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05. August 2022 · Sächsische Zeitung

Dresdner Stardirigent lehnt frustriert Chefposten ab

Maestro Hartmut Haenchen klagt, dass er als Chefdirigent heutzutage zu wenig arbeiten dürfte. Also gastiert er und entdeckt gerade Qualitäten der Provinz.

Der Dresdner Hartmut Haenchen ist ein Dirigent der aussterbenden Art. Während gefragte Kapellmeister gern mehrere Positionen und im Zweifel auch auf verschiedenen Kontinenten innehaben wie der Leipziger Gewandhausorchester-Chef Andris Nelsons nimmt der 79-Jährige nicht mal eine an. Angebote erhält der ehemals langjährige Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper Amsterdam regelmäßig. „Doch der angebotene Arbeitsumfang mit einer Anwesenheit von nur acht bis zwölf Wochen entspricht nicht meinem Verständnis von diesem Amt. Da bin ich altmodisch. Ein Chef muss anwesend sein, alle Vorspiele erleben, das Programm mitentwickeln.“

So lässt sich Haenchen maximal auf die Position eines Gastdirigenten ein, die ihm die wichtigsten Opernhäuser und Orchestern der Welt für Projekte offerieren. Doch jetzt konnte ihn ein relativ junges, quasi unbekanntes Orchester in der niederländischen Provinz bis 2025 immerhin als Principal Guest Conductor, als Hauptgast-Dirigenten, gewinnen: das Noord Nederlands Orkest mit Sitz in Groningen.

Haenchen, der ja unverändert gut in den Niederlanden vernetzt und aktiv ist, war von der Offenheit und der Leistungsfähigkeit des Orchesters nach einer „Alpensinfonie“-Aufführung begeistert. Die Atmosphäre in der alten Universitätsstadt im Nordosten des Landes sei angenehm. „Früher habe ich immer die Angebote außerhalb der Metropolen weggeschoben“, sagt er. „Doch in den letzten Jahren ist die Qualität in der Provinz enorm gestiegen.“

Ein Grund, zumindest in den Niederlanden: Es gibt im ganzen Land nur noch acht Orchester (1985 waren es noch 21) und anderthalb Opernhäuser, aber zwölf Konservatorien mit jährlich Tausende Absolventen. Selbst ehemals mäßige Ensembles profitieren seit längerem davon.

Und so lässt sich auch der erfahrene Dresdner Kapellmeister auf das nordniederländische Sinfonieorchester ein, musiziert in Groningen und anderen, noch kleineren Städten. Ein Vorteil: „Ich kann dort Repertoire ausprobieren, denn ich mache weiterhin Neues.“ Der Musiker, der speziell Bruckner, Mahler und Wagner liebt und so ziemlich alles über sie weiß, hat einen neuen Lieblingskomponisten unter den zeitgenössischen entdeckt: den Niederländer Willem Jeths. „Der jetzt 62-Jährige schreibt eine Musik, die emotional ist und sich trotzdem mit unserer Zeit auseinandersetzt. Das gibt mir Hoffnung für die Entwicklung der modernen Musik.“

Und wie geht es sonst Maestro? Schöne Projekte wie ein „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper, ein „Tristan“ an der Metropolitan Opera New York, eine „Elektra“ in Moskau und ein kompletter Bruckner-Zyklus in Brüssel zerschlugen sich durch Corona. Es gab lediglich ein paar Streams und in den kurzen Pandemiepausen ein paar Aufführungen. Haenchen spricht von „heftigen Einschnitten“, rennt heute noch Rückerstattungen nach. Er hatte trotz Impfungen zweimal das Virus. Mit täglichem Training habe er versucht, die Zwangspause körperlich fit zu überstehen.

Das ist ihm offenbar gelungen, zumal er sagt, dass „ich im Alter bessere Musizieren als früher“. Er zitiert den Dirigenten-Kollegen Herbert Kegel: „Alles bis 50 sind Jugendsünden.“ Dirigieren sei Erfahrungssache, die Psychologie des Musizierens entscheidend. Die heutigen Orchester würde ohnehin keine selbstherrlichen und arroganten Pultlöwen, wie sie früher durchaus gang und gäbe waren, akzeptieren. Die jubelnden Kritiken seiner Konzerte und Opernproduktionen – von Haenchen auf seiner Website sorgsam dokumentiert – bezeugen, wie der ehemalige Kruzianer Orchester aller Couleur zu Höchstleistungen inspirieren kann.

Interessant ist dabei auch ein Phänomen, was den Bejubelten selbst amüsiert: Hartmut Haenchen wird auffallend oft von den Medien für extrem unterschiedliche Gebiete der Musik zum Spezialisten erklärt. So etwa als Experte für ...Alte Musik (Bayerischer Rundfunk), ...Barockmusik (Das Orchester), ...Frühklassik (digitaldvd), ...Musik des 18. Jahrhunderts (www.klassik.com), ...Neue Musik (Bayerischer Rundfunk) ...Joseph Haydn (Deutschlandfunk), ...Wolfgang Amadeus Mozart (Spiegel), ...Anton Bruckner (Het Parool), ...Johannes Brahms (Deutschlandfunk), ...Gustav Mahler (Der neue Merker), ...Richard Strauss (Deutschlandfunk), ...Richard Wagner (NRC Handelsblad), ...Dmitri Schostakowitsch (Frankfurter Neue Presse) und ...“Parsifal“ (Frankfurter Rundschau). Er sei er „einer der entschiedensten und erfahrensten Vertreter der historischen Aufführungspraxis“ (Süddeutsche Zeitung).

Bis zu vier Jahre im Voraus sind in Hartmut Haenchen Terminkalender Konzerte vereinbart. Neben dem Holland-Schwerpunkt des Dirigenten entwickelt sich gerade einer in Italien mit Produktionen in Venedig, Genua, Pisa, Triest und Bari. Nur Oper macht er immer weniger. Ein Grund: „Die Regisseure besetzen heute nach Aussehen und Typ, statt nach gesanglichen Qualitäten. Viele von ihnen kennen nicht die Partitur und nicht einmal den Text, sie vertrauen der Magie der Musik nicht. Ich sehe diese Entwicklung mit Sorge.“

Auch in Dresden wird er wieder zu erleben sein. Das Jahr 2023, wenn der Dirigent seinen 80. feiert, bringt einen Auftritt bei den Dresdner Musikfestspielen, die er von 2003 bis 2008 geleitet hatte. „Alle fünf Jahre bin ich im Programm.“ Spannungen mit seinem Nachfolger Jan Vogler gibt es keine. Im Gegenteil, beide haben in Dresden und anderswo miteinander gut musiziert. Haenchen, 2017 zum „Dirigent des Jahres“ von den deutschsprachigen Kritikern gewählt, kommt diesmal mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra und Besonderem in den Kulturpalast: Bruckners Siebte und das eher selten zu hörende Mozart-Konzert für zwei Klaviere und Orchester Es-Dur. Interpreten sind das Klavierduo der Brüder Lucas und Arthur Jussen.

„Es schließt sich ein Kreis: Mein erstes Konzert als Intendant in Dresden war das Konzert mit Mahlers 8. Sinfonie als Benefizkonzert für die Flutopfer 2002 mit diesem Orchester und nun komme ich mit „meinem“ Orchester nach 21 Jahren wieder mit einem monumentalen Werk zurück und mit der neuen niederländischen Generation der Solisten."

Bernd Klempnow