S. 20-21
Im Mai 2014 geben Sie mit dem Kammerorchester das letzte Konzert. Warum?
Unsere Situation ist seit Jahren kompliziert: Wir erhalten keine Subventionen, und unsere Musiker kommen aus verschiedenen Orchestern, so dass es schwer ist, Proben zu organisieren und Konzerte zu planen. In Berlin können wir zudem seit 20 Jahren keine Honorare zahlen. Eine Probe im Konzerthaus oder in der
Philharmonie können wir uns nicht leisten, und manchmal können wir dort nicht mal die Instrumente leihen. Wir stehen permanent in roten Zahlen. Unsere Gastspiele werden zwar vergütet, aber da bleibt nicht so viel übrig, dass wir etwas anderes damit ausgleichen könnten.
Gab es politische Bemühungen, das Orchester zu halten? Was sagen die Künstler, mit denen Sie zusammengearbeitet haben?
Die Musiker bedauern es alle. Aber ich habe keine einzige politischeReaktion auf unsere Entscheidung bekommen.
Weshalb endet die Geschichte des Orchesters ausgerechnet im Jubiläums-Jahr?
Wir wollten auf keinen Fall vor dem 8. März 2014 aufhören. Aber weil wir die Saison nicht schon an diesem Tag beschließen können, folgt danach noch unser Abschieds-Konzert am 1. Mai mit den drei letzten Mozart-Sinfonien. Ohne den 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach hätten wir uns wahrscheinlich
schon eher aufgelöst.
Zeitgleich zu Ihrem Abschiedskonzert wird in Weimar das
Bachfest gefeiert – mit Schwerpunkt Carl Philipp. Enttäuscht,
dass Sie dort nicht dabei sind?
Ja! Unser Programm vom 8. März hatten wir Weimar angeboten, die es aber ablehnten. Nun wiederholen wir es in Essen – aber in Weimar wäre es Pflicht gewesen. „Die letzten Leiden des Erlösers“ ist ein zentrales Werk von
Carl Philipp Emanuel. Wenn man ihn ehren will, muss man es spielen.
Gibt es Werke von Carl Philipp Emanuel, die Sie noch nicht dirigiert haben, oder sind Sie nach
34 Jahren Kammerorchester wunschlos glücklich?
Nein, durchaus nicht. Es fehlen eine Reihe Instrumentalkonzerte und chorsinfonische Stücke. Mit
dem Orchester arbeiten wir aktuell zudem in Abschiedsstimmung: Bei jedem Werk, das wir spielen,
ist uns bewusst, dass wir das nie wieder machen. Das gilt vielleicht nicht für die letzten drei Mozart-
Sinfonien, aber die Stücke Carl Philipps, die wir jetzt musizieren, werden wohl nie wieder zurückkommen.
Braucht die Musik Carl Philipp Emanuel Bachs
ein Spezialensemble?
Ich denke schon – wobei der Begriff Spezialensemble vielleicht falsch ist. Im normalen Betrieb mit drei Proben lässt sich seine spezielle Klangsprache jedenfalls nicht bewältigen. Dabei ist in meinen Noten alles bezeichnet, was man sich vorstellen kann: jeder Strich, jede Artikulation, jede Verzierung, Dynamik und Phrasierung. Doch Carl Philipps extreme Klangsprache von einem Orchester aus dem Stand bekommen zu wollen, ist eine Mutfrage.
Wird er wegen dieser Extreme wenig gemocht und deshalb recht selten aufgeführt?
Er ist ganz sicher ebenso schwer zu spielen und wie unbequem zu hören. Man muss sich schon darauf einlassen,
dass man ständig von einem Affekt in den anderen geworfen wird. Das ist in den Berliner Sinfonien zwar noch recht gemäßigt, sehr stark ausgeprägt jedoch in den Streichersinfonien und in den Hamburger Werken.
Die Aufführungspraxis hat sich in den letzten 40 Jahren
geändert. Ihre auch?
Ich fühle mich eher in Dingen bestätigt, die ich schon vor Jahrzehnten behauptet und ausgeführt habe. Das beginnt schon bei der Vibrato-Frage. Wir haben nie das „sempre non vibrato“ gespielt und sind dafür sehr angegriffen worden. Ich habe mich da nicht beirren lassen – auch weil ich weiß, dass viele der heute existierenden Auffassungen vor allem aus der Arbeit
mit Sekundärquellen kommen.
Und die reichen nicht?
Ich habe neben den ersten auch die zweiten Quellen studiert, so wie Beyschlags „Ornamentik in der Musik“. Im Vergleich sieht man, dass Beyschlag den großen Fehler gemacht hat, nicht zu berücksichtigen, dass viele Details von Ort zu Ort unterschiedlich gehandhabt wurden und sich außerdem alle zehn Jahre geändert haben. Seine Komponistenbeispiele sind fatal; die meisten Angaben dazu sind falsch. Nach solchen Schulwerken sind jedoch Generationen von Musikern unterrichtet worden.
Sie sagten einmal, für die Aufführung älterer Musik muss man die Quellen kennen, aber auch die heutigen Hörgewohnheiten berücksichtigen. Was heißt das?
Das betrifft ganz viele Fragen: Welche Eigenschaften der Musik sagen uns heute noch etwas, so dass ich sie in den Vordergrund stellen sollte? Zahlensymbolik etwa versteht kaum jemand, ich sollte das also nicht so betonen wie andere Dinge. Dann das Verhältnis von Raumgröße und Besetzungsgröße: Beethoven
hat die Eroica mit 35 Musikern im 100 qm großen Palais Lobkowitz uraufgeführt. Wenn ich das Werk heute in einem deutlich größeren Saal spielen will, brauche ich mehr Musiker, um denselben Effekt zu erzielen wie damals. Oder nehmen Sie den sogenannten historischen Kammerton. Den hat es erstens als solchen ja gar nicht gegeben, weil in jeder Stadt nach einer anderen Stimmung gespielt wurde. Zweitens haben heute die
meisten Konzert- und Radiohörer Hörerfahrungen, die auf der Stimmung mit 442 Hz beruhen. Geht man einen halben Ton tiefer, bringt man die Leute um die Wirkung der Tonart. Doch die wurde von den Komponisten immer ganz gezielt ausgesucht.
Was haben Sie als nächstes vor?
Ich mache viel Wagner, Strauss’ „Daphne“ und das auf anderthalb Jahre angelegte internationale Projekt „War and Peace“. Da geht es in ziemlich eigenwilliger Zusammenstellung um Stücke, die mit Krieg und Frieden zu tun haben, etwa Beethovens 5. und Schostakowitschs 8. Sinfonie.
Keine Vorklassik mehr?
Zunächst nicht. Ich muss zuerst verdauen, dass ich mein Kammerorchester nicht mehr habe. Vielleicht werde ich diese Musik in einigen Jahren noch einmal dirigieren, aber ich habe bereits mehrere Hundert Stücke aus dieser Periode gemacht, das ist schon sehr viel.
Interview: Christiane Schwerdtfeger