Ob in Paris, Helsinki, am Londoner Opernhaus Covent Garden oder dem Teatro Real Madrid, Hartmut Haenchen ist ein international vielbeschäftigter Dirigent. Leider genießt der 1943 in Dresden geborene Musiker hierzulande nicht die Anerkennung, die er eigentlich verdient. Wieso das so ist, erklärt er vor seinem Dirigat beim Gürzenich-Orchester, wo er Werke von Franz Schubert und Dmitrij Schostakowitsch aufführt. Er gelte als „unbequemer“ Typ, gesteht er mit freundlicher Stimme und sagt: „Die Probenbedingungen an den meisten deutschen Opernhäusern passen mir einfach nicht. Das ist künstlerisch nicht zu verantworten.“ Als die Semperoper bei ihm anfragte, lehnte er sogar ab.
Widerstand gegen Schubladendenken
Im Konzertbereich werde hingegen, so beklagt er, zu sehr in Schubladen gedacht. Jemand, der gleichermaßen Frühklassik, Romantik und Moderne beherrscht, verunsichert da eher. Derzeit tourt Haenchen mit seinem Projekt „War and Peace“ durch die Welt. Es ist seine „Friedensmission“, gesteht er. Als Kind des zerstörten Dresdens erlebte er die Schrecken des Krieges und der Zeit danach hautnah mit. „Wie gehen wir heute mit diesen Erinnerungen um?“, fragt er. Ins Zentrum des Projektes rückte er Schostakowitschs achte Sinfonie c-Moll (1943), die er auch in Köln dirigiert. Das Werk entstand während des deutschen Russlandfeldzugs, verarbeitet die Blockade Leningrads und den Kampf um Stalingrad. Schostakowitsch und den Dirigenten der Leningrader Uraufführung, Jewgeni Mrawinski, lernte Haenchen noch persönlich kennen. Das macht seine Interpretation authentisch. „Sie müssen sich Schostakowitsch als introvertiert und menschenscheu vorstellen“, erzählt Haenchen. „Ich war damals noch ein unerfahrener Dirigent und wollte die Sinfonie mit der Dresdner Philharmonie machen. Er hat mir dabei geholfen, viele Sachen erklärt, die nicht in der Partitur stehen. Er hatte klare Vorstellungen, ließ dem Interpreten jedoch auch Freiheiten.“ Zum Inhalt der Achten äußerte Schostakowitsch ihm gegenüber: „Ich sehe den Berg von Leichen vor mir.“ Dabei „standen ihm die Tränen in den Augen“, berichtet Haenchen. Ein pessimistisches Werk also, denn: „Am Ende keimt nur eine zarte Hoffnung auf.“ Neben Leid überwiege Sarkasmus, wenn im zweiten Satz ein deutsches Trinklied scharfzüngig parodiert wird; das erinnere sogar an Gustav Mahler, meint Hartmut Haenchen. Als er das Werk in Japan dirigierte, waren die Zuhörer so schockiert, dass sie nicht applaudieren konnten. Haenchen: „Da sieht man, wozu Musik im Stande ist.“
Für den in der DDR aufgewachsenen Dirigenten hat Schostakowitschs Musik darüber hinaus eine persönliche Bedeutung, erzählt sie doch auch von Diktatur und Bevormundung. Haenchen ging 1986 in die Niederlande, lebt heute jedoch wieder bei Dresden.
Durch Kitajenkos Schostakowitsch-Zyklus ist das Gürzenich-Orchester mit dieser Musik gut vertraut, merkt Haenchen. 1999 dirigierte er zuletzt hier, erkannte gleich in der ersten Probe jedoch bekannte Gesichter. „Erfahrung“ am Pult ist für ihn das A und O. Alle Musiker erhalten von ihm fertig eingerichtete Noten, aus denen sie spielen. Auch das etwas Besonderes.