Wie die Mehrzahl der Komponisten änderte auch Bruckner während des Kompositionsprozesses. Auch die Satzfolge wurde noch vor der ersten Probe in die traditionelle Reihenfolge mit dem Adagio an zweiter Stelle gebracht und gleichzeitig um einen Teil vor der Coda des langsamen Satzes ergänzt. Alles Änderungen, die Bruckner als künstlerisch wichtig empfand. Und dies ist auch der entscheidende Punkt für die Frage nach der Fassung. Uns liegt der Erstdruck von 1892 vor, wo Bruckner noch kleinere Änderungen hinzugefügt hat, eine Ausgabe von Robert Haas, die verschiedene Fassungen gleichzeitig in Partitur gebracht hat. Leopold Nowak hat versucht, die zweite Fassung von 1876/77 in Partitur zu bringen und dazu Robert Hass’ Druckspiegel verwendet. William Carragan hat nach Nowaks Tod eine sogenannte erste Fassung herausgebracht, die aber Bruckner nie akzeptiert und nie aufgeführt hat. Es ist also eher eine imaginäre Fassung. In den beiden parallelen jetzt nach und nach erscheinenden Neuausgaben (MVW und Bruckner Edition Wien) ist noch keine Version der 2. Sinfonie erschienen. Nun lege ich den Versuch vor, die Sinfonie so zu erarbeiten, wie sie Bruckner selbst mit großem Erfolg 1873 dirigiert hat. Trotz des Erfolges gab es von Freund und Feind viele wohl-gemeinte Vorschläge, die Sinfonie zu „verbessern“. Diese Änderungen halte ich nicht für wirklich Bruckners Absicht, höchstens ein pragmatisches Zugeständnis an das Verständnis seiner Zeit.
Wir besitzen in der Österreichischen Nationalbibliothek das Autograph Bruckners mit seinen Änderungen. Aber bei den Änderungen unterlaufen ihm auch Fehler. Ein Beispiel: Wenn er „Langsam“ als Korrektur hinzufügt und vergisst, dass er früher schon an späterer Stelle „Etwas langsamer“ geschrieben hat, was dadurch natürlich hinfällig ist und er es nur vergessen hat zu tilgen, erscheint dies in allen Druckausgaben und sorgt für Verwirrung bei Dirigenten und Musikern.
Glücklicherweise haben wir nicht nur die Partitur als Autograph sondern auch noch die Orchesterstimmen, die ursprünglich für die Testprobe 1872 bei den Wiener Philharmonikern unter Felix Otto Dessoff geschrieben wurden und dann für spätere Aufführungen, auch zweimal munter Bruckner, verwendet wurden. Die Stimmen werden in der Stiftsbibliothek von Sankt Florian bewahrt. Einige Stimmen sind teilweise verklebt und nicht mehr lesbar, aber der Großteil ist in gut leserlichen Zustand. Nun galt es, genau zu unterscheiden, wann und warum die zahlreichen Änderungen in die Stimmen kamen. Eindeutig sind die mit anderer Tinte eingetragenen Änderungen und Überklebungen als von Bruckner angewiesene Änderungen vor der Uraufführung zu identifizieren. Schwieriger wird es zu entscheiden, welche Änderungen mit Blei- oder Buntstift im Rahmen der Proben zur Uraufführung eingetragen wurden und nicht im Autograph stehen und welche, die nach der Uraufführung an Bruckner herangetragenen Änderungen sind. Glücklicherweise finden wir vier verschiedene Arten der Änderungen: In rot, blau, grün und Bleistift (Letztere nach der Schrift zu urteilen von Musikern in Proben eingetragen). Schließlich kann man die Einzeichnungen mit einiger Geduld gut zuordnen, wenn man sie vergleicht, ob sie vor oder nach Bruckners autographen Änderungen zugefügt wurden.
Interessant bleiben natürlich Bruckners undeutliche Tempoangaben. Auch wenn wir die Uraufführungsfassung rekonstruieren wollen: Bruckner hat offensichtlich die Erfahrung gemacht, dass andere Dirigenten seine Tempo-Vorstellungen nicht verwirklichen.
Und so ist an den späteren Korrekturen deutlich zu sehen, dass er Missverständnissen vorbeugen wollte.
Im 1. Satz wird aus „Ziemlich schnell“ nun „Moderato“ . Also war ihm eine Aufführung zu schnell. Im 2. Satz wird aus „Adagio“ nun „Andante“. Also war ihm eine Aufführung zu langsam. Im 3. Satz wurde im Stimmensatz teilweise von „Schnell“ auf „Mäßig“ korrigiert. Offensichtlich von Musikern, die das Tempo nicht als „Schnell“ empfanden.
Generell für die Bruckner-Interpretation ist die Tatsache hoch interessant, dass im Laufe der Arbeit vor der Uraufführung so viel „rubato“ und „rubato sempre“ zugefügt wurden, wie in keiner anderen Sinfonie. Ein deutliches Zeichen für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Aufführungsstil allgegenwärtige Flexibilität des Tempos, wie wir das auch von Brahms kennen. Später haben Mahler und Berg diese Flexibilität auch in den Partituren festgelegt, als dieser Stil nicht mehr allgegenwärtig war.