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Mozart, Wolfgang Amadeus: Die Entführung aus dem Serail

Musikalische Charaktere und Aufführungspraxis

Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail
Musikalische Charaktere und Aufführungspraxis, Programmheft-Beitrag für die Niederländische Oper Amsterdam, 1988

„Ach ich liebte“ singt Konstanze und wenn man diese Vergangenheitsform einmal wirklich wörtlich nimmt, steht man mitten in einer Problematik, die bei Aufführungen der Entführung oft übersehen wird. Diese Vergangenheitsform drückt aus, wo der eigentliche Konflikt dieses Werkes liegt: In der neuen möglichen Liebe zwischen Konstanze und Bassa Selim, die an der moralischen Kraft des Festhaltens an dem Treuegelöbnisses scheitert, die aber in Konstanze Spuren hinterlässt, die innere Martern sind und sie deshalb mit Recht keine Angst vor äußeren Martern hat, zumal sie von einem Mann, dessen ethischen Qualitäten Konstanze erkannt hat, und ihn deswegen auch im tiefsten Inneren liebt, weiß, dass er zu diesen Grausamkeiten nicht in der Lage wäre.

Da es für Mozart eine – bei heutigen Komponisten fast vergessene – Selbstverständlichkeit war, für bestimmte Sänger zu schreiben, führt uns eine Bemerkung in Mozarts Brief vom 26.9. 1781 an seinen Vater auf die Spur der musikalischen Sicht Mozarts: „Die aria von der konstanze habe ich ein wenig der geläufigen gurgel der Mad:selle Cavallieri aufgeopfert“. Das Wort „aufopfern“ zeigt deutlich, dass Mozart zum Ausdruck der Gefühle Konstanzes nicht Koloratur-Bravour vor Augen stand, sondern der tiefe Ausdruck. Das gilt es grundsätzlich bei der musikalischen Anlage zu berücksichtigen.

Die 1982 erschienene Partitur der Entführung in der Neuen Mozart-Gesamtausgabe bringt erstmals eine Edition nach dem Autograph und fördert damit Teile zutage, die bei bisherigen Editionen nicht vorhanden waren, weil sie in der zur Uraufführung benutzen Partitur-Kopie nicht oder nur teilweise enthalten waren. So steht also nun auch die Herausforderung an die Interpreten, sich für eine Fassung zu entscheiden, da ja Mozarts Striche nur in wenigen Fällen aus Gründen der musikalischen Verbesserung vorgenommen wurden, sondern um auf der einen Seite zu anstrengende Partien zu erleichtern – sowohl die Konstanze als auch die Blonde der Uraufführung waren gerade zweiundzwanzig Jahre alt im Jahr der Uraufführung – und auf der anderen Seite Rivalitätsgefühle zwischen sogenannten 1. und 2. Sängern einzugrenzen. Wir versuchen aus diesem Spannungsfeld eine Rekonstruktion, dabei spätere Quellen wie das originale Klavierauszugfragment einbeziehend. Darüber hinaus war es üblich, reine Orchesterstücke erst ganz zum Schluss zu komponieren und ebenso wie besondere Extrastimmen des Orchesters auf zusätzlichen Blättern zu notieren, die demzufolge nicht in der Partitur enthalten sind. So ist es zu erklären, dass bisher bei keiner mir bekannten Aufführung oder Schallplattenaufnahme der Janitscharenmarsch der dem Janitscharenchor vorangestellt ist, aufgeführt wurde, obwohl aus der schon immer bekannten Regieanweisung, dass „ein anderes Schiff mit Janitscharenmusik voraus landet“ und dann erst der Chor angestimmt wird, sich diese Tatsache ableiten ließe.
Trotzdem ist kaum anzunehmen, dass ein Schiff mit elf Instrumentalisten zusätzlich noch auf die nur 9,20 m breite Bühne des damaligen Burgtheaters gepasst hätte. So entscheiden wir uns für die (erstmalige) Ausführung im Hauptorchester. Vor allem aber auch – und so sind wir beim Ausgangspunkt – die Situation des Werbung des Bassa musikalisch schildern zu können, denn all diese „musikalischen Lustbarkeiten“ finden nur für Konstanze statt. Über die hier und an anderen Stellen verwendeten speziellen „Türkische Musik“ und ihrer speziellen Instrumente (Türkische Trommel, Triangel, spezielle Becken und einem Flageolett) ist durch Gerhard Groll im Vorwort der Neuen Mozart-Ausgabe Ausführliches gesagt. Da Mozart diese Instrumente bewusst als fremde Klangfarbe in seinem Orchester einsetzt, ist es selbstverständlich keine Frage von Vermischung zwischen historischem und modernem Instrumentarium, wenn wir auch den Klang dieser speziellen Instrumente als eine besondere Farbe einsetzten. Eine Klangfarbe, die auch für die andere Welt steht, in der sich die Drei von Seeräubern gefangenen und vom Bassa gekauften nun befinden und sie auf unterschiedliche Weise irritieren.

Wie klug Mozart mit dem Verhältnis zwischen Sprachmelodie und musikalischer Erfindung umzugehen wusste, beweisen seine Kompositionen immer wieder und ein typisches Beispiel dafür ist, wie er am Anfang der zweiten Belmonte-Arie das Ausrufezeichen nach „Konstanze“ in ein musikalisches Fragezeichen verwandelt, den ganzen Zweifel an der Treue hineinlegend. Wie aber, wenn man zusätzlich Appoggiaturen setzten muss, mit denen Mozart rechnete – wie man auf Grund von KV 36, KV 83 und La finta giardiniera – beweisen kann? Die Neue Mozart-Ausgabe gibt Anregungen für Appoggiaturen, aber vergisst dabei die Sprachmelodie und offensichtlich wichtige Quellen, die eindeutig aussagen, dass bei Fragen die Appoggiaturen von unten zu setzten sind.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass der Prozess des Lernens nie abgeschlossen sein wird und jede Interpretation nur ein Beleuchten von Teilaspekten sein kann, wenn man sich einem Meister wie Mozart nähern will.

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