Herr Haenchen, die Zeitschrift „Opernwelt“ hat Sie zum Dirigent des Jahres erkoren. Wie wichtig ist so eine Ehrung?
Es ist wie mit allen Ehrungen. Es ist ja schön, dass die Arbeit anerkannt wird. Auf der anderen Seite zählt in der Musik immer nur der Abend. Ich muss im nächsten Konzert, in der nächsten Vorstellung eben noch besser sein, als ich zuvor war. Das ist es, was die Musik ausmacht. Sie ist ja nicht später noch mal so original zu erleben wie ein Bild oder Buch. Für mich ist dieser „Dirigent des Jahres“ insofern eine Besonderheit, weil ich ja in Deutschland außer zu den Bayreuther Festspielen nicht Oper dirigiere. Dass dann eine deutschsprachige Zeitschrift zu dem Ergebnis kommt und sich nicht nur auf Bayreuth und Wagner bezog, sondern auf Produktionen im Ausland und Komponisten wie Mozart und Strauss – das empfinde ich als schönen Querschnitt.
Kritiker der „Opernwelt“ bedauern, Sie erst spät entdeckt zu haben. Komisch?
Naja, zu DDR-Zeiten musste ich nicht entdeckt werden. Da war ich ja in führenden Positionen, bis ich 1986 das Land nicht freiwillig verließ. Da bin ich aus dem deutschen Blickfeld verschwunden, auch weil ich – im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen – meine ganze Kraft in meine Position in Amsterdam gesteckt habe. Ich habe 70 Opern und 120 Konzerte pro Jahr dirigiert. Da blieb keine Zeit, außer in London, Berlin und Wien zu gastieren. Mehr habe ich mir verboten, auch wenn ich dadurch nicht zu den international gefragten Dirigenten gehörte. Aber ich kann mit Stolz sagen: Ich habe in Amsterdam ein Haus hinterlassen, das noch heute zu den führenden in Europa gehört.
2016 sind Sie extrem kurzfristig in Bayreuth als „Parsifal“-Dirigent eingesprungen, wurden damals wie dieses Jahr gefeiert. Was war das Beste?
Von den Bedingungen her ist Bayreuth nicht etwas, wo man sagt: Da muss ich hin!. Die Probenzeiten sind äußerst knapp und als Einspringer waren es noch vier Wochen weniger. Die Temperaturen im nichtklimatisierten Haus und erst recht im Graben mit bis zu 36 Grad schon extrem. Als Dirigent kann ich die Bühne nicht vollständig sehen und habe bei meiner Größe im terrassenförmig abfallenden Graben auch nicht Blickkontakt zu allen Musikern. Der Lärmpegel im Graben ist unglaublich. Jedes Piano ist das Forte auf einer normalen Bühne. Außerdem muss ich genau das Gegenteil von dem wie in jedem anderen Opernhaus der Welt tun: Normalerweise müssen die Sänger einen Hauch vor dem Orchester singen. In Bayreuth müssen sie diesen Bruchteil nach dem Orchester einsetzen, weil der Klang des Orchesters durch die besondere Grabenbauart erst auf die Bühne flutet und sich dort mit dem Gesang mischt.
Dennoch gilt gerade dieses heikle Haus als ideal für „Parsifal“ – oder?
"Meistersinger" hätte ich in der Kürze der Zeit abgelehnt. Aber den „Parsifal“ in Bayreuth ablehnen, das kann man nicht. Das Stück ist ja für dieses Haus mit seiner besonderen Akustik geschrieben worden. Und ich bewundere an Wagner, wie er für dieses Haus seine Art zu komponieren völlig umgestellt hat. Seine Partitur ist wesentlich sparsamer, quasi auf das Minimum reduziert. Der große Klangrausch findet nicht statt, weil es keine Füllstimmen wie beim frühen Wagner mehr gibt. Und er hat sich von den etwas plakativen Leitmotiven verabschiedet. Die Motive entfalten sich mit der Entwicklung der Person. Das ist von der Psychologie und des Aufbaus so wahnsinnig spannend. Es ist Zufall, aber ich habe keine andere Wagner-Oper so oft dirigiert: über 60 Mal.
Es gab Diskussionen der Musiker über den richtigen Wagner. Wie das?
Die Musiker von Bayreuth spielen Wagner jedes Jahr. Das hat Vorteile. So muss man über technische Fragen mit ihnen nicht reden. Und sie sind wahnsinnig flexibel, aber auch sehr traditionsbewusst. Und nicht jede Tradition ist eine gute Tradition. Beim Studium der in Bayreuth verwendeten Orchesterstimmen habe ich entdeckt, dass nicht nur falsche Noten im Umlauf sind, sondern die Dynamik, Artikulation und die Instrumentation teilweise nicht stimmen, die Sänger falsche Textpassagen haben. Allein in der ersten Violinstimme sind 700 Fehler.
Wie kamen Sie Fehlern auf die Spur?
Ich beschäftige mich ja mit Wagner, seinen Werken und den Aufzeichnungen dazu seit Jahrzehnten intensiv. Nachdem ich für dieses Jahr auch die Uraufführungsstimmen einsehen konnte, habe ich entdeckt, dass man in den 1902 gedruckten, noch heute verwendeten Noten Anweisungen Wagners aus der praktischen Erfahrung zur Uraufführung ignoriert hat. Man ging auf den früheren Stand des Autographen zurück. Die Uraufführungs- Anweisungen habe ich wieder beachtet und wiederum ein komplett neues Material erarbeitet. Entscheidend ist, dass sich diese, nun richtigen Noten in Musik und Emotionen umwandeln. Und das war das Schönste in diesem Jahr. Die Musiker haben nicht auf Befehl die „neuen Noten“ gespielt, sondern gefühlt, dass es so besser, stimmiger klingt.
Seit Ihrem Bayreuth-Debüt gibt es keine Skandale dort mehr – woran liegt es?
An mir sicher nicht. Mit Katharina Wagner haben wir natürlich über alle Probleme gesprochen und als es Schwierigkeiten gab, wollte Katharina Wagner sofort helfen. Aber ich versuche künstlerische Probleme lieber selbst zu lösen. Wir haben nach dem ersten Jahr viel über die nicht so optimale Inszenierung gesprochen, bestimmte Dinge auch geändert. Meine Erfahrung ist, man kann mit der Leitung der Festspiele sehr gut arbeiten. Dass nicht ich, sondern Semyon Bychkov 2018 den „Parsifal“ dirigiert, war von Anfang an klar gewesen, da Andreas Nelsons nur zwei Jahre den „Parsifal“ dirigieren wollte.
Das Interesse im Sommer 2016 war riesig. Sie haben über 130 Interviews gegeben. Haben nach dem Erfolg Häuser und Intendanten angerufen?
Nein, man hat den „Parsifal“-Erfolg zur Kenntnis genommen. Aber, ich beklage mich nicht. Wo muss ich denn noch hin? Ich habe doch alle Häuser, bin in London, Paris und Tokio und Mailand. Ich will nicht mehr nach Wien, weil die Arbeitsbedingungen nicht für alle Dirigenten gleich sind. Jetzt gehe ich nach Zürich. Ich arbeite in Brüssel und Lyon, das ist ein kleines Haus, der Semperoper vergleichbar, aber ein interessantes Haus mit einem überraschend guten Orchester. Dieser Klangkörper, halb so groß wie die Staatskapelle, spielt an zwei Abenden hintereinander die Premieren „Elektra“ und „Tristan“ mit einer konstanten Besetzung. Schon bei den Proben gab es keine Wechsel – so etwas erlebe Sie in Deutschland nicht.
Sie dirigieren nur an Häusern mit Stagione-Spielplan. Eine Inszenierung hat Premiere und wird dann zeitnah mehrfach wiederholt. Was ist der Vorteil?
Repertoire-Theater habe ich lange genug dirigiert mit all seinen Nebenwirkungen. Mein Einstieg in der Lindenoper war ein fünfeinhalbstündiger „Boris“ ohne Probe. Irgendwann hatte ich es satt, so zu arbeiten. Wenn in Dresden eine „Elektra“ nach einem dreiviertel Jahr ohne Probe gespielt wird oder eine „Frau ohne Schatten“ nach drei Jahren der Pause – das geht alles, kann im Einzelfall auch einmal zu einem großen Abend führen, hat aber mit Kunst nichts zu tun. Das betrifft auch die Sängerbesetzungen: Ein Haus, dass stolz darauf ist, eine „Zauberflöte“ in einer Woche mit fünf verschiedenen Besetzungen zu spielen, ist eben gerade kein Ensemble-Theater, auch wenn es sich so nennt. Ein Ensemble bildet man durch ständige gemeinsame Arbeit. Mich interessiert diese Art von zufälligem Zusammenkommen zu einem Opernabend nicht mehr.
Schade, weil wir Sie kaum erleben!
Ja, der Nachteil ist, dass ich deswegen eigentlich nicht in Deutschland dirigiere. Allerdings verhandle ich gerade mit einem großen Haus in Deutschland: Ich will dort einen Block an Vorstellungen geben und das Orchester muss garantieren, dass es keine wechselnden Besetzungen gibt. Ebenso bei den Sänger. Ich bin ja immer auch bereit, mit zwei Besetzungen parallel zu arbeiten.
Ist ein Stagione-Spielplan nicht ziemlich einseitig?
Das muss er nicht sein. In Amsterdam haben wir ständig vier verschiedene Opern plus Ballett pro Woche im Angebot gehabt. Die Stücke werden nach einiger Zeit abgesetzt. Sie wurden aber nach zwei oder drei Jahren wieder hochgeholt, geprobt wie eine Premiere. In Deutschland gilt: Geht in die Premiere, die ist die bestgeprobte Vorstellung! In Ländern mit Stagione-Prinzip geht man in die letzte Vorstellung – die ist meist die Beste, weil man mit den gleichen Mitwirkenden bis zumSchluss weiter dran feilen kann!
Wenn Sie Stücke 50 oder 60 Mal dirigiert haben, müsste doch die Ideal-Vorstellung dabei gewesen sein. Warum geben Sie sich nie zufrieden?
Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Richard Strauss hat mal gesagt. Erst mit 70 habe er begriffen, wie schwierig Dirigieren ist. Sicher, es wird immer besser, die Einsichten immer tiefer. Insofern war die Einsicht in die Uraufführungsstimmen von „Parsifal“ in Bayreuth so wichtig. Ich fühlte mich mit meinen Zweifeln, die ich immer hatte, bestätigt. Zugleich will ich nicht rekonstruieren, denn wir haben ein anderes Publikum, haben andere Hörgewohnheiten. Das betrifft auch die Alte Musik – wir müssen diese Kompositionen für die heutigen Zuhörer verständlich machen. Keiner hinterfragt mehr die Dogmen der sogenannten historischen Aufführungspraxis, dabei spürt selbst der Nichtfachmann, dass oftmals die Spannung fehlt, das Klangbild nicht mehr stimmt. Ich lehne mit wissenschaftlicher Arbeit gegen die Dogmen auf (siehe meine Bücher „Werktreue und Interpretation“), gelte deshalb als ein schwieriger Dirigent.
Zurück zu Dresden. Im Mai 2018 eröffnen Sie als ehemaliger Intendant der Musikfestspiele und Jan Vogler, als aktueller, das Festival. Wie kam es dazu?
Wir haben uns mehrfach getroffen und über verschiedene Projekte gesprochen. Als sich die Tournee mit der Königlichen Kapelle Kopenhagen ergab, schlug ich Jan Vogler vor, mitzuwirken. Ich wusste, dass er jedes Jahr ein neues Cellostück in sein Repertoire aufnimmt. Er schlug das zweite Cellokonzert von Schostakowitsch vor. Das fand ich spannend, weil ich es auch noch nicht gemacht habe.
Wie ist es, zu Ihrem alten Festival zurückzukommen?
Spannend! Vor allem weil wir ja in den Kulturpalast gehen. Den neuen Saal kenne ich aus der Arbeit ja noch nicht. Ich freue mich drauf. Ich bin ja gerne in Dresden. Es ist ja nicht so, dass ich nicht Dresden dirigieren will. Es müssen die Umstände stimmen, um das Bestmögliche zu bieten.
Welches Projekt treibt Sie im 75. Lebensjahr noch um?
Es ist Anton Bruckner. Ich plane einen entsprechenden Zyklus – natürlich nach den neuesten Erkenntnissen. Es gibt verrückterweise gleich zwei neue Ausgaben. Die konkurrieren miteinander. Zufall und Glücksfall in einem: Die Reihenfolge, in der die Werke erscheinen werden, ist unterschiedlich, sodass sich für mich ein Arbeiten nach den neuen Quellen ergeben kann. Dieser Bruckner-Zyklus dürfte sich also von den vielen, die es schon gibt, deutlich unterscheiden. Er wird auf CD dokumentiert. Und ich kehre zu meiner fünften Produktion an das Royal Opera House Covent Garden in London mit einer meiner Lieblingsopern - Mozarts „Don Giovanni“ - zurück.