Herr Haenchen, Sie
haben in nur zwölf Tagen Wagners „Parsifal“ einstudiert für Bayreuth. Das
Publikum jubelt: Ein Wunder! Und weil bei einem Wunder ja alles möglich ist,
kann man überall nachlesen, Sie hätten nur zwei Orchesterproben gehabt. Stimmt
das?
Hartmut Haenchen: Ja. Und dann kamen schon die Bühnenproben:zwei mit Orchester für den ersten Aufzug, je eine für
den zweiten und dritten. Eine Korrekturprobe. Dann Hauptprobe und Generalprobe.
Das war’s?
Mit Orchester: ja. Natürlich habe ich außerdem mehrfach mit
dem Chor sowie viel mit den Solisten geprobt, und das auch noch nach der
Generalprobe. Wir haben von morgens bis nachts gearbeitet.
Warum tun Sie sich das
an?
Ich wollte und will hier das Bestmögliche erreichen,
das würde jedem so gehen. Und ich wollte so viel wie möglich einarbeiten von
meiner Auffassung zu dem Stück, meinem „Parsifal“-Profil. Diese Produktion hier
ist ja schon länger auf dem Weg gewesen. Normalerweise probe ich einen
„Parsifal“ mindestens sechs Wochen.
Ihr wievielter
„Parsifal“ ist das?
Wie oft dirigiert? Das müsste ich nachrechnen. Meinen ersten
eignen „Parsifal“ habe ich für Schwerin einstudiert, dann in Berlin und
Stuttgart, zweimal in Amsterdam, außerdem in Paris, Brüssel und Kopenhagen.
Bayreuth ist also meine neunte Produktion.
Sie waren nicht der
erste, den die Bayreuther Festspiele angerufen haben, als ihnen am 8. Juli
plötzlich der „Parsifal“-Dirigent weglief. Haben Sie damit gerechnet?
Ja, schon, ich hielt das für sehr wahrscheinlich. So schnell,
so kurzfristig, da ist es nicht einfach, Ersatz zu finden. Das wusste ich, aber
ich wusste auch sofort, als ich die Nachricht von Nelsons Abreise im Autoradio
hörte: Ich kann mir in aller Ruhe überlegen, was ich tue. Sie haben natürlich
zuerst bei den großen Namen nachgefragt, die, die mit B oder R anfangen. Ich
bin in Deutschland kein großer Name. An mich kam die Anfrage dann über meine
Agentur am 11. Juli, und ich habe zwei Bedingungen gestellt: Ich wollte meinen
Assistenten mitbringen, Walter Althammer, der schon drei Parsifals mit mir
gemacht hatte. Und ich habe mein eignes Orchestermaterial mitgebracht.
Das Orchester musste
quasi nochmal von vorne anfangen. Das gab böses Diskussionen. War das nötig?
Natürlich fand das Orchester das ein neues Material
problematisch! Das kann ich sehr gut verstehen. Die meisten spielen ja
schließlich den „Parsifal“ hier nicht zum ersten Mal, und jetzt, in dieser
Kürze der Probenzeit, alle Bewegungsabläufe der Streicher komplett umdenken und
anders machen, das ist unbequem. Fast alle Stricharten sind anders verglichen
dem Notenmaterial, das hier traditionell benutzt wird. Es gibt einhundertfünzigÄnderungen allein in der 1. Violinstimme im ersten
Aufzug. Wenn man das auf alle Stimmen hochrechnet, sprechen wir über tausende
von Änderungen, die anderen Striche nicht mitgezählt. Einer der Musiker kam und
sagte: „Wir haben so viel zu lesen, dass wir auf das Dirigentische bei Ihnen
nicht auch noch reagieren können.“ Er hatte Recht. Ich habe mich dann nochmal
hingesetzt, mit dem Bayreuther Notenmaterial und mit meinem, und habe das
verglichen, um Kompromisse zu finden. Und habe festgestellt: Das ist nicht
möglich. An keiner Stelle. Ich muss meine Fassung dirigieren.
Was sind die
wesentlichen Unterschiede?
Es geht um Tausende von Details! Manchmal sind es wirklich
Winzigkeiten. Die Streicher im Festspielorchester spielten traditionell immer
noch aus dem Erstdruck der Stimmen, anders die Bläser, die spielen noch aus den
zweiten handgeschriebenen Stimmen. Der Erstdruck hatte, wie jeder Druck,
viele Fehler. Er ist auch von Richard Wagner nie autorisiert worden. Das
muss man wissen. Meinen ersten „Parsifal“ habe ich aber auch noch nach dem
Erstdruck dirigiert. Heute erarbeite ich mir zu allen Stücken mein eignes
Orchestermaterial, und immer kommen neue Erkenntnisse dazu. Selbst die neue
Wagner-Gesamtausgabe ist ja nicht ganz fehlerfrei! Ich habe das Particell
verglichen mit der Originalhandschrift, mit der Abschrift von Humperdinck, die die Druckvorlage war und mit
der Uraufführungspartitur von Hermann Levi. Zusätzlich – und das ist essentiell
– haben die Assistenten und die Uraufführungssänger alle Veränderungen in der
Probenphase dokumentiert, dies ist aber nirgends zusammenhängend zu finden.
Dazu kommen die Änderungen, die auf den Klavierauszug von Anton Rubinstein
zurückzuführen sind, und so weiter.
Bitte ein Beispiel!
Nehmen wir gleich den Anfang von „Parsifal“, den großen
Legato-Bogen. Das wird nie wirklich Legato gespielt, jeder Geiger muss ja vom
Aufstrich zum Abstrich wechseln, wenn der Bogen am Ende ist. Nur darf man das
nicht hören. Gute Geiger können das. Bei einem hört man es nicht. Aber
wenn alle gemeinsam zum gleichen Zeitpunkt den Bogen wechseln, sechzehn erste
und sechzehn zweite Violinen, dann hört man es eben doch, unvermeidlich.
Ich fange deshalb den „Parsifal“ schon mit „Divisi“-Strichen an….
Bedeutet: Sie teilen die Geigen auf in Gruppen. Die
eine Hälfte fängt mit Aufstrich, die andere mit Abstrich an. Ich dachte,
man spielt das immer so, überall, mit geteilten Streichern, am Anfang vom
„Parsifal“?
Nein, keineswegs, nur Carlos Kleiber und wenige andere Kollegen haben das gemacht! Nicht
einmal in Bayreuth! Dann gibt es Stellen, gerade im „Parsifal“ besonders oft,
wo Wagner zwar Legato vorschreibt, aber Akzente darunter setzt. Entweder Legato
oder Non-Legato, eines von beiden geht nur. Auch an diesen Stellen teile ich
die Streicher: Die eine Hälfte lasse ich Legato ohne Akzent spielen, die andere
Hälfte wechselt Hin und Her. Das Ergebnis ist optimal.
Wissen Sie, wie Ihre
Dirigentenkollegen dieses Problem lösen?
Sie entscheiden sich, je nachdem, wie laut es ist, für eines
von beiden. Ein anderes Beispiel: Wagner hat bei der Artikulation des
Stakkato ganz präzise zwischen Keil und Punkt unterschieden. Aber im Erstdruck
verschwindet das, man konnte das damals drucktechnisch nicht umsetzen. Ich habe
alle diese Stellen korrigiert in meinem Material. Das sind – ich habe es jetzt
gerade für den Konzertmeister nochmal nachgezählt - allein 72 Änderungen, nur
in den ersten Violinen, nur im ersten Aufzug.
Ist das überhaupt
machbar? Lohnt sich das?
Ja, es ist machbar. Das Orchester ist wunderbar, sie sind
absolut professionell und zu allem bereit. Einzelne Musiker kenne ich sowieso
schon länger. Trotzdem haben die natürlich anders gearbeitet bisher, und bis
wir bei der ersten Bühnenprobe richtig zusammenkamen, bis ich das Gefühl hatte,
jetzt liegen sie mir, wie man so sagt, „auf dem Arm“, das hat den ganzen ersten
Akt gedauert. Das Problem lag eher darin, dass gar nicht die Zeit dazu da war,
dass ich wenigstens ansatzweise mal erklären konnte, warum ich etwas geändert
hatte im Material. Es gab aber auch kuriose Situationen. Im dritten Aufzug
spielten die Bratschen an einer Stelle C und die Posaune spielte parallel dazu
Cis. Ich habe mich gewundert und gefragt: Wie kommt das? Die Bratschen sagen:
Wir haben hier auch immer Cis gespielt. Stellt sich heraus: Die Posaunen
spielten aus anderem, älteren Notenmaterial, wegen der Stichnoten, die brauchen
sie. Und da war dieser Fehler drin. Ich bin also hier nochmal ins Archiv
gegangen und habe mir Rubinsteins Klavierauszug und die Uraufführungspartitur
vorgenommen, und Tatsache ist: Seit den Tagen Anton Rubinsteins, seit über
hundert Jahren spielt man hier in Bayreuth an dieser Stelle Cis. Aber C ist
eindeutig richtig.
Und keiner hat‘s
gemerkt. Wo genau?
Dritter Aufzug, Takt 1068.
Das ist lustig! Wenn‘s
aber keiner merkt, keiner hört, wie wichtig sind solche Korrekturen wirklich,
in Bezug auf die „Werktreue“? Lohnt sich diese Mühe im Detail?
Der „Parsifal“ wird kein neues Stück, ob mit Cis oder C,
egal. Die meisten Leute werden das nicht hören und viele andere Korrekturen
sicher auch nicht. Trotzdem: Ja, es lohnt sich. Denn dass das Gesamtklangbild
anders ist, kann jeder hören. Das ist wie bei einem Puzzle mit zehntausend
Einzelteilen, ein Teil für sich genommen ist gar nichts, doch zusammen ergeben
sie ein Bild, das hat eine Aussage. Ändern Sie in vielen Einzelheiten
Artikulation und Dynamik, so, wie Wagner sich das vorgestellt hat, dann ändert
sich das Gesamtklangbild, das Profil, die
Struktur. Der Mitschnitt meines Pariser „Parsifal“ steht immer noch im
Netz. Sicher hören Sie nicht jede Winzigkeit heraus, das wäre Unsinn. Aber dass
eine andere Klarheit entstanden ist, ich hoffe, dass hören Sie!
Und, nicht zu
überhören: Ihre „Parsifal“-Tempi. Sie sind fast eine Stunde schneller als
James Levine.
Na, vor allem schneller als Toscanini! Die Dauern, die wir
von der Generalprobe hier in Bayreuth genommen haben, sagen: Wir sind in Bayreuth
zwei Minuten langsamer als in Paris. Ich bin‘s zufrieden. Die zwei Minuten
liegen an der Bayreuther Akustik, schätze ich.
Wie kommen Sie damit
zurecht?
Gut. Ich dirigiere „Parsifal“. Ein Stück wie Meistersinger
hätte ich hier unter diesen Umständen nicht gemacht. Die Nachhallzeit liegt in
diesem Haus höher als in allen anderen Opernhäusern der Welt. Und
die Zeitverzögerung zwischen Bühne und Orchester fällt bei allen Musiken,
die einen schnellen Wechsel brauchen, unheimlich ins Gewicht. Das hat große
Nachteile für Stücke, die nicht für diesen verdeckten Orchestergraben
geschrieben worden sind, vor allem für den „Ring“ mit seiner filigranen Leitmotivik
oder für den „Tristan“ mit den vielen Harmoniewechseln. Das Schwierigste, was
man in Bayreuth überhaupt machen kann, sind, glaube ich, die „Meistersinger“.
Aber diese Akustik hat große Vorteile für „Parsifal“, dem einzigen
Stück, das Wagner speziell für dieses Haus hier komponiert hat. Er hatte ein
untrügliches musikalisches Raumgefühl. Nehmen Sie beispielsweise den ersten „Amfortas“-Ruf
im zweiten Aufzug, da vibriert dieser Raum förmlich. Man spürt das
körperlich. Und diese Zeit für den Nachhall, die muss man diesem Raum
hier auch lassen. Und: die verlängerte Pause ist auch in den Assistenten-Aufzeichnungen
vermerkt.Diese ausgesparte Instrumentation, die
Reduktion der Motive, die Mischklänge, die Zeitverhältnisse, ja, ich muss
sagen: Ich mache das hier wirklich sehr, sehr gerne. Als Dirigent hat man
zwar in Bayreuth, was das Hören angeht, den schlechtesten Platz im ganzen Haus.
Das gilt auch für „Parsifal“. Aber man ahnt, dass im Saal beim
Publikum etwas ankommt, was man so anderswo niemals hinkriegen könnte.
Ist das die Aura von
Bayreuth?
Ich bin der Meinung: Auch andernorts macht man heutzutage
sehr guten Wagner, überall auf der Welt. Dazu braucht man das Bayreuther
Festspielhaus nicht. Aber den „Parsifal“ hier zu machen, das ist
etwas Besonderes.
Und was ist das
Besondere am „Parsifal“?
Er ist, für mich, die Essenz von Wagners Schaffen. Hier
entwickelt er den Mut zur Sparsamkeit. Und die
ganz große Kunst ist doch immer: das Aussparen. Ich kann den „Parsifal“, was
das betrifft, nur vergleichen mit Bachs „Kunst der Fuge“. Im „Parsifal“ kann
Wagner endlich auf vieles Schöne, aber eigentlich Überflüssige, verzichten. Er
verzichtet auf die Füllfiguren der „Götterdämmerung“, die unhörbare
Kontrapunktik der „Meistersinger“, die Leitmotivumspielungsfiguren des
„Ring“. Das alles liegt hinter ihm. Es ist doch toll, dass es im „Parsifal“
keine einzige wörtliche Wiederholung eines Motivs gibt! Alle Motive verändern
sich mit der Entwicklung der Figuren, fließend. Da stehe ich jede Sekunde
staunend davor. Und inhaltlich ist der „Parsifal“ Wagners aktuellstes Stück. Er
zeigt, dass eine Gesellschaft zugrunde geht, wenn sie sich Regeln auferlegt,
die sie nicht einhalten kann.