Die musikgeschichtliche Bedeutung Carl Philipp Emanuel Bachs ist unbestritten. Aber werden seine Werke nicht viel zu selten aufgeführt?
Hartmut Haenchen: Als wir uns in den achtziger Jahren entschlossen haben, den Namen Carl Philipp Emanuel Bach anzunehmen, stand dessen Musik noch auf keinem Konzertprogramm. Das Kammerorchester bestand ja vorher schon als Spezialensemble für moderne Musik. Seitdem haben wir die Musik dieser Übergangsperiode natürlich besonders gepflegt. Insofern hat sich eine ganze Menge verändert. Wir haben als erstes Ensemble alle achtzehn Sinfonien eingespielt haben und damit das Orchesterwerk überhaupt wieder verfügbar gemacht. Wir wollten demonstrieren, wie wichtig diese Musik ist. Alle beziehen sich ja auf Carl Philipp, ob Haydn, Mozart oder Beethoven. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Einspielungen, und manchmal findet man Bachs Sinfonien auch im Konzert.
Warum nicht häufiger?
Haenchen: Das hängt einfach damit zusammen, dass der Schwierigkeitsgrad dieser Sinfonien so exeptionell ist. Kaum jemand traut sich da heran, sogar Spezialensembles nicht. Ich selbst habe versucht, mit zwei absoluten Weltklasseorchestern diese Musik zu spielen und danach beschlossen, dass ich so etwas nie wieder tun werde.
Umgekehrt gefragt: Warum sollte er häufiger gespielt werden?
Haenchen: Für Gottfried van Swieten, der die Streichersinfonien in Auftrag gab, spielte die Schwierigkeit überhaupt keine Rolle. Bach hat sich also voll ausgetobt, ohne an die Aufführung zu denken. Ihn hat die Komposition interessiert mit der vollen Fantasie, die ihm zur Verfügung stand. Und da sind wir bei dem entscheidenden Punkt. Er hat vollbracht, was man sich nach Johann Sebastian nicht vorstellen konnte: Er hat die bestehende Affektenlehre – ein Satz hatte einem Affekt anzugehören – vollständig durchbrochen. Das ist für mich ganz essentiell.
Welchen Stellenwert haben die Vokalwerke in Bachs Œuvre?
Haenchen: Einen sehr großen. Und innerhalb der Chorsinfonik sind das „Magnificat“, das „Himmelfahrtsoratorium“ und auch „Die letzten Leiden des Erlösers“ zentrale Werke. Diese Stücke sind im Sinne der freien Fantasie geschrieben. Sie zeichnen sich durch eine Empfindungstiefe aus, die im Sturm und Drang sehr wichtig war.
Was ist darüber hinaus an den „Letzten Leiden“ faszinierend?
Haenchen: Es gibt sehr freie und auch strenge Formen. Gerade in diesem Spannungsverhältnis ist es ein ganz bedeutendes Stück. Die Textvorlagen sind keine reinen Bibeltexte mehr, sondern das Libretto ist durchgedichtet. Dadurch ergibt sich ein ganz einheitlicher Stil. Was Bach den Sängern virtuos abverlangt, ist unglaublich extrem. Wenn ich an das Sopran-Duett denke, in dem die Triolen durch alle Lagen wandern, oder die Tenor- und Baritonarien – da sind künstlerische Höchstleistungen gefragt. Und dem Orchester verlangt er wie immer alles ab.
Mit Ihrem Ensemble haben Sie etliche Werke von C.P.E. Bach aufgeführt und aufgenommen. Welche schätzen Sie besonders?
Haenchen: In jeder Kategorie gibt es ein paar Glanzlichter. Um beim Oratorium zu bleiben: „Die letzten Leiden des Erlösers“ sind für mich in der Chorsinfonik ein Sternstück. Darum habe ich dieses Werk auch für das Festkonzert zum 300. Geburtstag ausgewählt. Bei den Flötenkonzerten gibt es das d-Moll-Konzert, das ich leidenschaftlich gerne aufführe. Und bei den Sinfonien sind es vor allem die noch schwereren Streichersinfonien aus der Hamburger Zeit.
Interview: Christoph Dittmann