Frage: Herr Professor Haenchen, Sie sind in Dresden geboren, waren Mitglied des
Kreuzchores, haben mit der Dresdner Philharmonie gearbeitet und die Dresdner
Musikfestspiele geleitet. Auch Ihr zumindest häuslicher Lebensmittelpunkt
befindet sich in Dresden - warum sind Sie dennoch so selten in dieser Stadt zu
erleben?
Hartmut Haenchen: An mir liegt das nicht. Sicher gibt es verschiedene Gründe
dafür. Bei der Staatsoper habe ich vor etwa zwei Jahren ein Angebot absagen
müssen, weil die Arbeitsbedingungen nach der Premiere nicht so zu erwarten
gewesen sind, wie ich mir das künstlerisch vorstelle.
Ich bin eine Arbeitsweise gewöhnt, bei der man das Ergebnis nach der Premiere
weiterentwickeln kann und nicht zurückbauen muss. Deswegen habe ich abgesagt.
Sie können sich vorstellen, dass man da nicht so schnell wieder gefragt wird.
Mit der Dresdner Philharmonie hat mich nicht nur meine philharmonische Zeit
verbunden. Ich habe ja auch, nachdem die Stasi-Kollegen entfernt waren, wieder
viel mit diesem Orchester gearbeitet. Dasselbe gilt auch für meine Zeit bei den
Musikfestspielen. Ich kehre immer wieder sehr gern zur Philharmonie zurück.
Der Künstler gilt im eigenen Lande nichts - ist das ein Aspekt? Oder haben Sie
Ihre Fühler längst auf internationalem Terrain ausgestreckt?
Ich denke manchmal, dass es hier vor Ort tatsächlich so aussieht. Man darf aber
nicht vergessen, dass es viel gute Kunst, wunderbare Orchester und Opernhäuser
auch außerhalb Dresdens gibt. Da kann ich mich nicht beklagen. Bis auf die Met
bin ich so ziemlich überall gewesen, wo man mal gewesen sein müsste. Aber hin
und wieder im eigenen Bett hier in meinem Dresdner Haus schlafen zu können, das
ist auch nicht zu verachten, gewiss.
Hatte es Sie deswegen besonders gereizt, als Intendant die Dresdner
Musikfestspiele zu leiten?
Das war für mich schon eine spannende Erfahrung, weil ich hier über das Dirigat
hinaus mehr konzeptionelle und dramaturgische Ideen verwirklichen konnte. Auch
wenn vielleicht nicht alles in der Weise gelang, wie gewünscht, so bin ich doch
stolz darauf, dass ich gemeinsam mit meinem Team und zehntausend Bürgern die
Musikfestspiele erhalten konnte. Wie Sie wissen, sollten die ja 2004 aufgelöst
werden. Da habe ich etwas für Dresden bewegen können. Was die künstlerische
Seite anbelangt, haben mir diese Jahre viel Freude gemacht, auch wenn einige
Leute immer der Meinung waren, ich hätte als Intendant viel zu oft dirigiert.
Mein Nachfolger musiziert heute wesentlich mehr während der Festspiele, als ich
es je getan habe.
Immerhin werden Sie zu den nächsten Musikfestspielen gemeinsam mit ihm
auftreten. Eine Art Wiedergutmachung?
So sehe ich das nicht, eher als Geburtstagsgeschenk, auf das ich mich sehr
freue. Mit Jan Vogler habe ich schon mehrere Male zusammengearbeitet. Dieses
Konzert ist für uns beide sehr spannend, denn als wir über das Programm
sprachen, kamen wir rasch auf Schostakowitschs Cellokonzert, das wir beide sehr
mochten, aber damals noch nie gemacht hatten. Ein wirklich sehr tiefes Stück.
Wenn das jetzt unter dem Titel „Spiegel“ von altem und neuem Intendanten
gemeinsam aufgeführt wird, ist das doch eine tolle Sache.
Ein Blick ganz weit zurück: Wie prägend ist Ihre Zeit als Kruzianer unter
Rudolf Mauersberger für Sie gewesen?
Es war zunächst einmal der Wunsch, der sein zu wollen, der es besser macht. So
sehr ich Mauersberger verehrt habe, er war kein großer Dirigent. Aber ein großer
Erzieher, er war ein Förderer und Pädagoge. Für mich ist er ein enormer Lehrer
gewesen, der mir selbst da Freiheiten gegeben hatte, wo ich kritisch auf ihn
einwirken wollte. Das tut man ja mit Beginn der Pubertät. Ich bin damals in die
Sächsische Landesbibliothek gegangen und habe in alten Partituren gegraben. Er
hat das ebenso wie meine kompositorischen Anfänge unterstützt und mich mit etwa
14 Jahren schon erste Proben dirigieren lassen. Ich bin ihm zutiefst dankbar
für das, was er mir und vielen anderen gegeben hat.
Mauersberger war jemand, an dem man entweder scheiterte, oder der einen stark
machte.
Von Dresden aus in die Welt - die nächsten Stationen sind erst einmal
Halle, Berlin und Schwerin gewesen, bevor es dann - überraschend? - 1986 als
Chefdirigent zur Niederländischen Philharmonie und wenig später als
Generalmusikdirektor an die Oper in Amsterdam ging. Gewiss kein geradliniger
Weg?
Ich hatte in der DDR ja praktisch fünf Jahre Dirigier- und Arbeitsverbot. Ganz
wenige wie Hans Pischner und Kurt Masur haben mich hin und wieder eingeladen.
Trotzdem wollte ich das Land eigentlich nicht verlassen. Aber als ich sah, dass
meine besten Jahre verstrichen, nahm ich 1985 eine Einladung nach Amsterdam an,
die „Elektra“ zu dirigieren. Da wurde man auf mich aufmerksam und lud mich ein,
die Niederländische Philharmonie und die Oper zu übernehmen.
Im Nachhinein sehe ich in meinem damaligen Dilemma auch viele positive Dinge.
Ich hatte ja Zeit - und konnte beispielsweise den kompletten „Ring“ studieren.
Ohne zu wissen, ob ich jemals einen dirigieren werde. Ich habe auch viel
geschrieben und mich musikwissenschaftlich betätigt. Ein zusätzlicher Trost war
das spätere Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, das mich zum
Künstlerischen Leiter gewählt hat und mit dem mich eine vierunddreißigjährige
Liebe und Freundschaft verbunden hat, die letztlich am Geld gescheitert ist.
Wie sind Sie als Deutscher, Ostdeutscher zumal, in den Niederlanden aufgenommen
worden?
Das war mehr als schwierig, ich hatte es im doppelten Sinne schwer. In einer
Zeitung wurde gefragt, ob man es nötig habe, dass ausgerechnet ein Deutscher
zwei der wichtigsten Positionen in den Niederlanden innehat.
Inzwischen haben meine Frau und ich die niederländische Staatsbürgerschaft
bekommen, weil man erkannt hat, dass ich für die Kunst dort sehr viel getan
habe. Das sehe ich als große Auszeichnung. Man muss ja bedenken, dass ich
damals mit der Aufgabe angetreten war, eine von der Politik beschlossene Fusion
von drei Orchestern umzusetzen und als Erster Chefdirigent die Oper komplett
neu aufbauen hatte. Die Niederländer sind aufgrund ihrer noch immer
reformatorischen Einstellung nicht unbedingt Opernliebhaber. Aber wir haben es
geschafft, haben ein Publikum entwickelt und V innerhalb kurzer Zeit eine
Auslastung von 97 Prozent erreicht.
Darauf bin ich ebenso stolz wie auf die Tatsache, den Holländern wieder Wagner
gebracht zu haben. Das war nach dem Krieg keineswegs ein leichter Weg.
Welche Ihrer Stationen - Paris, London, Madrid müssten erwähnt werden - haben
Sie besonders beeinflusst? Wo konnten umgekehrt Sie den größten Einfluss
geltend machen?
Überall auf der Welt geht es generell um ein gutes Verhältnis zwischen
Orchester und Dirigent. Die Chemie muss stimmen, sonst entsteht keine Kunst.
Von Vorteil ist sicherlich, dass ich auch Gesang studiert habe. Wenn ich heute
mit Sängerinnen und Sängern arbeite, spüren die das. Mein Beruf ist ein
Erfahrungsberuf. Ganz bei mir als Dirigent gewesen bin ich erst etwa mit 70.
Alles bis dahin war ein Suchen, Abtasten, Lernen, Erfahrungen auftun. Manches
von dem, was ich früher getan habe, würde ich gerne noch einmal machen.
Unabhängig davon, dass mir natürlich auch manches gelungen ist.
Immer wieder haben Sie mit historischen Textausgaben für Aufmerksamkeit
gesorgt. Das stieß nicht überall auf Akzeptanz, oder?
Man landet so schnell in Schubladen, in Deutschland bin ich bis heute der mit
dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und gelte als Experte für dessen
Musik. Zumal ich mich damals ja ausgiebig mit der historischen
Aufführungspraxis beschäftigen konnte. Dabei habe ich mehr als 50
Uraufführungen geleitet. Ich werde aber auch als Spezialist für Strauss
genannt, für Mahler, Wagner, Schubert, Schumann, für Mendelssohn, Beethoven und
Händel. Dabei bin ich aber auch niemand, der alles dirigiert. Ich muss das
Gefühl haben, dem Publikum etwas vermitteln zu können.
Was hat Sie bewogen, derart akribisch nach Originaleditionen zu suchen?
Ich glaube inzwischen, dass ich in meinen Schriften viele Fragen anspreche, die
hilfreich sind, dem Original auf die Spuren zu kommen. Auch in meiner Mitarbeit
bei Noteneditionen ist das sinnvoll, denn wissenschaftliche Ausgaben müssen ja
auch praxistauglich sein.
Wie war das beim Bayreuther „Parsifal“, den Sie 2016 vergleichsweise kurzfristig
übernommen hatten?
Da musste ich ja innerhalb eines Tages mit den Proben beginnen. Meine Bedingung
war, dass ich mit eigenem Notenmaterial kommen kann, in dem alle Erkenntnisse,
die ich bis dahin hatte, eingeflossen waren. Erst 2017 nahm ich mir dann noch
die Zeit, zusätzlich ins Archiv zu gehen und die Uraufführungspartitur im
Original zu studieren. Das konnte ich dann mit dem Orchestermaterial der
Uraufführung vergleichen, ein Aha-Erlebnis, denn Wagner unternahm ja während
der Proben noch einen zweiten kreativen Schritt. Das darf man nicht außer Acht
lassen.
War dieses späte Debüt auf dem Grünen Hügel eine Art Genugtuung für Sie?
Vielleicht auch die Wahl zum Dirigenten des Jahres 2017?
Ich hatte Bayreuth eigentlich vollständig für mich abgeschrieben. Dann lag da
plötzlich diese Last auf mir, der ich mich gern gestellt habe. Wohl wissend,
dass die ganze Welt darauf schaut.
Umso schöner dann diese Auszeichnung, mit der ich ja in einer sehr illustren
Reihe stehe. Damit wurde nicht nur mein „Parsifal“ geehrt, sondern ausdrücklich
meine ausländische Arbeit. Und zwar nicht die in Amsterdam, sondern die in
Lyon, wo ich ja auch mit einer Dresdner Arbeit, der „Elektra“ nach Ruth
Berghaus. Eine der bewährtesten Produktionen. Nach der ersten Probe wusste ich,
das wird ein Erfolg.
Wenn Sie nun 75 Jahre alt werden, wird da ein erstes Resümee gezogen? Oder eher
ein Zwischenergebnis mit dem Aufbruch zu neuen Ufern?
Ich habe natürlich Pläne. Wenn Körper und Geist mitmachen, würde ich das schon
noch gern tun wollen. Selbst wenn ich plötzlich nicht mehr dirigieren könnte
oder nicht mehr eingeladen werde, fällt mir immer noch genug ein, was ich tun
will. Solang der Kopf funktioniert. Nicht zuletzt habe ich acht Enkel, die sich
freuen würden, mehr von mir zu haben.