Tempo, Aufführungspraxis und neue Erkenntnisse zur Partitur
Dieser Ausspruch von Gurnemanz umschreibt die Besonderheit von „Parsifal“, der in seiner dramaturgischen Großform ein Sonderfall ist. Keine Oper. Kein Drama. Kein Oratorium. Eine moderne, dialektische, binäre Struktur aus Handlung im klassischen Sinne und Reflexion. Der traditionelle Begriff von „Handlung“ wird aufgehoben. Handlung und Reflexion werden miteinander verwoben. Wagner erfindet bereits für das Vorspiel des 1. Aktes eine exemplarische, für das ganze Stück vollständig neuartige Form, die nicht mehr wie in seinen frühen Werken eine musikalische Inhaltsangabe ist. Es ist eine Form des Weiterdenkens während des Stillstands der Musik. In den Pausen finden gewissermaßen Zeitsprünge statt, die nach den Pausen hörbar gemacht werden. Dies alles ist wiederum nur interpretatorisch darstellbar, wenn die Tempoverhältnisse und das Grundtempo den grundlegenden Ideen des Komponisten entsprechen und die Inszenierung der Musik den „Raum“ für die „Zeit“ gibt. In den sinfonischen Teilen philosophiert der Komponist mit musikalischen Mitteln, in dem er sich eines veränderten Leitmotiv-Konzeptes bedient. Während die Leitmotive in früheren Werken die Gefahr in sich bargen, einfach Etiketten zu sein, erhalten sie im „Parsifal“ eine völlig neue Bedeutung hinsichtlich der Formbildung und der semantischen Funktion: Am Anfang stehen sie sich fremd gegenüber, sind klar voneinander getrennt. Im ganzen Werk gibt es keine einzige absolut notengetreue Wiederholung. Das Leitmotiv verändert sich mit den Figuren und den Situationen in einer psychologisch unglaublich feinfühligen Weise.
In „Parsifal“ begegnet uns Wagners sparsamste, wenn auch zweitlängste Partitur. Sein Verzicht auf den übergroßen Aufwand sowie auf eine wenig konkrete Ornamentik und Umspielung zeigt ihn auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Entwicklung, die Nebensächliches aussparen kann. Die Streicher erhalten eine größere Wichtigkeit in der Klangbalance, was auch ein Ergebnis seiner Erfahrung mit der Bayreuther Akustik aus dem Jahre 1876 ist. Wagner entdeckte, dass unter den Bedingungen des abgedeckten und steil abfallenden Bayreuther Orchestergrabens die Transparenz des Klanges erheblich leidet.
Beim Studium der Aufführungstraditionen von Wagners Werken fällt auf, dass etwa in den ersten siebzig Jahren der Existenz von Wagners Werken eine bestimmte Richtung der Temponahme feststellbar war, die auf der Übertragung von einer Generation zur anderen erfolgte und keine extremen Abweichungen aufweist. Diese Weitergabe der auf Wagner zurückgehenden Tempi erfolgte ohne Tonträger. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts - zusammenfallend mit dem enorm wachsenden Einfluss der Medien - beginnt sich eine Tendenz abzuzeichnen, die Extreme sucht, die nachweisbar weit von Wagners ursprünglichen Ideen abweichen, denn wir können nach allen historischen Dokumenten davon ausgehen, dass die Aufführungszeiten (sprich: Tendenzen des Tempos) der Uraufführung sicher in wesentlichen Aspekten Wagners Intentionen näher stehen, als die späteren Extreme.
Das gilt auch für „Parsifal“. Die Uraufführung 1882 unter Hermann Levi dauerte 4:04, wobei da noch die von Engelbert Humperdinck hinzu komponierten Takte abgerechnet werden müssen, 1888 unter Felix Mottl 4:15, 1897 unter Anton Seidl 4:19, 1901 unter Karl Muck 4:27. 1909 unter Siegfried Wagner gab es eine kleine Korrektur dieser Tendenz mit 4:22, 1931 unter Arturo Toscanini einen Rekord von 4:42 (38 Minuten langsamer als die UA). Auch in der faschistischen Zeit gab es eine Tendenz zu langsamen Interpretationen. Wagners Werk wurde nicht nur ideologisch missbraucht, sondern auch sentimental pathetisch verbrämt. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine umgekehrte Tendenz mit Clemens Krauss 1953 (3:44), um mit James Levine 1990 wieder in das andere Extrem zu verfallen (4:33). Den kürzesten „Parsifal“ in Bayreuth dirigierte 1967 Pierre Boulez mit 3:38. Ich selbst rechne mit der von Wagner geforderten leichten Beschleunigung mit einer Spieldauer von 3:54 und denke mit dieser Tempowahl den binären Charakter des Stückes zwischen Reflexion und Handlung zu treffen.
Die entstandenen Aufführungszeitenunterschiede von nahezu einer Stunde in dieser Oper sind keine Frage der Interpretation, sondern eine Missachtung der Partitur und der späteren Anweisungen, die Wagner selbst als Bestandteil der Partitur verstanden wissen wollte. Generell war er sehr sensibel, was die Temponahme betrifft. Cosima schreibt in ihrem Tagebuch am 20.11.1878: „Richard ruft wiederum aus:
Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt."
Bei einer Beurteilung des „richtigen“ Tempos helfen die überlieferten Quellen. Zunächst die Reinschriften von Wagners Partituren, die für sich genommen schon kalligraphische Wunderwerke sind und an Genauigkeit kaum zu übertreffen sind. Und doch sind seine handschriftlichen Partituren immer nur Ausgangspunkt und nicht Endpunkt seines künstlerischen Willens.
Eine wesentliche Rolle spielen die Aufzeichnungen der musikalischen Assistenten (Heinrich Porges, Hermann Levi, Felix Mottl und Julius Kniese) und mitwirkenden Künstlern wie seiner Kundry Marianne Brandt und seines Parsifals Alois Burgstaller, die nicht nur als interessante Beigaben zu betrachten sind, sondern laut Wagner unabdingbar zur Aufführung seiner Werke gehören und somit als Bestandteil der Partitur zu verstehen sind.
Heinrich Porges wurde von Wagner gebeten, die Zusätze zur Partitur aufzuzeichnen: „... hatte ich Ihnen für mein Unternehmen ein für die Zukunft allerwichtigstes Amt bestimmt. Ich wollte Sie nämlich dazu berufen, daß Sie allen meinen Proben (...) genau folgen, um alle meine, noch so intimen Bemerkungen in Betreff der Auffassung und Ausführung unseres Werkes, aufzunehmen und aufzuzeichnen, somit eine fixierte Tradition hierfür zu redigieren.“ Porges hielt entsprechend seines Auftrages fest: „Nirgends durfte ein unmotivirtes, nicht durch die eigenthümliche Natur der Situation gebotene Zögern oder Verweilen stattfinden“ und kurz darauf berichtet er über Wagner, „dass er jeder blos individuellen Willkür, und äußerte sich diese auch auf geniale Weise, abhold ist“.
Die genannten Assistenten und Künstler der Uraufführung des „Parsifal“ haben eine Unzahl von Bemerkungen überliefert, die Vieles in diesem Werk in anderem oder klareren Licht erscheinen lassen. Die Bemerkungen umfassen Tempoanweisungen, die zum Teil der gedruckten Partitur entgegenstehen, Textänderungen, Rhythmusänderungen, Tonhöhenveränderungen, Dynamik, Ausdruck, Sprache, Artikulation, Sprachakzente, Regieanweisungen, inhaltliche Erklärungen, Farben des Tones, Vibratofragen (sowohl non Vibrato als auch Vibratoanweisungen für Sänger und Orchester ) und Balancefragen zwischen Sänger und Orchester.
Diese Bemerkungen beziehen sich auch die Art der zu verwendenden Instrumente. Dementsprechend verwenden wir in Bayreuth z. B. einen Nachbau der originalen Donnermaschine, die in einer Scheune bei Bayreuth gefunden wurde. Beim Untergang von Klingsors Welt erklingt sie.
Auch bei der Klanggestaltung der Glocken in der Verwandlungsmusik des ersten Aktes des „Parsifal“ und später im Werk versuchen wir, Wagners Idee näherzukommen. Bei der Uraufführung nutzte Wagner vier verschieden große Tamtams, beklagte aber deren ungenaue Tonhöhe und spottete andererseits über die Glasglocken, die sich im Münchner Theater befanden. 1881 schrieb Cosima Wagner an den Bayreuther Klavierbauer Steingræber und brachte ihn mit Wagner in Verbindung, um die sogenannten „Parsifal-Glocken“ zu bauen, die bis heute als Standard für die Ausführung gelten. Diese „Glocken“ bestehen im Prinzip aus überdimensionalen Klaviersaiten, die über Tasten angeschlagen wurden (im neueren Modell mit einem Schlägel), lassen aber den diffuseren, unregelmäßig obertönigen Tamtam-Klang vollständig vermissen. Schon bei der Uraufführung wurde das ursprüngliche Instrument mit Tamtams und Basstuba kombiniert. Für die Bayreuther Aufführungen 2017 wird wieder das Steingræber-Instrument dem bisherigen Klang zugefügt.
Auf der Grundlage aller Quellen wurde von mir ein komplettes Orchestermaterial erstellt, da zur neuen Partitur-Ausgabe, die die zusätzlichen späteren Anweisungen nicht enthält, noch kein gedrucktes vorliegt. Hinzu werden dieses Jahr in ein nochmals vollständig überarbeitetes Orchestermaterial neue Informationen, die mit der zum Teil willkürlichen Drucklegung aus der Aufführungspraxis verschwunden waren, aus der Uraufführungspartitur mit allen Einzeichnungen von Hermann Levi und vor allem aus den Uraufführungsstimmen eingearbeitet. Beide Quellen zusammen zeigen, wie Wagner „Parsifal“ bei der Uraufführung ausgeführt haben wollte und wie er das Werk schließlich gehört hat. Einige tausend Einzeichnungen ergeben ein deutliches Bild von Wagners Vorstellung der Ausführung.
Bei den Stricharten, die alle im Detail von mir bezeichnet wurden, konnte auch der von Wagner immer wieder geforderte Unterschied zwischen der „unendlichen Melodie“ einerseits und der erzählenden Musik andererseits, hergestellt werden. Dies mit dem Mittel unterschiedlicher Bogenführung zur Herstellung der großen Linie, wo sie erforderlich ist.
Um auf die Frage der für mich entscheidenden Frage des Tempos zurückzukommen, lassen sich verschiedene Tempostufen den Ebenen Reflexion und Handlung bzw. Erzählung und Emotion zuordnen.
Kundry ist mit Sicherheit die Kernfigur des Stücks, deren längster Kuss der Musikgeschichte nicht nur musikalisch-architektonisch als zentraler Punkt des Werkes betrachtet werden muss. Kundry durchschreitet Zeitgrenzen, sie fällt an einem Ort in tiefen Schlaf, um andernorts in anderer Existenz wieder aufzuwachen. Sie ist die Zerrissene, die viele Figuren in sich vereinigt, was sich auch in den ihr zugeordneten Tempi zeigt. Im ersten Akt durchschreitet sie alle Tempovariationen wie in einem Bogen: »Langsam« beginnend und dann hauptsächlich »Lebhaft« (also die schnellste Bezeichnung) und wieder zurück zu »nur Ruhe will ich«. Im Gespräch mit Klingsor zu Beginn des zweiten Aktes hat sie immer langsamere Tempi als dieser. Erst wenn sie – wie Heinrich Porges, Wagners musikalischer Assistent bei der Uraufführung, aufschrieb – »zum 1. Mal zu Kräften kommt« bei »Ich will nicht«, übernimmt sie Klingsors schnelles Tempo, um in der »Mutter-Erzählung« wieder auf das ruhige, aber nicht langsame, wiegenliedartige Tempo zurückzugehen. Dieses setzt Wagner eindeutig in eine klare Relation zum vorhergehenden Tempo, was mehrheitlich von den Dirigenten nicht umgesetzt wird. Kundry wird selbst zur »Mutter«. Ihr Tempobogen entspricht bis dahin genau der Struktur des ersten Aktes. Erst in der Christus-Erzählung bricht sie vollständig aus und wird schnell.
Amfortas ist das männliche Gegenstück der Kundry. So wie der »Sündenfall« des Lachens als Ursache ihrer Gespaltenheit erscheint, wird sich Amfortas durch den »Sündenfall« der Begegnung mit Kundry der Widersprüchlichkeit des Gralsrittertums bewusst. Sein Leiden ist also metaphorisch ewig. Dies ist bei Wagner durch Tempi wie »Schwer, aber nicht gedehnt« charakterisiert und bleibt selbst in emotionaler Aufregung »Mäßig«. In Amfortas’ Dialog mit Gurnemanz hat Letzterer immer die schnelleren Tempi. Nur im Gespräch mit seinem Vater wird Amfortas lebhaft. Die Entsprechung zu diesen Tempoverhältnissen gibt es im dritten Akt, wenn er gezwungen werden soll, den Gral zu enthüllen. Die Weigerung entspricht dem Tempo des ersten Aktes. Pausen sind bei Wagners Musik wesentlicher Bestandteil der Schilderung des Leidens: Heinrich Porges berichtet aus der Probenarbeit mit ihm: »Amfortas spricht unrhytmisch« gleich die ersten Worte »›Recht so‹ habt Dank! Ein wenig Rast.« Auch hier wird, wie beim Vorspiel des ersten Aktes, der Beginn mit einer Pause und der kurze Text durch drei immer länger werdende Pausen durchbrochen.
Parsifal wird entscheidende Entwicklung im Werk ermöglicht, weil er in der Lage ist, sich ohne Manipulation mit menschlicher Empfindung der Welt objektiv und in positiver Weise naiv gegenüberzustellen. Wagner stellt uns aber keinen idealen Menschen vor. Dass Parsifal fehlerhaft ist, dies erkennt, nach persönlicher Vervollkommnung strebt und Taten statt Worte will, ist das Heldenhafte an ihm. So muss als logische Konsequenz ein großer Zeitraum zwischen dem zweiten und dritten Akt liegen, da er noch viele Erfahrungen sammeln muss, bevor er in der Lage sein wird, seine Erkenntnisse umzusetzen. Wagner lässt den Erfolg Parsifals am Schluss szenisch wie musikalisch offen. Zwar übernimmt er das Amt Amfortas’, doch wird nichts mehr musikalisch über Parsifal ausgesagt oder gar über seine sieghafte Zukunft, da er allein steht. Das kämpferische Parsifal-Motiv wird ausgespart, weil er die Veränderung nicht allein bewältigen wird. Die Parsifal zugeordneten Tempi sind schnell bis mäßig belebt. Nur nach dem Kuss an zentraler Stelle des zweiten Aktes und somit des ganzen Werkes nimmt Parsifal das schnelle Tempo von Kundry auf, um nach der »Erkenntnis«, die er am Ende des zweiten Aktes macht, im dritten Akt das ruhigere Tempo von Gurnemanz aufzunehmen und so seine Nachfolge auch musikalisch anzutreten. Parsifals Tempi werden also exakt von den Erkenntnissen der ihn beeinflussenden Menschen bestimmt.
Klingsor und Titurel sind die Antipoden, die in ihren Extremen der Handlung die äußersten Pole bieten. Titurel stellt in seinem Irrtum, dass Keuschheit Sinnlichkeit verdrängt, das Keuschheitsdogma auf. Klingsor weiß, dass die Gralsritter an diesem Punkt scheitern werden, weil er die Heuchelei und Lüge eines solchen Dogmas als unmenschlich und als nicht zu verwirklichen durchschaut. Entsprechend ist Titurel das langsamste Tempo zugeteilt und Klingsor das schnellste.
Gurnemanz ist in Wagners Werk die einzige Figur, der nicht unmittelbar eine charakterisierende Musik in Form eines Leitmotivs zugeordnet ist, obwohl es mit Abstand die größte Partie des Werkes ist. Damit stellt Wagner ihn bewusst mehr als Erzähler außerhalb der Handlung dar. Um die Figur aber dramaturgisch einzuordnen, muss man Gurnemanz’ umfangreiche Erzählungen als Schmerz über die verlorene Macht begreifen. Er versucht im dritten Akt – losgelöst von der untergehenden Ritterschaft – seine Ideale zu leben und muss erkennen, dass er ohne Gemeinschaft erfolglos bleiben wird. So ist er es, der die Zukunftsmöglichkeit durch Parsifal erkennt. Gurnemanz teilt die Zeit in ein »Jetzt« und ein »Davor« des Erzählten. Das »Jetzt« ist immer langsamer, so wie die Gralsbrüder sich auch in Ihrer Aktivität »festgefahren« haben. Das »Davor« ist vorwiegend erzählend »Mäßig bewegt«.
Die hier angedeuteten Tempoverhältnisse haben nicht nur eine unmittelbare, das jeweilige szenische Geschehen ausdruckshaft verdeutlichende Funktion, sondern berühren die musikalische Architektur des ganzen Werkes. Die musikalische Struktur und eine dieser folgenden musikalischen Interpretation im Sinne einer differenzierten Ausgestaltung der Tempi findet ihre Entsprechung in der szenisch-dramatischen Gesamtgestaltung. Bühne und Graben werden so eine Einheit.