"Musik wie Spinnweben"
Probenbesuch bei der Orchester-Akademie in Salzau
Alle scheinen sich einig: Das ist unser Mann! Kollektive Zufriedenheit strahlen die jungen Musiker im frisch zusammengefundenen Festival-Orchester aus - und die Organisatoren dürfen sich über einen denkbar unkomplizierten Phasen-Chef für die Orchester-Akademie auf Salzau freuen. Es fällt nicht schwer, daran zu glauben, daß Hartmut Haenchen, der Amsterdamer Generalmusikdirektor, so etwas wie der rechte Dirigent am rechten Ort ist. Mit seiner ruhigen, verständigen und stets freundlichen Art bietet er sich den Orchestermitgliedern als musikalisch kompetenter Partner und nicht als machtlüsterner Pultdespot an. Dennoch herrscht in den Proben eine stillschweigende Strenge. "Ich bin 100prozentig bei der Sache, also leistet ihr euch bitte auch keine Durchhänger", scheinen die aus einer schwer auslotbaren Tiefe heraus blitzenden Augen Haenchens mitzuteilen. Verpaßt etwa die Flöte einen Einsatz, sprenkeln die Violinen ihren eigentlich auf den Punkt gedachten Pizzicato-Schlag durch die Scheune oder kiekst das Horn, so huscht nur ein geheimnisvolles Lächeln über Haenchens Gesicht, hebt sich allenfalls eine Augenbraue. Ohne Anklage, ohne Belehrung bricht er ein paar Takte später ab und gibt eine neue, eine zweite Chance. Die Musiker wissen schließlich genau, wo sie gerade gepatzt haben. Bei der Wiederholung begleitet sie Haenchen mit aufmerksamem Blick. Ein knappes Nicken, vielleicht wieder ein Lächeln - na bitte, es geht doch!
Haenchen ist alles andere als ein Mann der großen Worte. Kein pädagogischer Salbader, kein wortmalerischer Poet verschenkt hier wertvolle Probenzeit: Beschriebene Musik ist für ihn wohl wie ein erzähltes Mittagessen. Kurz und knapp sind seine Anweisungen, betreffen in den meisten Fällen technische Probleme: "Ihr seid immer noch zu laut. - Nehmt euch an der Stelle Zeit. - Das Pizzicato der Bässe ist zu starr, laßt es mehr schwingen. - Tempo. - Dein Fis war etwas zu hoch." Dennoch gehen Haenchens Ambitionen weit über die rein handwerkliche Bewältigung der Noten hinaus. Im Gespräch nach der Probe betont er: "Aus einer technischen Anweisung in den Noten muß ich ein Gefühl machen, muß es umsetzen in Emotionen, die dann in eine Art Unterbewußtsein übergehen und stets spürbar bleiben sollen." "Er spricht mit seinem Körper" sind sich Paukerin Kiyomi Kikuchi und "Harfe" Chikayo Hayashi, beide aus Japan und zum ersten Mal in Salzau dabei, einig. Zusammen mit seiner warmherzigen Art sei das vollauf genug, um auf höchstem Niveau Musik entstehen zu lassen. Tatsächlich ist es eine Freude, Hartmut Haenchen beim Dirigieren zuzusehen. Weich und elegant fließen die Armbewegungen, modellieren Hände und bewegliche Finger den bereits blühenden "Sound" und die ausgesungenen Melodiezüge im langsamen Satz von Brahms Zweiter. Flexibel wippt der unprätentiöse Maestro in den Knien, signalisiert mit hochgezogenen Schultern den Wunsch nach mehr klanglicher Subtilität oder treibt mit unerbittlicher motorischer Härte den Brahmsschen Finalsatz voran. Interessant klingt dieser Brahms: aufgerauht, nicht als flächig strömender Symphonie-Koloß, sondern sorgfältig durchartikuliert. Ein Einsatz für Texttreue, die Haenchen wichtig ist und die er auch gerne in Salzau umsetzen möchte. Nicht in der Tradition der Neudeutschen Schule um Wagner, sondern als Erbe der Klassiker steht erklärtermaßen "sein" Brahms. "Das bedeutet, daß ich den vorwärtsstürmenden Enthusiasmus der jungen Musiker - ohne Zweifel das große Plus eines solchen Jugendorchesters - manchmal bremsen muß", sagt Haenchen und spielt damit auf manche noch etwas holzschnittsartige Stelle an. Man merke den jungen Musikern deutlich an, daß sie noch in der Hand von guten Pädagogen seien. Die vorhandene technische Kontrolle sei etwas, das sich im Laufe der Jahre bei vielen Musikern abschleife. "Hier werden technische Anweisungen sofort umgesetzt, dafür bereitet die musikalische Flexibilität und der Umgang mit dem musikalischen Ausdruck deutlich mehr Schwierigkeiten." Außerdem muß ein solches Orchester natürlich erst zusammenwachsen. "Man kann das Glück haben, daß eine Gruppe - wie hier zum Beispiel die Posaunen - auf Anhieb homogen klingt. Da ist dann entweder mit Erfolg in den Sektionsproben gearbeitet worden oder die "Chemie" stimmte auf Anhieb." Andererseits gebe es Orchestergruppen, die sich noch zurechtrangeln müßten. Und wenn dann wie in den Holzbläsern die Stimmverteilung von Stück zu Stück wechselt, dauert das eben länger. Das Problem der Heterogenität sehen auch die Musiker selbst als größte Hürde an. Auch Sarah Shellman, Geigerin aus dem US-Bundesstaat Ohio, die in Cleveland das Vorspiel erfolgreich bestanden hatte, erfährt in der eigenen Stimmgruppe die Schwierigkeiten, die diversen nationalen Stilistiken der aus aller Welt stammenden Musiker unter einen Hut zu bringen. Einerseits seien da die erste Salzau-Phase mit Kammermusik, andererseits das konzise Dirigat Haenchens eine große Hilfe. Ins gleiche "Horn" stoßen der amerikanische Tubist Eric Bubacz und der Trompeter Raymond Rook aus den Niederlanden, die beide die Vorarbeit mit dem Solohornisten der Münchner Philharmoniker, Wolfgang Gaag, aber auch die Proben mit Haenchen uneingeschränkt würdigen.
Immer wieder wirbt Haenchen um jene Aufmerksamkeit, die diese wichtigen Brücken schlagen kann. "Hört euch da gegenseitig zu", mahnt er oder warnt vor plötzlichen Überraschungen in seinem Dirigat, die einen Blickkontakt zu ihm unerläßlich machen: "Vielleicht ist da nachher ein kleines Zögern - also Vorsicht!" Was bei Brahms noch ein wenig roh tönt, überrascht ausgerechnet in Anton Weberns schweren Orchesterminiaturen op. 6 bereits mit fein ausgehörten Strukturen. "Wir haben das schon am Vortag ausgiebig geprobt", rückt Haenchen den Eindruck gerade. "Papa, Bumm!" kommentiert der kleine Junge in der recht zahlreich zur Probe erschienenen Gasthörerschar die einzige wirklich explosiv laute Webern-Stelle. Aber die sechs Stücke erwiesen sich gerade deswegen als ideal, weil ihre Linien zart durch das ganze Orchester weitergereicht würden, erläutert Haenchen später: "Das zwingt zum Hinhören und macht es zugleich so gefährlich: Wie Spinnweben ist diese phantastische Musik. Wenn ein Knoten reißt, ist alles kaputt!"
Im dritten Satz von Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert reißen die Knoten noch reihenweise. "Unter Insidern gilt das Konzert als das schwerste überhaupt", gibt der Dirigent zu bedenken und bedauert, daß die Solistin Miriam Fried, mit der er zum ersten Mal zusammenarbeiten wird, erst am letzten Probentag nach Salzau kommt. Bis dahin werden ein paar gespenstische Solo-Löcher beim Probieren wohl weiterhin für Heiterkeit im Orchester sorgen. Zu Beginn des heiklen dritten Satzes erhält Haenchen Angebote genug: "So viele Solisten", schmunzelt er über das plötzliche Einsatz-Chaos, spannt seinen sprechenden Körper neu, wendet sich der sehr souveränen Konzertmeisterin zu, hebt den Taktstock - und gibt der Jugend eine neue, faire Chance. CHRISTIAN STREHK
Link zum Bericht über das Ergebnis der 1.Probenphase "Brahms in Blei und Tusche"