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31. July 2016 · Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ich bin schneller als Toscanini

Interview mit Eleonore Büning. In der FAS-Druckversion erschien eine nicht korrigierte Version. Hier die autorisierte Fassung:

Herr Haenchen, Sie

haben in nur zwölf Tagen Wagners „Parsifal“ einstudiert für Bayreuth. Das

Publikum jubelt: Ein Wunder! Und weil bei einem Wunder ja alles möglich ist,

kann man überall nachlesen, Sie hätten nur zwei Orchesterproben gehabt. Stimmt

das?

Hartmut Haenchen: Ja. Und dann kamen schon die Bühnenproben:zwei mit Orchester für den ersten Aufzug, je eine für

den zweiten und dritten. Eine Korrekturprobe. Dann Hauptprobe und Generalprobe.

Das war’s?

Mit Orchester: ja. Natürlich habe ich außerdem mehrfach mit

dem Chor sowie viel mit den Solisten geprobt, und das auch noch nach der

Generalprobe. Wir haben von morgens bis nachts gearbeitet.

 

Warum tun Sie sich das

an?

 

Ich wollte und will hier das  Bestmögliche erreichen,

das würde jedem so gehen. Und ich wollte so viel wie möglich einarbeiten von

meiner Auffassung zu dem Stück, meinem „Parsifal“-Profil. Diese Produktion hier

ist ja schon länger auf dem Weg gewesen. Normalerweise probe ich einen

„Parsifal“ mindestens sechs Wochen.

 

Ihr wievielter

„Parsifal“ ist das?

 

Wie oft dirigiert? Das müsste ich nachrechnen. Meinen ersten

eignen „Parsifal“ habe ich für Schwerin einstudiert, dann in Berlin und

Stuttgart, zweimal in Amsterdam, außerdem in Paris, Brüssel und Kopenhagen.

Bayreuth ist also meine neunte Produktion.

 

Sie waren nicht der

erste, den die Bayreuther Festspiele angerufen haben, als ihnen am 8. Juli

plötzlich der „Parsifal“-Dirigent weglief. Haben Sie damit gerechnet?

 

Ja, schon, ich hielt das für sehr wahrscheinlich. So schnell,

so kurzfristig, da ist es nicht einfach, Ersatz zu finden. Das wusste ich, aber

ich wusste auch sofort, als ich die Nachricht von Nelsons Abreise im Autoradio

hörte: Ich kann mir in aller Ruhe überlegen, was ich tue. Sie haben natürlich

zuerst bei den großen Namen nachgefragt, die, die mit B oder R anfangen. Ich

bin in Deutschland kein großer Name. An mich kam die Anfrage dann über meine

Agentur am 11. Juli, und ich habe zwei Bedingungen gestellt: Ich wollte meinen

Assistenten mitbringen, Walter Althammer, der schon drei Parsifals mit mir

gemacht hatte. Und ich habe mein eignes Orchestermaterial mitgebracht.

 

Das Orchester musste

quasi nochmal von vorne anfangen. Das gab böses Diskussionen. War das nötig?

 

Natürlich fand das  Orchester das ein neues Material

problematisch! Das kann ich sehr gut verstehen. Die meisten spielen ja

schließlich den „Parsifal“ hier nicht zum ersten Mal, und jetzt, in dieser

Kürze der Probenzeit, alle Bewegungsabläufe der Streicher komplett umdenken und

anders machen, das ist unbequem. Fast alle Stricharten sind anders verglichen

dem Notenmaterial, das hier traditionell benutzt wird. Es gibt einhundertfünzigÄnderungen allein in der 1. Violinstimme im ersten

Aufzug. Wenn man das auf alle Stimmen hochrechnet, sprechen wir über tausende

von Änderungen, die anderen Striche nicht mitgezählt. Einer der Musiker kam und

sagte: „Wir haben so viel zu lesen, dass wir auf das Dirigentische bei Ihnen

nicht auch noch reagieren können.“ Er hatte Recht. Ich habe mich dann nochmal

hingesetzt, mit dem Bayreuther Notenmaterial und mit meinem, und habe das

verglichen, um Kompromisse zu finden. Und habe festgestellt: Das ist nicht

möglich. An keiner Stelle. Ich muss meine Fassung dirigieren.

 

Was sind die

wesentlichen Unterschiede?

 

Es geht um Tausende von Details! Manchmal sind es wirklich

Winzigkeiten. Die Streicher im Festspielorchester spielten traditionell immer

noch aus dem Erstdruck der Stimmen, anders die Bläser, die spielen noch aus den

zweiten handgeschriebenen Stimmen. Der Erstdruck hatte, wie jeder Druck, 

viele Fehler. Er ist auch von Richard Wagner nie autorisiert worden.  Das

muss man wissen. Meinen ersten „Parsifal“ habe ich aber auch noch nach dem

Erstdruck dirigiert. Heute erarbeite ich mir zu allen Stücken mein eignes

Orchestermaterial, und immer kommen neue Erkenntnisse dazu. Selbst die neue

Wagner-Gesamtausgabe ist ja nicht ganz fehlerfrei! Ich habe das Particell

verglichen mit der Originalhandschrift, mit der  Abschrift von Humperdinck, die die Druckvorlage war und mit

der Uraufführungspartitur von Hermann Levi. Zusätzlich – und das ist essentiell

– haben die Assistenten und die Uraufführungssänger alle Veränderungen in der

Probenphase dokumentiert, dies ist aber nirgends zusammenhängend zu finden.

Dazu kommen die Änderungen, die auf den Klavierauszug von Anton Rubinstein

zurückzuführen sind, und so weiter.

 

Bitte ein Beispiel!

 

Nehmen wir gleich den Anfang von „Parsifal“, den großen

Legato-Bogen. Das wird nie wirklich Legato gespielt, jeder Geiger muss ja vom

Aufstrich zum Abstrich wechseln, wenn der Bogen am Ende ist. Nur darf man das

nicht hören. Gute Geiger können das. Bei einem  hört man es nicht. Aber

wenn alle gemeinsam zum gleichen Zeitpunkt den Bogen wechseln, sechzehn erste

und sechzehn zweite Violinen, dann hört man es eben doch, unvermeidlich. 

Ich fange deshalb den „Parsifal“ schon mit „Divisi“-Strichen an….

 

Bedeutet: Sie teilen die Geigen auf in Gruppen.  Die

eine Hälfte fängt mit Aufstrich, die andere  mit Abstrich an. Ich dachte,

man spielt das immer so, überall,  mit geteilten Streichern, am Anfang vom

„Parsifal“?

 

Nein, keineswegs, nur Carlos Kleiber und wenige andere Kollegen haben das gemacht! Nicht

einmal in Bayreuth! Dann gibt es Stellen, gerade im „Parsifal“ besonders oft,

wo Wagner zwar Legato vorschreibt, aber Akzente darunter setzt. Entweder Legato

oder Non-Legato, eines von beiden geht nur. Auch an diesen Stellen teile ich

die Streicher: Die eine Hälfte lasse ich Legato ohne Akzent spielen, die andere

Hälfte wechselt Hin und Her. Das Ergebnis ist optimal.

 

Wissen Sie, wie Ihre

Dirigentenkollegen dieses Problem lösen? 

 

Sie entscheiden sich, je nachdem, wie laut es ist, für eines

von  beiden. Ein anderes Beispiel: Wagner hat bei der Artikulation des

Stakkato ganz präzise zwischen Keil und Punkt unterschieden. Aber im Erstdruck

verschwindet das, man konnte das damals drucktechnisch nicht umsetzen. Ich habe

alle diese Stellen korrigiert in meinem Material. Das sind – ich habe es jetzt

gerade für den Konzertmeister nochmal nachgezählt - allein 72 Änderungen, nur

in den ersten Violinen, nur im ersten Aufzug.

 

Ist das überhaupt

machbar? Lohnt sich das?

 

Ja, es ist machbar. Das Orchester ist wunderbar, sie sind

absolut professionell und zu allem bereit. Einzelne Musiker kenne ich sowieso

schon länger. Trotzdem haben die natürlich anders gearbeitet bisher, und bis

wir bei der ersten Bühnenprobe richtig zusammenkamen, bis ich das Gefühl hatte,

jetzt liegen sie mir, wie man so sagt, „auf dem Arm“, das hat den ganzen ersten

Akt gedauert. Das Problem lag eher darin, dass gar nicht die Zeit dazu da war,

dass ich wenigstens ansatzweise mal erklären konnte, warum ich etwas geändert

hatte im Material. Es gab aber auch kuriose Situationen. Im dritten Aufzug

spielten die Bratschen an einer Stelle C und die Posaune spielte parallel dazu

Cis. Ich habe mich gewundert und gefragt: Wie kommt das? Die Bratschen sagen:

Wir haben hier auch immer Cis gespielt. Stellt sich heraus: Die Posaunen

spielten aus anderem, älteren Notenmaterial, wegen der Stichnoten, die brauchen

sie. Und da war dieser Fehler drin. Ich bin also hier nochmal ins Archiv

gegangen und habe mir Rubinsteins Klavierauszug und die Uraufführungspartitur

vorgenommen, und Tatsache ist: Seit den Tagen Anton Rubinsteins, seit über

hundert Jahren spielt man hier in Bayreuth an dieser Stelle Cis. Aber C ist

eindeutig richtig.

 

Und keiner hat‘s

gemerkt. Wo genau?

 

Dritter Aufzug, Takt 1068.

 

Das ist lustig! Wenn‘s

aber keiner merkt, keiner hört, wie wichtig sind solche Korrekturen wirklich,

in Bezug auf die „Werktreue“? Lohnt sich diese Mühe im Detail?

 

Der „Parsifal“ wird kein neues Stück, ob mit Cis oder C,

egal. Die meisten Leute werden das nicht hören und viele andere Korrekturen

sicher auch nicht. Trotzdem: Ja, es lohnt sich. Denn dass das Gesamtklangbild

anders ist, kann jeder hören. Das ist wie bei einem Puzzle mit zehntausend

Einzelteilen, ein Teil für sich genommen ist gar nichts, doch zusammen ergeben

sie ein Bild, das hat eine Aussage. Ändern Sie in vielen Einzelheiten

Artikulation und Dynamik, so, wie Wagner sich das vorgestellt hat, dann ändert

sich das Gesamtklangbild, das Profil, die

Struktur.  Der Mitschnitt meines Pariser „Parsifal“ steht immer noch im

Netz. Sicher hören Sie nicht jede Winzigkeit heraus, das wäre Unsinn. Aber dass

eine andere Klarheit entstanden ist, ich hoffe, dass hören Sie!

 

Und, nicht zu

überhören: Ihre „Parsifal“-Tempi.  Sie sind fast eine Stunde schneller als

James Levine.

 

Na, vor allem schneller als Toscanini! Die Dauern, die wir

von der Generalprobe hier in Bayreuth genommen haben, sagen: Wir sind in Bayreuth

zwei Minuten langsamer als in Paris. Ich bin‘s zufrieden. Die zwei Minuten

liegen an der Bayreuther Akustik, schätze ich.

 

Wie kommen Sie damit

zurecht?

 

Gut. Ich dirigiere „Parsifal“. Ein Stück wie Meistersinger

hätte ich hier unter diesen Umständen nicht gemacht. Die Nachhallzeit liegt in

diesem Haus höher als in allen anderen Opernhäusern der Welt. Und 

die  Zeitverzögerung zwischen Bühne und Orchester fällt bei allen Musiken,

die einen schnellen Wechsel brauchen, unheimlich ins Gewicht. Das hat große

Nachteile für Stücke, die nicht für diesen verdeckten Orchestergraben

geschrieben worden sind, vor allem für den „Ring“ mit seiner filigranen Leitmotivik

oder für den „Tristan“ mit den vielen Harmoniewechseln. Das Schwierigste, was

man in Bayreuth überhaupt machen kann, sind, glaube ich, die „Meistersinger“.

Aber diese  Akustik  hat große Vorteile für „Parsifal“, dem einzigen

Stück, das Wagner speziell für dieses Haus hier komponiert hat. Er hatte ein

untrügliches musikalisches Raumgefühl. Nehmen Sie beispielsweise den ersten „Amfortas“-Ruf

im zweiten Aufzug, da vibriert dieser Raum förmlich. Man spürt das

körperlich.  Und diese Zeit für den Nachhall, die muss man diesem Raum

hier auch lassen. Und: die verlängerte Pause ist auch in den Assistenten-Aufzeichnungen

vermerkt.Diese ausgesparte Instrumentation, die

Reduktion der Motive, die Mischklänge, die Zeitverhältnisse, ja, ich muss

sagen: Ich mache das hier wirklich sehr, sehr gerne.  Als Dirigent hat man

zwar in Bayreuth, was das Hören angeht, den schlechtesten Platz im ganzen Haus.

Das gilt auch für „Parsifal“. Aber man ahnt,  dass im Saal  beim

Publikum etwas ankommt, was man so anderswo niemals hinkriegen könnte.

 

Ist das die Aura von

Bayreuth?

 

Ich bin der Meinung: Auch andernorts macht  man heutzutage

sehr guten Wagner, überall auf der Welt. Dazu braucht man das Bayreuther

Festspielhaus nicht.  Aber den „Parsifal“ hier zu machen, das ist

etwas  Besonderes.

 

Und was ist das

Besondere am „Parsifal“?

 

Er ist, für mich, die Essenz von Wagners Schaffen. Hier

entwickelt er den Mut zur Sparsamkeit. Und die

ganz große Kunst ist doch immer: das Aussparen. Ich kann den „Parsifal“, was

das betrifft, nur vergleichen mit Bachs „Kunst der Fuge“. Im „Parsifal“ kann

Wagner endlich auf vieles Schöne, aber eigentlich Überflüssige, verzichten. Er

verzichtet auf die Füllfiguren der „Götterdämmerung“, die unhörbare

Kontrapunktik der „Meistersinger“, die  Leitmotivumspielungsfiguren des

„Ring“.  Das alles liegt hinter ihm. Es ist doch toll, dass es im „Parsifal“

keine einzige wörtliche Wiederholung eines Motivs gibt! Alle Motive verändern

sich mit der Entwicklung der Figuren,  fließend. Da stehe ich jede Sekunde

staunend davor. Und inhaltlich ist der „Parsifal“ Wagners aktuellstes Stück. Er

zeigt, dass eine Gesellschaft zugrunde geht, wenn sie sich Regeln auferlegt,

die sie nicht einhalten kann.