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01. January 1998 · Odeon, Nr. 30 1998, Seite 9

Götterdämmerung (siehe Wagner-Buch)

Bemerkungen und Dokumente zu Götterdämmerung

Als Wagner mit der Konzeption der Tetralogie nachträglich auch die Vorgeschichte von Siegfrieds Tod, der Urfassung der Götterdämmerung, dramatisiert, ergibt sich ihm die Notwendigkeit, dieses zuerst verfaßte Schlußstück dem inzwischen verwandelten Sinngehalt des Ganzen anzugleichen. Das entscheidende Ereignis der Wandlung ist die Umbiegung des Wotan-Schicksals ins Tragische: während die Große Heldenoper von 1848 mit der Neubefestigung seiner Herrschaft schließt, endet der Ring des Nibelungen 1852 mit seinem freiwilligen Untergang.

 

Das früheste Zeugnis dieser Wendung zur Tragik ist eine 1849 anzusetzende Randbemerkung im Manuskript von Siegfrieds Tod. Brünnhildes Schlußworte: "Nur Einer herrsche: Allvater! Herrlicher du!" sind durchgestrichen; statt dessen ruft sie den Göttern zu: "Aus eurer bangen Furcht verkünd ich euch selige Todeserlösung." Und als Wagner dann 1851 die ersten Skizzen zu Siegfried aufzeichnet, heißt es in der Wotan-Walaszene des dritten Aktes: "Götterende. Wotans Entschluß. Die Wala versinkt." Von hier aus, dem "Mittelpunkt der großen Welttragödie" wird jetzt der tragische Gedanke zum gestaltenden Prinzip alles Vorausgehenden und Nachfolgenden.

 

Und zwar nicht etwa, wie man gemeint hat, unter dem Eindruck der Philosophie Schopenhauers, die Wagner überhaupt erst nach der Vollendung der ganzen Dichtung kennengelernt hat. Indem sich ihm während des dichterischen Schaffens die Gestalt des Gottes immer mehr vermenschlicht, geht ihm ihre innere Tragik auf.

 

Für die Schlußredaktion von Siegfrieds Tod erfordert diese Wandlung des Sinngehaltes die Neufassung von vier Szenen: der Nornen-, Waltraute-, Hagen/Alberich- und Schlußszene. Wagner löst die Aufgabe, indem er als mythischen Hintergrund das ungeheure Bild der Weltesche einführt: seit Wotan aus ihrem Ast seinen Speer, das Symbol seiner Herrschaft, geschnitten hat, verdorrt der Weltbaum und versiegt der Weisheitsquell an seiner Wurzel. Der Gott läßt die Esche fällen und ihre Scheite rings um Walhall aufhäufen und als Brünnhilde die Fackel in Siegfrieds Scheiterhaufen wirft, um sich selbst zur Sühne für Mensch und Gott zu opfern, ergreifen die Flammen auch die Weltesche und Walhall. Hinter der vordergründigen Siegfriedhandlung, die im wesentlichen der Fassung von 1848 folgt, spiegelt sich jetzt in den Wechselreden der Nornen, in Waltrautes Erzählung, in Brünnhildes Vision des Götterendes der Schlußakt der metaphysischen Wotantragödie. Dieser Verlagerung des Schwerpunktes trägt Wagner auch äußerlich Rechnung, indem er 1856 den Titel Siegfrieds Tod in Götterdämmerung abändert. Das Wagnis, der Heldensage von Siegfried einen mythischen Hintergrund zu geben, konnte nur durch die Musik gelingen. Genauer: durch die Schaffung eines musikalischen Kosmos, dessen Themen durch ihren "Beziehungszauber" (Thomas Mann) Menschenschicksal und Götterschicksal miteinander verknüpfen. Jetzt verstehen wir, warum Wagner eine Kompositionsskizze zu Siegfrieds Tod von 1850 (Nornenszene, Anfang der Siegfried-Brünnhilde-Szene) verworfen hat. Um jenen musikalischen Kosmos zu schaffen, mußte er als Dichter und als Musiker auf den Uranfang aller Dinge zurückgehen.

 

Als er dann 20 Jahre später zur Komposition der entsprechenden Szenen der Götterdämmerung gelangt, bereichert durch das in den drei vorangehenden Teilen entwickelte thematische Material, ist er, nach der Harmonik des Tristan, auch der Kontrapunktik der Meistersinger als Musiker ein anderer geworden. Das lehrt ein vergleichender Blick auf die Fassungen von 1850 und 1870. In Siegfrieds Abschiedsszene, wo die Worte in beiden Texten übereinstimmen, zeigt auch die Gesangsmelodie dieselbe Linienführung. Um so eindrucksvoller ist der Unterschied der feineren Ausführung: die Notenwerte sind jetzt verdoppelt, so daß aus vier Takten acht werden und der Gesang sich vom Rezitativischen zu einer Art von deutschem Belcanto erhebt; Synkopen und weitausgreifende Intervalle geben der Melodie eine erhöhte Schwungkraft; einzelne Noten werden chromatisch alteriert, ein einfacher Dreiklang wird durch den Tristan-Septakkord verdrängt; die Wiederholung einer Periode wird eine Terz höher angebracht, wodurch sie eine Sequenzsteigerung und eine mediantische Klangtönung erhält. Kurz: es ist alles plastischer und farbiger geworden. Zugleich wird, vor allem in der Nornenszene, die bloße Begleitung zu einem symphonischen Satz verdichtet, den Wagner im Wiener Konzert von 1875 als Orchesterstück ohne Gesangsstimmen aufführen kann. Eine Idee, der auch der Autor in seiner im Concertgebouw aufgeführten Götterdämmerung-Suite folgte.

 

Ihren eigentümlichen Charakter gewinnt die Götterdämmerung dadurch, daß ihr ein trotz der Überarbeitung, unverkennbar von der "großen Oper" herkommender Text zugrunde liegt, mit dem Abschiedsduett, Chorensemble, Racheterzett. Aber indem er sich mit einem hochentwickelten dramatischen Kompositionsstil verbindet, entsteht etwas ganz Neues, das gegenüber den anderen Teilen des Ringes sogar noch eine überraschende Steigerung bringt. So wird die Idee eines konventionellen Trauermarsches, wovon die Skizze von 1848 überliefert ist, zum symphonischen Epilog auf Siegfrieds Tod: er habe einen großen Chor komponiert, sagte Wagner, einen Chor, der gleichsam vom Orchester gesungen werde. "Es wird Siegmunds Thema erklingen, als ob der Chor sagte: der war sein Vater; dann das Schwertmotiv, endlich sein eigenes Thema. Wie könnten Worte jemals den Eindruck, wie jene Themen, neugebildet, hervorrufen!" Und es hat einen eigenen Reiz, wenn gelegentlich ein opernhaftes Element noch mitklingt: z.B. wenn Wagner den in übermütige Koloraturen ausbrechenden Dialog zwischen Siegfried und Gutrune im zweiten Akt bei den Proben als "eine Art von lebhafter Konversation" bezeichnet, die "ganz im Stil der komischen Oper" zu halten sei.

 

Gleich den Kompositionsskizzen zu den vorangehenden Teilen ist auch die zur Götterdämmerung fast ohne Korrektur wie in einem Zug niedergeschrieben. Nur die Instrumantaleinleitung zur Nornenszene scheint Wagner Kopfzerbrechen gemacht zu haben: seine Einleitungen müssen elementarer sein, nicht dramatisch, erklärt er, sonst wäre das Drama überflüssig. Sie wird erst ein Vierteljahr später nachgetragen. Wenn er dabei die Akkorde von Brünnhildes Sonnenbegrüßung verwendet, durch die Transponierung nach es-moll und den Klang der Tuben aus Licht in Nacht verwandelt. Die Ahnung kommenden Unheils kann nicht spannender dargestellt werden. Als er zur Vertonung von Brünnhildes Schlußworten gelangt, erhebt sich die Frage, welche der drei Textfassungen er wählen soll. Außer den beiden bekannten Versfassungen existiert noch ein dritter Prosaentwurf von 1856 mit großem Chorfinale der Männer und Frauen, in dem die "allwissend gewordene Brünnhild" eine weitere entscheidende Deutung des Dramas von der Welt Anfang und Untergang gibt. Aber schließlich verzichtet Wagner auf jede Schlußtendenz, da der Sinn "in der Wirkung des musikalisch ertönenden Dramas bereits mit höchster Bestimmtheit" ausgesprochen wird. Unter der Melodie der erlösenden Liebe, mit dem in den Flöten und Violinen der symphonische Schlußsatz in Des-Dur, der Walhalltonart der zweiten Rheingold-Szene, ausklingt, steht: "Vollendet in Wahnfried am 21.11.1874. Ich sage nichts weiter! R.W."

 

Brief an Ludwig II., Bayreuth 1.10.1874:

"Götterdämmerung:"..es ist der Turm, der das ganze Nibelungen-Gebäude bis hoch über die Wolken überragt!"

 

Brief Richard Wagners an Ferdinand von Ziegsear, Zürich, 10. Mai 1851:

Der junge Siegfried enthält in den heitersten einnehmendsten und erwärmendsten Zügen (die natürlich nicht dem Nibelungenliede entnommen sein können.HH) als Hauptmomente die Gewinnung des Nibelungenhortes und die Erweckung der Brünnhilde. Für das Erfassen dieses Stoffes ist bei unsrem Publikum wenig oder fast gar keine Kenntnis des Mythos vorauszusetzen, sondern es lernt ihn dabei selbst in den populärsten Zügen kennen, ohne irgend welche Not des Nachdenkens oder Kombinierens zu empfinden, sondern gewissermaßen spielen, wie ihn Kinder durch ein Märchen kennen lernen. Ist dieses heitre Drama aufgeführt worden (das übrigens für sich durchaus ein vollständiges Ganzes bildet) so hat das Publikum unmittelbar vor seinen Sinnen das, was ihm dann für ein leichtes Verständnis von Siegfrieds Tod (als einem wiederum vollständigen Ganzen) von äußerster Wichtigkeit ist, - und dieses zweite "ernstere Drama" - später aufgeführt, wird dann einen so bestimmten Eindruck machen, wie er jetzt wohl schwerlich zu erzielen wäre. Sind diese beiden Dramen in dieser Reihenfolge vor das Publikum gelangt, so kann jedes einzelne zu jeder Zeit gegeben werden, wie Lust und Möglichkeit dazu da ist. Ein wichtigster Vorteil ist aber auch der, daß durch diesen jungen Siegfried - der ihrer heutigen Gewohnheit viel näher steht, - sich die Sänger für den Siegfrieds Tod ganz von selbst bilden und fähig machen. Nur müssen wir vor allem auf eines bedacht sein, das ist: - ein liebenswürdiger, frischer und schlanker Tenor! -"