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01. March 2016 · Sistema Musica, Torino

Mahler, Berg und Lebenserfahrung

Hartmut Haenchen im Interview mit Gaia Varon für Sistema Musica

What are your memories of your beginnings in music education? Was there a moment when you knew that this was going to be your job?

Meine frühen musikalischen Erinnerungen kommen aus meiner Familie: Mein Vater - als er endlich aus Kriegsgefangenschaft nach Hause kam (ich hatte ihn bis dahin nie gesehen - , spielte sehr schön Laute, meine Großmutter (Pianistin) erblindete und ich erinnere mich der letzten Versuche an Ihrem Blüthner-Flügel, meine Mutter hörte, wann immer möglich, Wagner. Mein Klavier-Unterricht begann mit etwa 7 Jahren und dann begann auch meine Vorbereitung auf den Dresdner Kreuzchor. Ich gehörte dann mit 10 Jahren zu den 18 Schülern von 121 Kandidaten, die in den Chor aufgenommen wurden. Noch in der Vorbereitung durfte ich den Cantus-Firmus in der Matthäus-Passion von J.S. Bach singen. Mit 13 Jahren durfte ich meine ersten Proben im Chor leiten und das war wohl der Punkt, an dem ich beschloss gegen alle Widerstände, die später kamen, Dirigent zu werden. An meinem 15. Geburtstag dirigierte ich mein erstes Konzert mit Orchester in der Kirche, wo ich als Kantor mir etwas Geld für mein Studium verdiente. Ich war der Jüngste der Mitwirkenden von Soli, Chor und Orchester.

What were the most influential experiences in your music training? (teachers, performers, recordings, else.. )

Der Dresdner Kreuzchor unter Rudolf Mauersberger, Dietrich Fischer-Dieskau und Peter Schreier als Sänger (ich habe auch ein vollständiges Studium als Sänger), später Herbert von Karajan, Pierre Boulez, Arvid Jansons, die Aufnahmen von Carlos Kleiber.

What are the conductors (or other musicians) of the past and present times that you like most, and why?

Frank-Peter Zimmermann, der einzige wirkliche Nachfolger von David Oistrach. Beide hatten/haben die heute übliche Show nicht nötig, hatten es nicht nötig, der Musik Effekte abzuzwingen, sie gehen tief in die Musik und lassen diese sprechen. Ähnlich sehe ich Swjatoslaw Richter.

How important was for your life as a musician to grow up in East Germany? Do you believe there is a specific legacy?

In der ehemaligen DDR spielte Kunst und Kultur eine große Rolle. Die Sehnsucht der Menschen nach Kunst war groß und das Verständnis war hoch. In der Kunst konnten Botschaften transportiert werden, die den Widerstand motivierten. Auch in der Musik gab es Zeichen, die das Publikum verstand, aber gerade von der Politik nicht verboten werden konnten. Das Land war aber (abgesehen von Künstlern aus dem Osten) vom Rest der Welt abgeschottet.

It is sometimes said that East Germany orchestras had a very specific orchestral sound, different from the ones of the Western countries: do you agree? and, if yes, how?

Das stimmt, löst sich jetzt aber weitgehend in den letzten Jahren auf, da auch Orchester globalisiert werden. Ursache war, dass die Orchestermusiker auch die Lehrer waren, die an den Hochschulen unterrichteten und dann ihre Schüler wieder in „Ihr“ Orchester genommen haben. So entstand z.B. der dunkle Streicherklang der Orchester in der ehemaligen DDR. Auch bei Holz- und Blechbläsern gab es ähnliche Entwicklungen, dort auch, weil die Instrumentenbauer eben alle eng mit dem jeweiligen Orchester-Musikern zusammenarbeiteten und somit „Spezialanfertigungen“ entstanden, die anderswo nicht gespielt wurden.

When you study/ied a (new) piece, where do/did you start from?

Ich lese die Partitur, dann betreibe ich wissenschaftliche Studien, dann lese ich die Partitur vertikal, dann beginne ich horizontal jede Orchesterstimme mit Bogenstrichen, Artikulation, Phrasierung, Dynamik usw. (je nach Stil) zu bezeichnen, dabei lerne ich jede Stimme einzelnl. Ich lege aber nicht in erster Linie Wert darauf, ein Werk auswendig zu lernen. Ich versuche es inwendig zu lernen. Danach höre ich mir manchmal Aufnahmen der Werke an und vergleiche das Ergebnis mit meinen Erkenntnissen.

Once you have made certain choices, of tempo, dynamics, rubato, do you stick to them, or do you change your interpretation according to where and when you conduct the piece?

Eine grundsätzlich gefundene Linie verlasse ich nicht (manchmal nach vielen Jahren). Entsprechend des Orchesters und des Raumes mache ich aber immer Detail-Unterschiede.

As conductor, you worked and work with different orchestras. Up to what point do you change your interpretation according to the specific orchestra you are conducting? Which features of individual orchestra do you consider more important? Did it ever happen to you that a specific orchestra, maybe not even one among the best ones, gave new ideas about the piece you were playing?

Ich beginne die Probephase immer mit einem großzügigen Durchspielen. Damit sind für mich zwei Parameter klar: Was bietet mir das Orchester zusätzlich zu meinen Ideen, was ich in mein Gesamtkonzept einpassen kann und wo werden die Hauptschwerpunkte der Probenarbeit liegen.

What is the most difficult and/or the most challenging in conducting?

Die Willensübertragung.

It is very often heard that classical music audiences are ageing, that younger generations are less interested in classical music and that it is important and urgent to find ways to attract them: do you agree? What is your personal experience with audiences in your concerts?

Schon immer war das Publikum in klassischen Konzerten (im Durchschnitt) ein Älteres. Die Lebenserwartung ist glücklicherweise in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen, demzufolge auch die Anzahl der älteren Menschen, die klassische Musik hören wollen. In Ländern, wo eine gute Musikausbildung in den Schulen stattfindet, gibt es auch heute keine Probleme, Jüngere in die Konzerte zu bekommen, dort, wo die Ausbildung vernachlässigt wird, entstehen Lücken.  Eine natürlich Lücke in der Alterstruktur gibt es (schon immer) vom Ende der Studienzeit bis zur Selbständigkeit der Kinder in jungen Familien. Konzerte mit Eltern und Kleinkindern haben da (z.B. in Finnland) Abhilfe geschaffen. Als langjähriger Intendant weiß ich, dass Crossover kein Rezept ist, junge Menschen in ein klassisches Konzert zu bekommen. Wohl habe ich hervorragende Erfahrungen die Schwellenangst zu nehmen und mit klassischen Konzerten an Orte zu gehen, wo junge Menschen sich gerne aufhalten.

How important can classical music be for today's audiences or individuals? Do you believe it can impact on personal life? And on toughts and opinions?

Nicht nur meine Meinung und Erfahrung - es ist wissenschaftlich bewiesen: Die Subventionierung von klassischer Musik ist wesentlich kostengünstiger, als die hohen Zahlungen, die für Kriminalität und soziale Unterstützung nötig sind, die (auch) durch Mangel an klassischer Musik entstehen. Aber solange Gewinne privatisiert werden und Verluste sozialisiert, wird es für die Weiterentwicklung der Kultur in Europa schwer werden. Humanistische Bildung ist ein Bürgerrecht. Ihre Verweigerung ist inhuman und im höchsten Maße wirtschaftsschädigend, denn die Bildungsverlierer von heute sind die wirtschaftlich Abhängigen von morgen.(Fußnote: siehe Hartmut Haenchen in „Werktreue und Interpretation“ Band 2, Seite 170 - 183, Pfau-Verlag Saarbrücken, ISBN 978-3-89727-500-3)

How would you describe the importance of classical music to someone who is not used to listening to it?

Ich denke, dass dies mit der vorigen Frage beantwortet ist.

About your repertoire, which are the authors you love most? which styles and music periods interest you most, and why?

Ich habe immer angestrebt, ein breites Spektrum des Repertoires zu erarbeitet. Deswegen habe ich auch so viele „Spezialisten-Titel“ wie wenige Kollegen: Spezialist für alte Musik (mehr als 60 Wiedererstaufführungen), für Neue Musik (über 50 Uraufführungen), für die Vorklassik (Ersteinspielung aller 18 Sinfonien von C.Ph.E. Bach), Klassik (Haydn-Zyklus, Mozart-Zyklus, Beethoven-Zyklus, Schubert-Zyklus), Romantik (Brahms nach den Meininger Quellen, Strauss nach den Dresdner Quellen, Wagner Ersteinspielungen nach der Neuen Wagner-Gesamtausgabe und den Aufzeichnungen der Assistenten, 32 dirigierte Ring-Zyklen, 52 Vorstellungen von Parsifal, größter Mahler-Zyklus in Amsterdam mit nahezu 200 Veranstaltungen in drei Jahren und mit den 14 Büchern „Fiktive Briefe“ )

Especially, could you tell me about your relations to Mahler's and Berg's music? And to the pieces that you will be conducting in Turin?

Bekannt ist, dass Mahlers Witwe alle befreundeten Komponisten frug, die 10. Sinfonie zu vollenden. Alle haben es aus gutem Grund abgelehnt (Fußnote: Gustav Mahler „Fiktive Briefe“ von Hartmut Haenchen, Band 13, Pfau-Verlag Saarbrücken, ISBN 90-76718-01-6). Alban Berg, der auch gefragt wurde und ablehnte, nahm die Idee auf und schuf die „Drei Orchesterstücke“ nach dem Tod von Mahler 1913-14. (Umgearbeitet 1929). Er setzt in diesem Werk Mahlers Spätstil konsequent fort und setzt mit der Kopie des Hammerschlages aus der 6. Sinfonie von Mahler einen endgültigen Schlusspunkt unter Mahlers Schaffen. Die drei Sätze ergänzen den weitgehend vollständig erhaltenen Adagio-Satz von Mahler 10. Sinfonie nicht nur im Gestus, sondern auch in der Form, sodass eine viersätzige Sinfonie entsteht, bei der wir einen 1. Satz Adagio haben, einen zweiten Satz, der den thematischen Rhythmus der 10. Sinfonie übernimmt (er war mal als 1. Satz einer Sinfonie von Berg gedacht, da Mahler aber in seiner 10. das Adagio als Eröffnung ist, stellt Berg dies konsequent im Malerischen Sinne um, das Scherzo steht an klassischer Stelle und das Finale bringt den tödlichen Hammerschlag, den Mahler in seiner 6. selbst wieder gestrichen hatte. Aus meiner Sicht, die wirkliche Vollendung von Mahler Gedanken. Deswegen musiziere ich dies auch als geschlossene Sinfonie.

What is, in your opinion, the position - importance, value, impact, pleasure... - of Mahler's music today? and of Berg's?

Diese Frage habe ich meinen 14 Büchern über Mahler versucht zu beantworten.

What is your first aural memory?

Bomber und Bomben.

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Zur Zeit lese ich Irenäus Eibl-Eibesfeldt „Der Mensch - das riskierte Wesen“, Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft.
Ich sammle Werke des bedeutendsten deutschen Bildhauers des letzten Jahrhunderts Wieland Förster: www.haenchen.net/mediathek/bueste/
Meine Grafiksammlung ist spezialisiert auf Bäume, weil sie uns am Leben erhalten.
Jeden Morgen mein Yoga.