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21. March 2018 · Mainpost

Hartmut Haenchen: Warum man die Dinge hinterfragen sollte

Der renommierte Dirigent kommt zum Mozartfest nach Würzburg. Ein Gespräch über Werktreue, Vorteile des Alters, Pegida und die Notwendigkeit musikalischer Bildung. Interview mit Ralph Heringlehner

Frage: Thema des diesjährigen Mozartfests ist das Zeitalter

der Aufklärung. Wie wichtig ist für Sie als Dirigent der geistige Hintergrund

eines Komponisten?

 

Hartmut Haenchen: Wir sollten uns generell auf die

Aufklärung besinnen, also Dinge infrage stellen und nach Antworten suchen. Die

Interpretation von Musik ist genauso zu sehen: Man sollte das, was man kennt

oder gelernt hat, infrage stellen, daraus Schlussfolgerungen ziehen und alles von

vorne durchdenken.

 

Prinzipiell ist es aber doch nicht möglich mit Musik ohne

Text Ideologien, Weltanschauungen, Philosophien zu verbreiten.

 

Haenchen: Es gibt schon Beispiele, wo Ideologien oder

Revolutionen in textloser Musik provoziert werden können. Ich denke zum

Beispiel an Schostakowitsch. Da sind schon verborgene Botschaften, die die

Menschen verstanden haben. Auf Mozart ist das nicht unbedingt anzuwenden, weil

Mozart – im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten – in der Lage war, auch in

schwierigen Situationen seines Lebens Musik zu schreiben, in der sich seine

Situation nicht widerspiegelt. Dennoch gibt es bei ihm Musiken, wo sich seine

Einstellung zum Tod und zum Glauben zeigt. Die Musikgeschichte kennt auch

bestimmte Symbole – etwa den Tritonus, der für den Teufel stehen kann.

 

So etwas kriegt man als Hörer wahrscheinlich gar nicht mit.

Man sieht's nur  in den Noten . . .

 

Haenchen: Das hängt natürlich auch mit der Frage zusammen:

Wie gebildet sind unsere Hörer heute? Ich führe hier in Sachsen gerade eine

Diskussion, weil man den Musikunterricht abschaffen will. Wenn wir das tun,

geht Bildung verloren, die frühere Hörer-Generationen hatten. Die konnten dann

auch solche Nuancen erkennen. Früher konnten auch viel mehr Menschen eine

Partitur lesen. Als Interpreten können wir eigentlich nur versuchen, über die

Emotionen diese Feinheiten zu vermitteln.

 

Sie haben Bücher zum Thema „Werktreue und Interpretation“

geschrieben. Woher weiß ich, was werkgetreu ist, was ein Komponist vor

Jahrhunderten gewollt hat?

 

Haenchen: Man kann schon bestimmte Parameter festzurren, die

Musikwissenschaft hat da viel geleistet. Mit Werktreue meine ich aber auch,

dass man nicht nur den Notentext nimmt, wie er von irgendeinem Herausgeber

gedruckt wurde, sondern – und da sind wir wieder bei der Aufklärung –

hinterfragt, was der Komponist tatsächlich wollte. Da ist die Partitur alleine

nicht ausschlaggebend. Zum Beispiel hören wir heute die Johannespassion in

einer Fassung nach der Neuen Bachausgabe, in der alles, was Bach nachher in den

Stimmen aufgeschrieben hat, fehlt. Das heißt: Wir spielen die Johannespassion

eindeutig falsch. Das ist nachweisbar. Werktreue heißt für mich, dass wir als

Minimum den letzten Stand dessen hernehmen, was uns der Komponist hinterlassen

hat.

 

In diesem Sinne haben sie auch in Bayreuth gearbeitet.

 

Haenchen: Ja, das habe ich im letzten Jahr in Bayreuth

zelebriert, wo ich die Originalstimmen der Uraufführung bekommen habe. Ich

konnte Hunderte, wenn nicht Tausende, Abweichungen feststellen zwischen dem

Material, das das Orchester seit 1902 spielt, und dem, was Wagner wollte und

auch in das Spielmaterial übertragen hat. Das ist im Einzelnen für den Hörer

nicht wahrnehmbar. Aber in der Menge, als Gesamtergebnis, ist es das ganz

sicher.

 

In Bayreuth sind Sie ja vor zwei Jahren sehr kurzfristig

eingesprungen. Sie hatten nur zwei Orchesterproben. Konnten Sie da überhaupt

noch eigene Vorstellungen umsetzen?

 

Haenchen: Ich hatte auch noch die Bühnenproben. Zudem war

meine Vorbedingung: Ich übernehme das „Parsifal“-Dirigat nur, wenn aus meinem

Material gespielt wird. Damit habe ich den Musikern natürlich eine Menge von

Informationen gegeben. Insofern konnte ich schon ein Gutteil umsetzen.

 

Sie müssen wohl häufig mit wenigen Proben zurechtkommen. Wie

intensiv können Sie mit der Camerata Salzburg, die Sie bei der

Mozartfest-Eröffnung dirigieren, proben?

 

Haenchen: Die Camerata kriegt von mir komplett

eingerichtetes Orchestermaterial, in dem alle meine Wünsche, die man in

Schriftzeichen ausdrücken kann, stehen. Wir starten auf einer Basis, auf der

alle denkbaren technischen Fragen geklärt sind. Dann haben wir fünf Proben. Das

ist eine gute Zeit für so ein Programm.

 

Sind Sie nach Konzerten jemals zufrieden?

 

Haenchen: Wenn ich zufrieden wäre, müsste ich an diesem

Punkt aufhören zu dirigieren. Natürlich kann ich mich über ein schönes Konzert

freuen. Aber wenn ich den ersten Schritt vom Podium hinab mache, muss ich mich

fragen: Was habe ich nicht geschafft? Was muss ich anders machen? Wie muss ich

es anders machen?

 

Sie werden jetzt 75 Jahre alt. Ich könnte mir vorstellen,

dass in Ihrem Beruf Alter durchaus ein Vorteil ist – mehr Lebenserfahrung, mehr

Wissen . . .

 

Haenchen: Das sehe ich auch so. Ich habe neulich schon in

einem Interview gesagt: Ab 70 bin ich ein guter Dirigent geworden (lacht

leise). Und am Tag meines 75. Geburtstages dirigiere ich genau seit 60 Jahren –

also ein Doppeljubiläum. Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Man lernt nicht

aus, weil man nicht auslernen will. Ich bin jemand, der immer neugierig ist und

die Dinge gerne hinterfragt. Dann kommt auch keine Routine auf und es bleibt

für mich spannend,

 

Hören Sie manchmal alte Aufnahmen von sich und denken: Das

würde ich jetzt nicht mehr so machen?

 

Haenchen: Ja, das passiert manchmal, dann erschrecke ich und

möcht's am liebsten verbieten – aber das geht nun mal nicht (lacht). Die

Aufnahmen sind halt auf dem Markt. Ich bin gerade dabei, sämtliche

Bruckner-Sinfonien noch einmal aufzunehmen. Es gibt von mir ja mehrere

Bruckner-Aufnahmen. Ich bin jetzt schon weit entfernt von dem, was ich damals

gemacht habe.

 

Sie leben in Dresden. Die Stadt hat zuletzt wegen Pegida

negative Schlagzeilen gemacht.

 

Haenchen: Leider werde ich immer wieder darauf angesprochen.

Mir tut das weh, ich kann's nicht anders sagen. Ich habe den Krieg noch am Ende

miterlebt und bin in den Ruinen groß geworden. Diese Bewegung besteht ja nicht

nur aus Sachsen, der Anteil derjenigen, die hierher reisen, ist sehr groß. Aber

die Stadt wird eben als Bühne verwendet. Bestimmte Gruppierungen versuchen den

13. Februar, den Tag der Zerstörung Dresdens, für sich zu nutzen. Das schmerzt

sehr. Ich kann etwas dagegen tun, indem ich mich in Projekten engagiere – als

letztes hatte ich ein „War and Peace“- Projekt – und versuche, Menschen musikalisch

mitzuziehen und wach zu machen. Das ist das, was ich in meiner Funktion als

Dirigent machen kann.

 

Womöglich bräuchten wir wieder ein Zeitalter der Aufklärung

. . .

 

Haenchen: Ja. Und die Kunst kann da schon Einiges. Nicht

alles, aber Einiges. Und man sollte auch an der Kultur

nicht sparen. Denn was man heute in Kultur investiert, kann man eine Generation

später bei den sozialen Ausgaben einsparen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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