 12 000 Hörer bei jedem Programm! Und in der Oper standen die Leute auch bei einem Stück wie B. A. Zimmermanns Soldaten für Karten an. Es liegt wirklich an der Vermittlung.

 

Wie sind Sie überhaupt 1986 von der DDR in die Niederlande gekommen?

Man wollte, wie es von offizieller Seite in der DDR hieß, «ein politisches Problem und einen schlechten Dirigenten weniger» haben und bot mir an, dass ich mich freikaufen könne. Es war vorgesehen, dass ich zehn Jahre lang zwanzig Prozent meiner im Westen erwirtschafteten Honorare an die DDR zahlen sollte. Für Valuta verkaufte die DDR auch die Ideologie... Nun verdiente ich zwar in den Niederlanden mit zwei Chefpositionen sehr gut, hatte aber trotzdem kein Einkommen: Es galt der Höchststeuersatz von 72 Prozent (inzwischen sind es 52), dann 20 Prozent an die DDR und 10 Prozent an meine Agentur. Selbst die größte Summe hat aber nur 100 Prozent... Dazu kam, dass man damals in Amsterdam kaum mieten konnte: Ich kam aus dem Osten, an so jemand wollte man nicht vermieten – und wenn derjenige auch noch ­Musiker war und Deutscher, dann schon gar nicht. So musste ich für meine Familie ein Haus auf Kreditbasis kaufen. Ich hatte zunächst nur einen Dreijahresvertrag und keine Sicherheiten. Meine Frau hat für die Kinder eingeteilt, wer wann duschen durfte, und die Brotscheiben abgezählt. Es war wie im Krieg (lacht).

 

Nach welchen Grundsätzen wählen Sie das Repertoire aus, das Sie dirigieren?

Egal ob Oper oder Orchesterkonzert: Ich möchte aus der Partitur erkennen können, ob der Komponist das Stück innerlich gehört hat, bevor oder während er es schrieb. Das sieht man der Partitur sehr schnell an. Wenn es nicht der Fall ist, wenn es also vor allem um mathematisch errechnete und strukturelle Aspekte geht, die sich mit keinem akustischen Erlebnis verbinden, dann kann ich es als Dirigent auch nicht um­setzen.

 

Können Sie ein Beispiel geben?

Kürzlich kam eine Anfrage von einem berühmten deutschen Orchester, ein wichtiges Konzert. Ich habe abgelehnt, weil das Programm ein Stück enthielt, in dem die Mikrotonstruktur bis zu Achteltönen reichte. Mit Vierteltönen im Sinne Ligetis oder Reimanns habe ich überhaupt keine Probleme. Aber Achteltöne kann ich nicht mehr hören und also auch nicht dirigieren. Es gibt eine Aufnahme dieses Stücks: Das Orchester spielt einfach unsauber. Da könnte man auch eine Wellenlinie hinschreiben, wie das ja schon lange üblich ist. Das würde bedeuten: irgendwas zwischen diesen Tönen. Wenn die Achteltöne aber einerseits strukturell bedeutsam sein sollen, andererseits aber mit dem Ohr nicht genau fassbar sein können, dann habe ich ein Problem.

 

Seit 1980 leiten Sie das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, das im Konzerthaus und in der Berliner Philharmonie eine eigene Konzertreihe hat und ohne öffentliche Gelder auskommt. Wie sieht die Zukunft aus?

Wir lösen uns auf. Es wird noch fünf Konzerte geben. Im März 2014 ist der 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach, da haben wir ein Festkonzert angesetzt. Danach spielen wir noch – ein Herzenswunsch von mir mit diesem Orchester – die drei letzten Symphonien von Mozart. Am 1. Mai 2014 findet das letzte Konzert statt. Wir haben dann um die 120 Konzerte gratis gespielt und über 50 CDs aufgenommen und, so denke ich, der Berliner Musikkultur einen Dienst erwiesen. Viele Stücke, die wir wiederentdeckt und teilweise noch aus Kopien der Manuskripte gespielt haben, gehören inzwischen zum Standardrepertoire. Seit Jahrzehnten bekommen weder die Musiker noch ich als Dirigent einen Cent. Auch unsere Solisten wie Anne-Sophie Mutter, Christine Schäfer, Peter Schreier, Frank-Peter Zimmermann sind ohne Gage aufgetreten. Am Publikum liegt es nicht: Wir spielen immer vor gut besuchten und meist sogar ausverkauften Sälen – und das obwohl wir keinerlei Werbung machen, das könnten wir uns gar nicht leisten. Die Saalmieten sind absurd in die Höhe gegangen. Man muss ja zusätzlich zahlen, wenn man im Saal proben will, auch steht «Leihgebühr» an, wenn man vorhandene Instrumente wie etwa die Orgel nutzen will, und sogar für zusätzliche Scheinwerfer muss man extra zahlen. Es ist verrückt, dass unser Orchester trotz des großen Erfolges nie Subventionen bekommen hat und seit 1969 existiert. Als ich nach 1989 zu Eberhard Diepgen ging, dem damals Regierenden Bürgermeister von Berlin, sagte er: «Sie haben vor der Wende nichts bekommen, und sie kriegen nach der Wende auch nichts.» Das war’s bis heute. Vielleicht hat diese Ignoranz damit zu tun, dass wir nicht der Event-Kultur frönen. Wir machen einfach gute Konzerte. Mit der Auflösung des Orchesters wird allerdings niemand auf der Straße landen. Es sind ja alles Musiker aus den Berliner Spitzenorchestern, die halt eben unsere spezielle Art des Musizierens mochten.