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21. March 2018 ·

Hartmut Haenchen zum 75. Geburtstag

Michael Ernst sprach mit Hartmut Haenchen

Frage: Herr Professor Haenchen, Sie sind in Dresden geboren, waren Mitglied des

Kreuzchores, haben mit der Dresdner Philharmonie gearbeitet und die Dresdner

Musikfestspiele geleitet. Auch Ihr zumindest häuslicher Lebensmittelpunkt

befindet sich in Dresden - warum sind Sie dennoch so selten in dieser Stadt zu

erleben?


Hartmut Haenchen: An mir liegt das nicht. Sicher gibt es verschiedene Gründe

dafür. Bei der Staatsoper habe ich vor etwa zwei Jahren ein Angebot absagen

müssen, weil die Arbeitsbedingungen nach der Premiere nicht so zu erwarten

gewesen sind, wie ich mir das künstlerisch vorstelle.

Ich bin eine Arbeitsweise gewöhnt, bei der man das Ergebnis nach der Premiere

weiterentwickeln kann und nicht zurückbauen muss. Deswegen habe ich abgesagt.

Sie können sich vorstellen, dass man da nicht so schnell wieder gefragt wird.

Mit der Dresdner Philharmonie hat mich nicht nur meine philharmonische Zeit

verbunden. Ich habe ja auch, nachdem die Stasi-Kollegen entfernt waren, wieder

viel mit diesem Orchester gearbeitet. Dasselbe gilt auch für meine Zeit bei den

Musikfestspielen. Ich kehre immer wieder sehr gern zur Philharmonie zurück.


Der Künstler gilt im eigenen Lande nichts - ist das ein Aspekt? Oder haben Sie

Ihre Fühler längst auf internationalem Terrain ausgestreckt?


Ich denke manchmal, dass es hier vor Ort tatsächlich so aussieht. Man darf aber

nicht vergessen, dass es viel gute Kunst, wunderbare Orchester und Opernhäuser

auch außerhalb Dresdens gibt. Da kann ich mich nicht beklagen. Bis auf die Met

bin ich so ziemlich überall gewesen, wo man mal gewesen sein müsste. Aber hin

und wieder im eigenen Bett hier in meinem Dresdner Haus schlafen zu können, das

ist auch nicht zu verachten, gewiss.


Hatte es Sie deswegen besonders gereizt, als Intendant die Dresdner

Musikfestspiele zu leiten?


Das war für mich schon eine spannende Erfahrung, weil ich hier über das Dirigat

hinaus mehr konzeptionelle und dramaturgische Ideen verwirklichen konnte. Auch

wenn vielleicht nicht alles in der Weise gelang, wie gewünscht, so bin ich doch

stolz darauf, dass ich gemeinsam mit meinem Team und zehntausend Bürgern die

Musikfestspiele erhalten konnte. Wie Sie wissen, sollten die ja 2004 aufgelöst

werden. Da habe ich etwas für Dresden bewegen können. Was die künstlerische

Seite anbelangt, haben mir diese Jahre viel Freude gemacht, auch wenn einige

Leute immer der Meinung waren, ich hätte als Intendant viel zu oft dirigiert.

Mein Nachfolger musiziert heute wesentlich mehr während der Festspiele, als ich

es je getan habe.


Immerhin werden Sie zu den nächsten Musikfestspielen gemeinsam mit ihm

auftreten. Eine Art Wiedergutmachung?


So sehe ich das nicht, eher als Geburtstagsgeschenk, auf das ich mich sehr

freue. Mit Jan Vogler habe ich schon mehrere Male zusammengearbeitet. Dieses

Konzert ist für uns beide sehr spannend, denn als wir über das Programm

sprachen, kamen wir rasch auf Schostakowitschs Cellokonzert, das wir beide sehr

mochten, aber damals noch nie gemacht hatten. Ein wirklich sehr tiefes Stück.

Wenn das jetzt unter dem Titel „Spiegel“ von altem und neuem Intendanten

gemeinsam aufgeführt wird, ist das doch eine tolle Sache.


Ein Blick ganz weit zurück: Wie prägend ist Ihre Zeit als Kruzianer unter

Rudolf Mauersberger für Sie gewesen?


Es war zunächst einmal der Wunsch, der sein zu wollen, der es besser macht. So

sehr ich Mauersberger verehrt habe, er war kein großer Dirigent. Aber ein großer

Erzieher, er war ein Förderer und Pädagoge. Für mich ist er ein enormer Lehrer

gewesen, der mir selbst da Freiheiten gegeben hatte, wo ich kritisch auf ihn

einwirken wollte. Das tut man ja mit Beginn der Pubertät. Ich bin damals in die

Sächsische Landesbibliothek gegangen und habe in alten Partituren gegraben. Er

hat das ebenso wie meine kompositorischen Anfänge unterstützt und mich mit etwa

14 Jahren schon erste Proben dirigieren lassen. Ich bin ihm zutiefst dankbar

für das, was er mir und vielen anderen gegeben hat.

Mauersberger war jemand, an dem man entweder scheiterte, oder der einen stark

machte.


Von Dresden aus in die Welt - die nächsten Stationen sind erst einmal 

Halle, Berlin und Schwerin gewesen, bevor es dann - überraschend? - 1986 als

Chefdirigent zur Niederländischen Philharmonie und wenig später als

Generalmusikdirektor an die Oper in Amsterdam ging. Gewiss kein geradliniger

Weg?


Ich hatte in der DDR ja praktisch fünf Jahre Dirigier- und Arbeitsverbot. Ganz

wenige wie Hans Pischner und Kurt Masur haben mich hin und wieder eingeladen.

Trotzdem wollte ich das Land eigentlich nicht verlassen. Aber als ich sah, dass

meine besten Jahre verstrichen, nahm ich 1985 eine Einladung nach Amsterdam an,

die „Elektra“ zu dirigieren. Da wurde man auf mich aufmerksam und lud mich ein,

die Niederländische Philharmonie und die Oper zu übernehmen.

Im Nachhinein sehe ich in meinem damaligen Dilemma auch viele positive Dinge.

Ich hatte ja Zeit - und konnte beispielsweise den kompletten „Ring“ studieren.

Ohne zu wissen, ob ich jemals einen dirigieren werde. Ich habe auch viel

geschrieben und mich musikwissenschaftlich betätigt. Ein zusätzlicher Trost war

das spätere Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, das mich zum

Künstlerischen Leiter gewählt hat und mit dem mich eine vierunddreißigjährige

Liebe und Freundschaft verbunden hat, die letztlich am Geld gescheitert ist.


Wie sind Sie als Deutscher, Ostdeutscher zumal, in den Niederlanden aufgenommen

worden?


Das war mehr als schwierig, ich hatte es im doppelten Sinne schwer. In einer

Zeitung wurde gefragt, ob man es nötig habe, dass ausgerechnet ein Deutscher

zwei der wichtigsten Positionen in den Niederlanden innehat.

Inzwischen haben meine Frau und ich die niederländische Staatsbürgerschaft

bekommen, weil man erkannt hat, dass ich für die Kunst dort sehr viel getan

habe. Das sehe ich als große Auszeichnung. Man muss ja bedenken, dass ich

damals mit der Aufgabe angetreten war, eine von der Politik beschlossene Fusion

von drei Orchestern umzusetzen und als Erster Chefdirigent die Oper komplett

neu aufbauen hatte. Die Niederländer sind aufgrund ihrer noch immer

reformatorischen Einstellung nicht unbedingt Opernliebhaber. Aber wir haben es

geschafft, haben ein Publikum entwickelt und V innerhalb kurzer Zeit eine

Auslastung von 97 Prozent erreicht.

Darauf bin ich ebenso stolz wie auf die Tatsache, den Holländern wieder Wagner

gebracht zu haben. Das war nach dem Krieg keineswegs ein leichter Weg.


Welche Ihrer Stationen - Paris, London, Madrid müssten erwähnt werden - haben

Sie besonders beeinflusst? Wo konnten umgekehrt Sie den größten Einfluss

geltend machen?


Überall auf der Welt geht es generell um ein gutes Verhältnis zwischen

Orchester und Dirigent. Die Chemie muss stimmen, sonst entsteht keine Kunst.

Von Vorteil ist sicherlich, dass ich auch Gesang studiert habe. Wenn ich heute

mit Sängerinnen und Sängern arbeite, spüren die das. Mein Beruf ist ein

Erfahrungsberuf. Ganz bei mir als Dirigent gewesen bin ich erst etwa mit 70.

Alles bis dahin war ein Suchen, Abtasten, Lernen, Erfahrungen auftun. Manches

von dem, was ich früher getan habe, würde ich gerne noch einmal machen.

Unabhängig davon, dass mir natürlich auch manches gelungen ist.


Immer wieder haben Sie mit historischen Textausgaben für Aufmerksamkeit

gesorgt. Das stieß nicht überall auf Akzeptanz, oder?


Man landet so schnell in Schubladen, in Deutschland bin ich bis heute der mit

dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und gelte als Experte für dessen

Musik. Zumal ich mich damals ja ausgiebig mit der historischen

Aufführungspraxis beschäftigen konnte. Dabei habe ich mehr als 50

Uraufführungen geleitet. Ich werde aber auch als Spezialist für Strauss

genannt, für Mahler, Wagner, Schubert, Schumann, für Mendelssohn, Beethoven und

Händel. Dabei bin ich aber auch niemand, der alles dirigiert. Ich muss das

Gefühl haben, dem Publikum etwas vermitteln zu können.


Was hat Sie bewogen, derart akribisch nach Originaleditionen zu suchen?


Ich glaube inzwischen, dass ich in meinen Schriften viele Fragen anspreche, die

hilfreich sind, dem Original auf die Spuren zu kommen. Auch in meiner Mitarbeit

bei Noteneditionen ist das sinnvoll, denn wissenschaftliche Ausgaben müssen ja

auch praxistauglich sein.


Wie war das beim Bayreuther „Parsifal“, den Sie 2016 vergleichsweise kurzfristig

übernommen hatten?


Da musste ich ja innerhalb eines Tages mit den Proben beginnen. Meine Bedingung

war, dass ich mit eigenem Notenmaterial kommen kann, in dem alle Erkenntnisse,

die ich bis dahin hatte, eingeflossen waren. Erst 2017 nahm ich mir dann noch

die Zeit, zusätzlich ins Archiv zu gehen und die Uraufführungspartitur im

Original zu studieren. Das konnte ich dann mit dem Orchestermaterial der

Uraufführung vergleichen, ein Aha-Erlebnis, denn Wagner unternahm ja während

der Proben noch einen zweiten kreativen Schritt. Das darf man nicht außer Acht

lassen.


War dieses späte Debüt auf dem Grünen Hügel eine Art Genugtuung für Sie?

Vielleicht auch die Wahl zum Dirigenten des Jahres 2017?


Ich hatte Bayreuth eigentlich vollständig für mich abgeschrieben. Dann lag da

plötzlich diese Last auf mir, der ich mich gern gestellt habe. Wohl wissend,

dass die ganze Welt darauf schaut.

Umso schöner dann diese Auszeichnung, mit der ich ja in einer sehr illustren

Reihe stehe. Damit wurde nicht nur mein „Parsifal“ geehrt, sondern ausdrücklich

meine ausländische Arbeit. Und zwar nicht die in Amsterdam, sondern die in

Lyon, wo ich ja auch mit einer Dresdner Arbeit, der „Elektra“ nach Ruth

Berghaus. Eine der bewährtesten Produktionen. Nach der ersten Probe wusste ich,

das wird ein Erfolg.


Wenn Sie nun 75 Jahre alt werden, wird da ein erstes Resümee gezogen? Oder eher

ein Zwischenergebnis mit dem Aufbruch zu neuen Ufern?


Ich habe natürlich Pläne. Wenn Körper und Geist mitmachen, würde ich das schon

noch gern tun wollen. Selbst wenn ich plötzlich nicht mehr dirigieren könnte

oder nicht mehr eingeladen werde, fällt mir immer noch genug ein, was ich tun

will. Solang der Kopf funktioniert. Nicht zuletzt habe ich acht Enkel, die sich

freuen würden, mehr von mir zu haben.