Herr Haenchen, wenn Sie den Namen Dresden hören, welches Bild haben Sie dann vor Augen?
Hartmut Haenchen: Grau.
Also nicht das prachtvolle barocke Stadtzentrum.
Haenchen:
Das gab’s ja in meiner Jugend nicht. Ich bin zwischen Ruinen
aufgewachsen. Die Straßen waren zwar freigeräumt, aber links und rechts
war alles kaputt.
Sie haben als Zweijähriger die Bombennacht von Dresden erlebt. Können Sie sich wirklich noch daran erinnern?
Haenchen:
Ja. Das ist das Merkwürdige. Es streiten sich ja die Wissenschaftler,
ob das möglich ist. Aber es steht so klar vor mir. Es gibt viele, die
sagen, dass solche außergewöhnlichen Dinge auch einem Zweijährigen im
Gedächtnis bleiben können.
Welches Bild sehen Sie dabei?
Haenchen:
Ein Feuermeer. Meine Mutter hatte das erst auf dem Sterbebett
zugegeben. Ich war lange Zeit sehr zweifelnd, ob das Bild wirklich wahr
sein kann, denn sie hatte zuvor immer erzählt, dass sie mit mir und
meinen Brüdern außerhalb der Stadt war. Wir haben am Stadtrand auf einem
Berg gewohnt und dieses Bild habe ich genau vor Augen: Aus dem
Kellerfenster auf ein Feuermeer zu schauen. Das ist wahrscheinlich der
erste Eindruck, den ich behalten habe.
Sie tragen seither ein szenisches Leitmotiv durch Ihr Leben.
Haenchen:
Es ist mal stärker, mal weniger. Es hat mich sicher in meinem
grundsätzlichen Tun immer beeinflusst. Auch damit, dass ich als unbequem
gelte. Aber ich kann damit gut leben. Ich bin in diesem Einheitsgrau
aufgewachsen. Auch später in der DDR.
Sie haben ja inzwischen oft den Feuerzauber aus Wagners „Ring“ dirigiert. Hat das was mit Traumabewältigung zu tun?
Haenchen: Das würde ich nicht sagen. Es ist für mich eine andere Ebene, weil der Feuerzauber ja inhaltlich eine ganz andere Ursache hat.
Sie können offenbar gut damit umgehen.
Haenchen:
Man weiß nie, was solche Sachen mit einem tun, ohne dass man es merkt.
Aber ich gehe ja nun schon 74 Jahre damit um. Eigentlich kann ich erst
besser damit umgehen, seit mir meine Mutter bestätigt hat, dass wir in
dem Keller waren. Seitdem kann ich das loslassen. Bis dahin hatte mich
die Frage wahnsinnig beschäftigt, ob es Einbildung ist oder nicht.
Wie stellen Sie die Verbindung von der Bombennacht zum Unbequemsein her?
Haenchen:
Das Aufwachsen in einer total zerstörten Stadt hat zur Folge, dass man
sehr kritisch denkt und alles hinterfragt. Das mache ich in der Musik
ebenso, aber auch in der Politik. Zu bestimmten Dingen mache ich meinen
Mund gefragt oder ungefragt auf, um Stellung zu beziehen. Ich war in der
DDR ein unbequemer Zeitgenosse und bin es auch jetzt in der sogenannten
Demokratie.
Folglich ist Ihre Stasiakte recht umfangreich. Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 1959. Womit haben Sie Aufsehen erregt?
Haenchen:
Ich habe Flugblätter gegen die Wahl in der DDR gedruckt. Da wurde die
Stasi auf mich angesetzt. Ich konnte nicht verstehen, dass die Leute
ganz brav zur Wahl gehen und etwas wählen, was sie nicht wollten.
Deshalb habe ich die Flugblätter gedruckt und deshalb hat mich die Stasi
verfolgt. Das galt als Kapitalverbrechen. Man hat es mir aber Gott sei
Dank nicht nachweisen können. Sonst wäre ich mindestens 15 Jahre hinter
Gitter gegangen.
War Ihnen als 16-Jähriger klar, wie gefährlich das war?
Haenchen: Das war mir schon deutlich.
Manches,
was Ihnen damals vorgeworfen wurde, liest sich aus heutiger Sicht schon
ein wenig skurril. 1966 wurden Sie von der Händel-Gesellschaft der DDR
gerügt, da Sie für eine „Messias“-Aufführung nicht die offizielle
DDR-Übersetzung benutzt haben, die versucht hat, christliche Bezüge zu
tilgen. 1968 haben Sie ein Disziplinarverfahren erhalten, weil Sie das
Publikum nach einer Aufführung von Brahms’ Deutschem Requiem dazu
gebracht haben, nicht zu applaudieren. Im Wiederholungsfall wurde Ihnen
die fristlose Kündigung angedroht.
Haenchen:
Ich hatte vier politische Prozesse am Hals, hatte aber Gott sei Dank
einen Rechtsanwalt, der mich immer wieder rausgeholt hat. Das
Gefährlichste für mich war der Vorwurf der Beihilfe zur Flucht, was ich
aber wirklich nicht gemacht habe. Es war so, dass mein Chef mich
unbedingt loswerden wollte. Der hat dann eine Unterschrift gefälscht.
Mein Rechtsanwalt konnte aber beweisen, dass die Unterschrift gefälscht
ist. Ohne diesen Verteidiger wäre ich weg gewesen.
Was hat Sie angetrieben, gegen diesen Staat zu rebellieren?
Haenchen:
Ich sehe mich nicht als Revolutionär. Ich habe mich als jemanden
gesehen, der aneckt und versucht, eine Form von Demokratie zu leben. Auf
der anderen Seite habe ich natürlich versucht, die Grenze des Möglichen
zu erreichen, sie aber nicht zu überschreiten. Ich hatte ja nicht
unbedingt Lust auf Gefängnis. Insofern habe ich auch Kompromisse
gemacht. Aber so wenig wie möglich.
Welche Bedeutung hat für Sie der christliche Glaube?
Haenchen:
Der spielt schon eine große Rolle. Ich bin atheistisch aufgewachsen und
habe mich erst mit 14 taufen lassen. Das ist für mich schon ein
wichtiger Punkt. Ich habe mit 15 meine ersten Konzerte als Kantor
dirigiert. Ich musste Geld verdienen. Und so habe ich in einer kleinen
Gemeinde eine Stelle als C-Kantor angetreten. Ich bin sehr dankbar, dass
das funktioniert hat. Die Musiker waren ja bis zu 50 Jahre älter als
ich. Ich habe damit Geld verdient, aber auch unheimlich viel Praxis
bekommen. Und ich konnte mich schon sehr früh ausprobieren.
Aus DDR-Sicht gehörten Sie kleinbürgerlichen Verhältnissen an, gehörten also zu einer Art Elite.
Haenchen:
Die DDR bevorzugte bei allem Arbeiterkinder. Die hatten alle Chancen.
Als Idee klingt das erst mal sehr gut. Aber in der nächsten Generation
geht das so nicht weiter. Da sind die Arbeiterkinder plötzlich keine
Arbeiterkinder mehr. Die Idee war also etwas zu kurz gedacht.
Im
Laufe Ihrer Karriere wurden Ihnen immer wieder Chefdirigentenverträge
angeboten, die dann wieder zurückgezogen wurden. Ist das eine Form von
psychischer Folter, wie sie von der Stasi ja oft praktiziert wurde?
Haenchen:
Das sehe ich schon so. Das ist eine Zermürbungstaktik. Man wollte aber
keine zweite Biermann-Affäre. In der DDR hatte ich ja einen ganz guten
Namen. Ich habe an der Staatsoper in Berlin dirigiert. Aber es hat schon
lange gedauert, bis ich das Spiel durchschaut habe. Sie warfen mir
immer etwas hin. Dann hatte ich nicht das Bedürfnis zu gehen. Denn es
gab ja tolle Orchester und wunderbare Opernhäuser. Die Restriktionen,
was die Programme angeht, haben mich aber schon genervt. So durften die
Programme nur zu acht Prozent mit Werken aus dem kapitalistischen
Ausland gestaltet werden. Die ersten vier Sinfonien von Schostakowitsch
konnte man nicht aufführen, weil sie bei Boosey & Hawkes in London
verlegt sind, oder es wäre zu den acht Prozent gerechnet worden.
Wie fühlten Sie sich angesichts dieser Zermürbungstaktik? Wenn die Verträge kurz vor Antritt der Stelle zurückgezogen wurden?
Haenchen:
Das erste Mal habe ich mich sehr schlecht gefühlt, weil das
fürchterliche Konsequenzen hatte. Ich hatte einen unterschriebenen
Vertrag als Chef für die Komische Oper Berlin. Dann wurde ich ins
Ministerium bestellt, wo man mir erklärte: Wir halten Sie nicht für
politisch reif für diese Position. Wir kündigen hiermit den Vertrag. Man
hatte mir auch Geld angeboten, aber ich habe gesagt: Ich will das Geld
nicht, ich will die Arbeit. Damit habe ich sie meinerseits in
Schwierigkeiten gebracht. Aber das hat sich dann zum Positiven gewendet.
Der Chefdirigent, der an meiner Stelle Chef wurde, bekam dann die
Partitur von Aribert Reimanns „Lear“.
Der hat dann gesagt: Das kann ich nicht.
Haenchen:
Dann hat man mir die Partitur zugestellt mit der Frage, ob ich das
machen will. Ich sehe mich da noch in Dresden mit hochrotem Kopf sitzen.
Ich habe die ganze Nacht durch die Partitur gelesen. Und habe gesagt:
Unbedingt. Das ist eines der besten Stücke, die mir untergekommen sind.
So ist es dann zur Erstaufführung des „Lear“ in der DDR gekommen.
Das heißt aber, komplett verstoßen seitens der Staatsführung waren Sie dann doch nicht.
Haenchen:
Doch. Ich habe davor drei Jahre lang nichts gehabt. Der „Lear“ war das
Erste. Das Einzige, was ich hatte, war das Kammerorchester der
Staatsoper Berlin, das spätere Kammerorchester C. Ph. E. Bach, was ich
34 Jahre geleitet habe. Mit denen durfte ich in diesen drei Jahren etwas
ganz Neues aufbauen. Und dann kommt das ganz Typische für die DDR. Wir
hatten Schallplatten gemacht, die sogleich den Deutschen
Schallplattenpreis kriegten. Jetzt kamen Anfragen aus dem Westen für
Reisen mit dem Orchester. Das war für die Führung eine Schwierigkeit,
denn die wollten natürlich das Westgeld verdienen. Für Westgeld hat die
DDR die Ideologie immer verkauft. Immer! Weil sie immer zu wenig Valuta
hatten.
Dennoch hat man Ihnen wieder Steine in den Weg gelegt.
Haenchen:
Als ich Anfang der 80er Jahre zu den Berliner Philharmonikern
eingeladen wurde, kriegte ich keinen Pass. Das Notenmaterial, das mir
geschickt wurde, haben sie abgefangen. Sie haben alles versucht, um das
zu verhindern. Dann bin ich in meiner Verzweiflung zu einem Gespräch ins
Zentralkomitee gegangen und habe gesagt: Wenn ihr mich mein Debüt bei
den Berliner Philharmonikern nicht machen lasst, gebe ich alle
Dokumente, die ich beim „Spiegel“ hinterlegt habe, zur Veröffentlichung
frei.
Sie haben geblufft.
Haenchen: Ich habe geblufft. Dann durfte ich fahren.
Wie kam es 1986 zu Ihrer Ausreise nach Amsterdam?
Haenchen:
Es gab ein Kulturabkommen mit den Niederlanden. Ohne dieses Abkommen
hätte ich nicht ausreisen dürfen. Ich habe mich selbst freigekauft. 20
Prozent meiner Einkünfte musste ich an die DDR abführen.
Es
heißt, Wolfgang Wagner hatte Sie 1982 eingeladen, in Bayreuth den
„Fliegenden Holländer“ zu dirigieren. Der Brief ist aber nie bei Ihnen
angekommen.
Haenchen:
Dieser Brief wurde von der Stasi abgefangen. Wahrscheinlich von der
Künstleragentur. Wenn ein Theater jemanden engagieren wollte, ging das
nur über die Staatsagentur. Da saßen nur Stasileute. Der Brief ist nie
bei mir angekommen. Ich habe davon erst von Wolfgang Wagner erfahren,
als er 1994 zu meiner „Meistersinger“-Premiere nach Amsterdam gekommen
war. Da sagte er nur so beiläufig zu mir: Schade, dass Sie damals nicht
gekonnt haben. Es ging um den Bayreuther „Holländer“ 1985 in der
Inszenierung von Harry Kupfer. Den hätte ich dirigieren sollen. Aber der
Brief kam in der Zeit, als ich Auftrittsverbot hatte. Dann hat der Däne
Woldemar Nelsson dirigiert. Später habe ich den Brief in meiner
Stasiakte gefunden.
Sie hätten Ihr Bayreuth-Debüt also nicht erst 2016, sondern bereits 1985 geben sollen.
Haenchen: Genau. Da war ich gerade mal 42 gewesen.
Jetzt hat sich aber doch noch eins zum anderen gefügt, was Bayreuth betrifft.
Haenchen: Ja.
Kann man sagen: Ihre keineswegs linear verlaufene Dirigentenkarriere ist ein Beispiel für die Kugelgestalt der Zeit?
Haenchen:
Ja. Absolut. Die Zeitebenen überlagern sich. Weil man ja doch unter
einer Käseglocke gelebt hat. Auch wenn ich 1972 Reisekader wurde und zu
denen gehörte, die reisen durften, sind doch viele Dinge nicht an mich
herangekommen. Auf der anderen Seite tröste ich mich damit, dass ich so
viele junge Kollegen sehe, die zwar innerhalb von drei Jahren ganz oben
angekommen sind, wo dann aber in der dirigentischen Entwicklung nichts
mehr dazukommt. Der ganz alte Weg, den auch Karajan gegangen ist, hat
schon was. Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Deswegen habe ich im
ersten Band meines Buches ja auch das Zitat von Richard Strauss
aufgenommen, dass er erst mit 70 Jahren begriffen hat, wie schwer
Dirigieren ist.
Sie
haben kurz vor der Wende einen autoritären Staat verlassen. Was denken
Sie angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Europa?
Haenchen:
Es macht mir große Angst. Das Verrückte ist ja: Wenn ich jetzt die
politische Entwicklung sehe, dann fühle ich mich auf einmal richtig
links. Obwohl ich aus einem autoritären sogenannten sozialistischen
Staat komme.
Befürchten Sie auch in Deutschland eine Verstärkung autoritärer Tendenzen?
Haenchen:
Da hatte ich eine Zeit lang Angst. Die hat sich bei mir aber wieder
gegeben, weil sich die AfD selber zerfleischt. Das ist das Beste, was
passieren kann.
Sie wohnen in Dresden. Wie erleben Sie die Atmosphäre in der Stadt, die mit ihren Pegida-Demonstrationen Schlagzeilen machte?
Haenchen:
Das ist für mich ein Phänomen, das mich als Dresdner trifft und worauf
man überall angesprochen wird. Dann muss man erklären: Es hat immer
Gegendemonstrationen gegeben, über die wenig berichtet wurde. Ein
Großteil der Leute, die bei Pegida demonstrieren, kommt aus Bayern.
Darunter sind auch führende Köpfe der Rechten aus Süddeutschland.
Natürlich gibt es auch in der Sächsischen Schweiz harte Gruppen, aber es
ist auch eine Frage der Berichterstattung. Natürlich muss man darüber
berichten, aber ich finde die Ausgewogenheit problematisch.
Was vermissen Sie in der westlichen Gesellschaft?
Haenchen:
Es hat in der DDR etwas gegeben, was sich nach der Wende verloren hat.
Das war der Zusammenhalt der Andersdenkenden. Wie sich die Menschen
untereinander geholfen haben, war Solidarität im besten Sinn des Wortes.
Das ist noch mal aufgeflackert nach der großen Flut in Dresden. Das war
wirklich berührend, wie uneigennützig jeder dem anderen geholfen hat.
Nach der Flut ist die Ellenbogengesellschaft ein bisschen größer
geworden.
Sind Sie trotz allem mit der DDR im Reinen?
Haenchen:
Versöhnt bin ich nicht. Aber ich habe mir, als ich 1979 meine
Chefposition in Mecklenburg räumen musste, gesagt: Lass in dir keinen
Hass aufkommen. Hass ist kein Mittel. Das habe ich auch so gehalten. Ich
habe dann ja auch wahnsinniges Glück gehabt, dass ich nach Amsterdam
gebeten wurde und in den 20 Jahren ein Haus von Weltklasse aufbauen
konnte. Damit bin ich zufrieden. Das ist etwas, was hoffentlich bleibt.