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21. March 2018 · dpa

Dirigent Hartmut Haenchen: Zweifel war meine Triebfeder

Interview mit Jörg Schurig

Frage: Vor 10 Jahren sagten Sie: Ein Eintritt ins Rentenalter

ist nicht vorgesehen. Bleibt es mit 75 Jahren dabei?

 

Antwort: Ich möchte es ein bisschen ruhiger anzugehen. Aber so genau kann man das in

meinem Beruf nicht steuern. Im Moment habe ich eine ruhige Phase. Im kommenden

Jahr wird es wieder heftiger.  Zum Geburtstag kommt ein

Dienstjubiläum hinzu: 60 Jahre am Pult. In diesem

Jahr stehe ich zum ersten Mal in meiner Karriere zum Geburtstag nicht auf dem

Podium. Ich verbringe den Geburtstag mit meiner Familie hier in Dresden.

 

Frage: Welche musikalischen Neuentdeckungen hatten Sie in

letzter Zeit?

 

Antwort: Ich hatte im letzten Jahr die Chance, die Uraufführungsstimmen

des «Parsifal» in Bayreuth einzusehen. Das war für mich der Anlass, für die Aufführungen 2017 bei den Bayreuther

Festspielen noch einmal ein komplett neues Orchestermaterial herzustellen. Aus

dem Original ist deutlich ablesbar, was Wagner in der Probenphase noch verändert hat. Das ist später bei der

Drucklegung leider eliminiert worden. Die übliche Fassung entspricht also nicht dem letzten Willen Wagners.

 

Frage: Verlaufen die Karrieren junger Dirigenten heute

anders als zu Ihren Zeiten?

 

Antwort: Ja. Das fängt schon damit an, dass viele heute die Werke mit CD lernen, also dem Hören nach. Ich habe anhand der Partituren gelernt, wie

etwas zu Klingen hat. In der modernen Medienwelt werden manche junge Dirigenten

nun schnell nach oben geschossen. Dort hängen sie oft im luftleeren Raum. Manche verschwinden auch wieder, ohne dass

man es bemerkt. Das betrifft Sänger und

Instrumentalisten gleichermaßen. Ich finde diese Entwicklung beängstigend.

 

Frage: Was ist Ihre Sorge?

 

Antwort: Auf lange Sicht geht so viel Potenzial verloren.

Junge Leute werden vor ihrem Zenit verbrannt. Weg von der Bildfläche, folgt schon der Nächste. Das ist keine

gute Entwicklung. Auch in der Kunst leben wir in einer Wegwerfgesellschaft.

Unter Dirigenten gibt es immer mehr Selbstdarsteller. Sie vergessen, dass sie

eigentlich nur Diener der Komponisten sind. Wenn ein junger Dirigent als erste

Mahler- Sinfonie gleich die Zehnte dirigiert, halte ich das für

vermessen.

 

Frage: Lässt sich diese

Entwicklung noch umkehren?

 

Antwort: Meine Hoffnung ist, dass sich am Ende Qualität durchsetzt. Und dass viele Menschen im Publikum das auch noch wahrnehmen

können. Um ein solches Urteilsvermögen zu erlangen, braucht man selbst eine gute Bildung.

Das fängt schon in der Schule an. Deshalb sind

Diskussionen um eine Kürzung des

Musikunterrichtes wie jetzt in Sachsen fehl am Platz.

 

Frage: Sie sind ein Weltbürger, haben aber Dresden trotzdem immer die Treue gehalten. Die Stadt ist

durch Umtriebe von Pegida und Co auch in Verruf geraten. Leiden Sie manchmal an

Ihrer Heimatstadt?

 

Antwort: Zuletzt öfter. Ich war in den vergangenen Monaten viel in Tokio, Paris und auch

Mailand unterwegs. Überall werde ich auf Dresden angesprochen, aber im

negativen Sinn. Was passiert denn da bei Euch? Da gebe ich gerne zu, dass mir

das gar nicht gefällt. Man nimmt Dresden nicht mehr wie früher üblich zuerst als Kunst- und Kulturstadt wahr.

 

Frage: Haben Sie einen Lieblingssaal?

 

Antwort: Da gibt es nur einen: das Concertgebouw in

Amsterdam. Dort habe ich etwa 750 Konzerte dirigiert. Wenn man aus Amsterdam

kommt, ist jeder andere Saal erst einmal eine Enttäuschung, selbst der Musikverein in Wien. An zweiter Stelle steht bei mir

die Suntory Hall in Tokio.

 

Frage: Gibt es ein Orchester, dem Sie sich besonders

verbunden fühlen, auch emotional?

 

Antwort: Das Gewandhausorchester Leipzig hat eine ganz

eigene Atmosphäre. Da kommt einem etwas Warmes, Familiäres entgegen. Ähnlich ist das beim Stuttgarter Staatsorchester. Viele

deutsche Orchester errichten erstmal eine Mauer vor einem neuen Dirigenten. In

Skandinavien stehen mir das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra und die Königliche Kapelle Kopenhagen sehr nahe. Natürlich trifft das auch mein früheres Orchester in

Amsterdam zu - die Niederländische Philharmonie.

 

Frage: Sie sind Ehrenbürger von Amsterdam, zudem wurde Ihnen ehrenhalber die niederländische Staatsbürgerschaft verliehen. Wie wichtig sind

Ihnen solche Auszeichnungen?

 

Antwort: Vielleicht habe ich ein Stück dazu beitragen können, das Bild

der Deutschen in den Niederlanden zu korrigieren. Ich stand dort in der Öffentlichkeit. Am Anfang war es schwierig. Die größte Zeitung schrieb

damals, ob man es nötig habe, dass

ein Deutscher so wichtige Positionen im Musikleben einnimmt. Zudem wohnten wir

in Amsterdam in einer Gegend, in der viele aus Deutschland ausgewanderte Juden

lebten. Viele wollten mit uns anfangs nichts zu tun haben. Als ich zum Ritter

im Orden vom Niederländischen Löwen ernannt wurde, änderte sich das. Seither waren wir für unsere Nachbarn Niederländer. 

 

Frage: Wieviel Routine ist dabei, wenn Sie heute auf die

Bühne gehen?

 

Antwort: Routine ist nicht das richtige Wort. Richard

Strauss hat gesagt, dass er erst mit 70 festgestellte, wie schwer das

Dirigieren eigentlich ist. Ich liebe den Titel Kapellmeister. Er umschreibt die

Tätigkeit so, wie ich sie mir vorstelle. Mein Instrument ist das Orchester.

Auf dem muss ich spielen können. Das gelingt aber nur, wenn ich die Musiker überzeuge kann. Überzeugungsarbeit ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Das

Lampenfieber freilich wird immer schlimmer. Auch wenn man eine Stück schon zehn Mal gemacht hat. Man sollte sich immer selbst hinterfragen.

Eigentlich ist in meinem ganzen Dirigentenleben der Zweifel meine Triebfeder

gewesen.

 

Frage: Wer hat Sie dabei unterstützt?

 

Antwort: Das waren Musikwissenschaftler und

Dirigentenkollegen. Wobei viele Dirigenten nicht wirklich miteinander

kommunizieren. Das liegt aber in der Natur der Sache. Wenn ich bei irgendeinem

Orchester gastiere, ist der Chefdirigent nicht da, weil er selbst anderswo

gastiert. So sehen sich Dirigenten relativ selten. Doch mit einigen habe ich

mit gut ausgetauscht, beispielsweise mit Kurt Masur, Günther Herbig oder Kurt Sanderling. Meine Frau, die ja selbst

Orchestermusikerin ist, war anfangs meine größte Kritikerin.

 

Frage: Hat sich Ihr Dirigierstil über all die Jahre verändert?

 

Antwort: Man wird effektiver. Die Kunst besteht auch

darin, Dinge wegzulassen - ohne schlechter zu werden. Auf alles Überflüssige verzichten und auf das Wesentliche reduzieren, lautet die Devise.

 

Frage: Sollte ein Dirigent eher Strenge oder Wärme verkörpern?

 

Antwort: Beides. Alle Versuche, ein demokratisches

Orchester zu gründen, sind bisher gescheitert. Als

Dirigent macht man eine Gratwanderung. Ich bin schon vom Typ her nicht kumpelhaft.

Ich duze auch niemand im Orchester. Kumpelhaftigkeit bringt einen nicht weiter.

Man muss einen guten Weg des Miteinanders finden und darf sich auch nicht

Abtrennen vom Orchester. In meinen Anfangsjahren habe ich meinen Musikern

Kritik auf einem Zettel geschrieben. Später habe ich lieber das persönliche Gespräch gesucht.

 

Frage: Welche musikalischen Wünsche und Pläne haben Sie?

 

Antwort: Musikalische Wünsche gibt es immer. Ein großer besteht darin, den kompletten Zyklus

mit Opern von Mozart und Da Ponte zu machen an einem guten Opernhaus, mit einem guten Regisseur und einer Besetzung

meiner Wahl. 2019 mache ich Alban Bergs «Wozzeck» an der Bayerischen Staatsoper in München und Mozarts «Don Giovanni» am Royal Opera House Covent Garden in

London. 2020 folgt «Wozzeck» in Zürich. Schon im Herbst

beginnt in Brüssel ein Zyklus mit allen Bruckner-

Sinfonien. Der Kalender ist gut gefüllt, ich kann nicht

klagen.