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Beethoven, Ludwig van: 9. Sinfonie

Zur Frage der Neuausgabe und Interpretation

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Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9
Anmerkungen zur ersten Aufführung in den Niederlanden in der von Jonathan Del Mar neu editierten Ausgabe im Concertgebouw Amsterdam, 1997.

Es mutet immer wieder erstaunlich an, daß so allgemein bekannte Meisterwerke wie Beethovens 9. Sinfonie nach 170 Jahren noch immer Gegenstand der Diskussion um den richtigen Notentext sind, der Beethovens Intentionen am nächsten kommt. Im Grunde basieren alle Ausgaben, die bis heute gebraucht werden, auf dem Erstdruck von 1826, der bei Schott in Mainz erschien. Natürlich ist jedem gewissenhaftem Dirigent seit langem bekannt, daß diese Ausgabe voller Fehler ist, und so habe ich in meinen bisherigen Aufführungen mein eigenes Orchestermaterial gebraucht, welches eine Unzahl von Korrekturen enthält, die ich im Vergleich mit einer in meinem Besitz befindlichen Kopie der autographen Partitur erstellt habe. Da ich meine Informationen ausschließlich aus der autographen Partitur bezogen habe, könnte man diese bisherigen Aufführungen als „Urfassung“ ansehen. Die neue Ausgabe hat alle heute noch verfügbaren Quellen (autographe Stimmen, Stimmen mit autographen Korrekturen, Stichvorlagen, Korrekturblätter, Briefe und Skizzen), die in verschiedenen Ländern verstreut sind, sorgfältig gesichtet und eine Fassung erarbeitet, die man als „letzte Fassung“ bezeichnen könnte, da sie konsequent die Reihenfolge der Quellen befolgt und jeweils die letzte überlieferte Version als Ausgangspunkt für die Drucklegung genommen hat. Hier stellen sich unzählige Fragen ein, ob denn die letzte Version auch der letzte Wille von Beethoven war oder ob zum Beispiel die Mängel, die historische Instrumente aufwiesen, Beethoven gezwungen haben, bestimmte Dinge gegen seine musikalische Idee zu verändern, um es ausführbar zu machen. Wenn zum Beispiel in der Kontrafagott-Stimme einige Noten verändert sind, weil der Umfang des Instrumentes nicht mit den ursprünglichen Vorstellungen des Komponisten übereinstimmte, so folge ich doch der ersten Idee des Komponisten, da wir über moderne Instrumente verfügen, die diesen von Beethoven ursprünglich gewünschten Umfang haben. Hier beginnt also bereits auf der Basis einer Neuausgabe wieder die Interpretation.
Dieses Prinzip, den von Beethoven gewünschten Umfang der Instrumente auszunutzen, der damals nicht zur Verfügung stand, ist ein Vorteil der Aufführung mit modernen Instrumenten, und ich nutze ihn konsequent.
Ein großer und sicher hörbarer Vorteil der neuen Ausgabe ist es, daß Beethovens ausdrücklicher Wunsch, mehr Klarheit in seine dynamischen Absichten zu bringen, welche aus drucktechnischen Gründen beim Erstdruck nicht realisiert wurden, hier umgesetzt werden konnten. Dabei geht es um die Bezeichnungen piu forte und piu piano, die von Beethoven manchmal als plötzliche Veränderung und manchmal als gleitende Veränderung (wie ein crescendo oder diminuendo) gemeint war. Natürlich war bisher jedem gewissenhaften Interpreten bekannt, daß dieser Unterschied bestand, doch blieb es bei der Festlegung immer ein Rätsel, ob man sich wirklich auf Beethovens Ideen bewegte. Als Klangergebnis wird die neue Ausgabe ein dynamisch weniger hartes Klangbild der dynamischen Unterschiede ergeben, als ich bisher vermutet habe, da viel mehr „weiche“ Übergänge von Beethoven beabsichtigt waren. Das gleiche gilt für den Streicherklang. Alle bisherigen Ausgaben hatten die Festlegungen Beethovens, was in den Streichergruppen geteilt zu spielen ist und was auf mehreren Saiten gleichzeitig zu spielen ist, nicht korrekt wiedergegeben. Auch hier zeigt sich, daß Beethoven in der Mehrheit einen weichern Klang durch geteilte Streichergruppen bevorzugt hat.
Neue Ausgaben enthalten auch wieder Schwierigkeiten, wenn sie alte Notationsweisen in den Stimmensatz des Orchesters übernehmen, weil sie Wissen bei dem einzelnen Musiker voraussetzen, welches nicht immer gegeben ist. So muß ich wieder Bindebögen über Verzierungen und Nachschlägen ergänzen, da die damalige Aufführungspraxis das ebenso voraussetzte, wie die Artikulation von Tonwiederholungen, die kurz waren, wenn nichts anderes vermerkt war.

Bleibt zu bemerken, daß für jeden, der sich einmal mit Beethovens fast unleserlichen Handschriften beschäftigt hat, die Diskussion und Auseinandersetzung mit Beethovens Notentext wichtige Grundlage ist, doch bleibt die Suche nach Beethovens musikalischer Botschaft die wichtigste Aufgabe für den Interpreten.

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