Texts

Kraftvolle Musik

„Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“

Textentwurf für Programmhefte von Hartmut Haenchen:

Im Gegensatz zu seinem „hocherhabenen“, „heißgeliebten Meister“ Richard Wagner, der seine Werke in immer feineren Übergängen vorantrieb, herrscht bei Anton Bruckner das kraftvolle Neben- und Gegeneinander. Eine Montagetechnik, die beliebig viele Anläufe für einen Höhepunkt möglich macht. Erst im Spätwerk ab der 8. Sinfonie gibt es mehr durchkomponierte Übergänge. Bis dahin ist die Pause der Moment, in denen sich die Musik unhörbar weiterentwickelt. (Wagner hat diese Idee in umgekehrter Entwicklung seines Musikstils in seinem Parsifal zur Vollendung geführt) „Feierlich“ sollten seine Sinfonien sein. Und er folgt damit einem bereits aus der Entstehungszeit der sinfonischen Form stammenden Grundsatz. Und „groß“ und „erhaben“, wie es damals gefordert wurde, sind seine Sinfonien ganz sicher. Die wenigen Beispiele der sinfonischen Großform von Beethoven (9. Sinfonie), Schubert (Große C-Dur), Mendelssohn (Lobgesang) weitet er ins gigantische. Die heute wenig gespielte 1. Fassung seiner 3. Sinfonie ist der erste Schritt in eine neue monumentale Form, die seine Zeitgenossen verwirren musste, wie jede große musikalische Neuerung in der Musikgeschichte. Auch in der Themenerfindung geht er weit über die klassischen Vorbilder hinaus: Der Entwicklungsprozess seiner Themen endet nicht, wie in der Klassik, mit der Durchführung, sondern setzt sich bis in die Coda fort. Seine Themen sind immer weiträumig, es gibt kaum ein Thema, welches nicht die Oktave überschreitet. Gerade diese auf Quinte und Oktave beruhenden Themen stellen aber jeden Interpreten vor die schwierige Herausforderung, diese in der kontrapunktischen Arbeit sich ständig überschneidenden und damit des kontrapunktischen Widerstandes beraubten Themen auch als solche hörbar zu machen. Obwohl Bruckner Lehrer für traditionellen Kontrapunkt war, hat er für sich selbst neue Lösungen gefunden. Guido Adler nennt deshalb Bruckners Arbeitsweise zu Recht den „polyphonierenden“ Satz. Die Einführung eines dritten Themas, wird bei ihm zum Standard, was es vorher nur ausnahmsweise gab. Für Bruckner war es die Möglichkeit, überall eine Choralform hinzuzufügen. Charakteristisch für seine musikalischen Höhepunkte ist das Unisono des Rhythmus, womit er vorherige Entwicklungen zusammenfasst. Wohl auf keinen anderen Komponisten trifft Schopenhauers Satz besser zu, als auf Bruckner: „Die Musik ist eine unbewußte Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert“. Er wollte eine Form entwickeln, „die der überirdischen Ordnung nachzustreben … sucht“. Mit fortschreitender Sinfonien-Zahl entwickelt er die Blechblasinstrumente weg von der früher üblichen harmonischen Füllfunktion zur dominierenden und thematisch bedeutenden Instrumentengruppe.

Das Bruckner von Anfang an auf einem sehr persönlichen Niveau mit der Komposition von Sinfonien begann, ist auch darauf zurückzuführen, dass er erst sehr spät - im Alter von 40 Jahren - mit dieser Form zu experimentieren begann. Trotzdem muss jeder Interpret sorgfältig darauf achten, die Frühwerke Bruckners nicht aus der Sicht seiner Spätwerke zu interpretieren, sondern auch die Nachwirkungen seiner Vorbilder hörbar zu machen.

Seine wenigen inhaltlichen Erläuterungen im Sinne der „neudeutschen Programmmusik“ sind entweder sehr naiv oder ein sarkastischer Spaß für die „unwissenden“ Literaten oder weitaus trockner an den Dirigenten Hermann Levi, während er es für die 8. Sinfonie an Felix Weingartner nahezu komisch „neudeutsch“ formuliert. Aber Bruckner war sicher nie ein „neudeutscher“ Komponist. Seine Stärke lag in der Weiterentwicklung der überkommenen Formen wie Messen, Te Deum, Streichquintett und Sinfonien. Sinfonische Dichtungen waren nicht Bruckners Sache und sein Verhältnis zum künstlerischen Wort war trotz später Gedanken über eine Oper, die einen Stoff wie Lohengrin haben sollte, sicher sehr gering. Auch die von Bruckner immer wieder dargestellte Künstlerfreundschaft mit Wagner, war Bruckners Erfindung und eben ganz einseitig. Die künstlerischen Ziele lagen weit auseinander und Wagner selbst wollte seine Neuerungen nicht auf die Form der Sinfonie übertragen wissen.

Bei Fragen der Instrumentation hielt er sich an den klassischen Kanon: Die Klassik schloss Schlagzeug in sinfonischen Werken aus. (Die Pauke galt mit ihren tonalen Bindungen zu Recht als Musikinstrument) Die Ausnahme in der Klassik waren nur die Stücke, die eine fremde Musik (z.B. türkische Musik) charakterisieren sollten. Insofern lag es Bruckner sicher ganz fern, einen Beckenschlag aus eigenem Antrieb in seine Sinfonien einzubauen. Die Brüder Schalck, einer Generation wie Gustav Mahler oder Hugo Wolf angehörend, hatten diese Skrupel nicht, darum waren sie glücklich, als Bruckner den Beckenschlag in der 7. Sinfonie, den Arthur Nikisch initiierte, gestattete. Bei allem Effekt, den er macht: Er ist ein Fremdkörper in Bruckners Klangwelt. Auf der anderen Seite hätte Bruckner den eingeklebten Zettel mit dem Beckenschlag auch wieder aus seiner Partitur herausnehmen können, wenn er ihn absolut nicht hätte haben wollen, denn er wusste ja, dass die Partitur so in die Nationalbibliothek in Wien gelangen würde und damit auch den Status des letzten Willens des Komponisten erreichte. Auch mit den Harfen hat er sich schwer getan, sie ins Orchester einzufügen. Dagegen hat er Siegfried Ochs’ Vorschlag im Te Deum eine 3. Pauke mit einem h-Wirbel hinzuzufügen freudig begrüßt. Mit anderen Worten sah er es durchaus als legitim an, die Stellen, die für die üblichen zwei klassischen Pauken nicht spielbar waren, zu ergänzen, was heute durchaus auch eine Maschinenpauke zu leisten im Stande ist. Für Bruckner waren alle Aufführungen auch der späten Fassungen work in progress.
Dynamische Veränderungen wünschte er vielfach auch noch nach der letzten Fassung. Dies auch deshalb, weil viele dynamische Bezeichnungen eher die herrschende Stimmung als die tatsächliche Lautstärke umschreiben und somit auch missverständlich sind. In mehreren Fällen sorgt Bruckner selbst auch für Verwirrung: So schreibt er z.B. in der 3. Sinfonie am Anfang des zweiten Satzes in der 1. Fassung eine dreitaktige crescendo-Gabel und in der dritten Fassung teilt er diese Gabel in zwei und einen Takt ein, was genau genommen eine Unterbrechung des crescendo bedeutet. Der Vergleich mit musikalisch identischen Stellen und im Zusammenhang mit der ursprünglichen Idee ist diese Notation mit größter Wahrscheinlichkeit ein Irrtum Bruckners.


„Ich Esel !!!“ (Die Fassungen)

Bruckner, der geniale, große Improvisator auf der Orgel, war immer in der Lage, gleiche Grundgedanken unterschiedlich zu beleuchten. So müssen wir auch die Vielfalt der Fassungen seiner Sinfonien verstehen. Selbstverständlich verbieten sich die nicht autorisierten Fassungen von selbst. Die 1. Versionen sind immer die archaischsten und kompromisslosesten und bieten einen ganz speziellen Reiz beim Vorstoß in Neuland. Warum gibt es dann so viele Fassungen einiger Sinfonien?
Auf der einen Seite war Bruckner beim Streben aufgeführt zu werden auf den guten Willen von Schülern und Freunden angewiesen, die wie er Wagner verehrten, die aber Wagners Klangwelt auf Bruckner übertragen wollten. In den ersten Aufführungsjahren wurden seine Werke nahezu nie ohne Retuschen gespielt. Man wollte Wagners Klang in Bruckners Musik hören. Das war das grundlegende Missverständnis. Bruckner hat dieses Missverständnis bei einigen seiner Umarbeitungen selbst ein wenig unterstützt, wenn er in diese Richtung änderte. Andererseits hat die Chromatik bei Bruckner nie die Erotik Wagners erreicht oder erreichen wollen, aber harmonisch war manchmal Bruckner Wagner sogar deutlich voraus.
Wohlmeinende Freunde berieten ihn in vielen kompositorischen Fragen, was er anders machen müsste, um aufgeführt zu werden. Im Einzelfall ist es schwer zu unterscheiden, wo ihn der gute oder schlechte Rat anderer Bruckner beeinflusst hat. Auf jeden Fall sind auch die Versionen auszuschließen, die er zwar genehmigt hat, die aber für ihn nur pragmatische Lösungen waren, um überhaupt aufgeführt zu werden: „Bitte sehr, das Finale so wie es angezeigt ist, fest zu kürzen; denn es wäre viel zu lange und gilt nur späteren Zeiten und zwar für einen Kreis von Freunden und Kennern.“ Bruckner kam nach eigenem Bekunden oftmals zu anderen Lösungen; und vieles hat er eindeutig „aus eigenem Antrieb“ gemacht. Mal fand er zu hohe technische Schwierigkeiten durch „unspielbare Violinfiguren“, mal war „die Instrumentation … zu überladen“, mal waren es zu große Längen, die „Sucht nach Imitationen“ oder zu viel „Oktavenfortschreitungen“. Auf der anderen Seite gab es durchaus Freunde wie Hans Richter, der am häufigsten zu Bruckners Lebzeiten seine Werke aufführte, Hermann Levi und Gustav Mahler (letzterer kürzte gelegentlich in Bruckners Sinfonien), die den Wert der ursprünglichen Fassungen erkannten und verhindern wollten, dass die ursprüngliche, manchmal revolutionäre Sprache Bruckners verloren geht: „… es ist Alles gut, wie es ist, auch die Instrumentation!“

Nach allem Für und Wider gegen jede Fassung sollten wir dem Komponisten vertrauen, der bei Empfehlungen an Dirigenten durchaus jeweils der entsprechenden Situation auf frühere Versionen hätte zurückgreifen können. Nach Bruckners Zeugnissen ist zumindest für die Sinfonien Nr.1, 3, 4, 6, 7 und 8 belegt, dass Bruckner jeweils die letzte Fassung für die gültige ansah. Um Bruckners Werkstatt zu verstehen, haben natürlich auch alle früheren Versionen, die keine pragmatischen Veränderungen aufweisen, ein Aufführungsrecht und zeugen oftmals deutlicher von den revolutionären Ideen Bruckners.
Konsequenterweise haben wir für die Einspielung der 8. Sinfonie Bruckners für GENUIN die zweite und letzte Fassung von 1890 gewählt. Dieser war der Ausruf vom auserkorenen Uraufführungsdirigenten Hermann Levi vorausgegangen: „Aber ich bin furchtbar enttäuscht. Tagelang habe ich studirt, aber ich kann mir das Werk nicht zu eigen machen. ...ich finde die Instrumentation unmöglich, und was mich besonders erschreckt hat, ist die große Aehnlichkeit mit der 7ten, das fast Schablonenmäßige der Form. - Der Anfang des 1. Satzes ist grandios aber mit der Durchführung weiß ich gar nichts anzufangen. Und gar der letzte Satz - das ist mir ein verschlossenes Buch. “ Von den Brüdern Schalck wissen wir von Bruckners Reaktion: „Er fühlt sich noch immer unglücklich und ist keinem Trosteswort zugänglich.“ Bruckner nahm sich die Hinweise aber zu Herzen und schrieb: „Freilich habe ich Ursache, mich zu schämen - wenigstens für dießmal - wegen der 8ten. Ich Esel !!! Jetzt sieht sie schon ganz anders aus“. Aber auch das war ihm nicht genug: „Die 8te Sinfonie ist fertig, doch mache ich hie und da Kürzungen und Veränderungen in der Instrumentation.“
Den Inhalt der Sinfonie formulierte er an Felix Weingartner nahezu komisch „neudeutsch“ und wir müssen uns fragen, in wie weit wirklich alles seriös gemeint ist:
„Im 1. Satze ist der Trompeten- und Cornisatz aus dem Rhythmus des Thema: die
Todesverkündigung, die immer sporadisch stärker endlich sehr stark auftritt, am Schluß: die Ergebung.“ Der „Ergebung“ entspricht der in der 2. Fassung ungewöhnlich ins pianissimo geänderte Schluss. Mit dem folgenden Scherzo begegnet uns die erste Sinfonie von Bruckner mit der umgekehrten Reihenfolge der Mittelsätze (Scherzo-Adagio).
Das Hauptthema des Scherzo wird „deutscher Michel genannt; in der 2. Abtheilung will der Kerl schlafen, und träumerisch findet er sein Liedchen nicht; endlich klagend kehrt er selbes um.“
Das Adagio ist mit seiner Nachtstimmung der zentrale Punkt der Sinfonie und gleichzeitig auch der längste Satz. Darüber verliert Bruckner bezeichnenderweise kein einziges Wort.
„Finale: Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik; Trompeten: Fanfaren, wie sich die Majestäten begegnen. Schließlich alle Themen; ... so als der deutsche Michel von seiner Reise kommt, ist Alles schon im Glanz. Im Finale ist auch der Todtenmarsch und dann (Blech) Verklärung.“ Schließlich „sind alle vier Themen vereinigt.“ Die sehr erfolgreiche Uraufführung fand erst 1892 unter Hans Richter statt.


„ganz ad libitum“ (Die Aufführungspraxis und das Tempo)

Bei der Betrachtung der Interpretation von Bruckners Musik müssen wir uns bewusst machen, dass der „Interpret“, der Dirigent, mit seinen ihm zugestandenen Freiheiten, erst im Zuge der Neudeutschen Schule, zu der fälschlicherweise auch Bruckner gerechnet wird, seine neue, dominante Rolle entwickelte. Die Musikdirektoren und Konzertmeister des 18. Jahrhunderts sahen es nicht als ihre Aufgabe an, ihre individuellen Auffassungen zur Basis ihrer Aufführungen zu machen. Sie fühlten sich dafür verantwortlich, die nicht notierten Konventionen, die Regeln der Aufführungspraxis ihrer Zeit, umzusetzen. Es wurden ja fast ausschließlich zeitgenössische Werke aufgeführt und ältere Werke wurden dem Zeitstil angepasst. Man musste also den Zeitstil beherrschen. Die neue, bis dahin unübliche Funktion des Dirigenten, die unter anderem auch durch die immer größeren Orchesterapparate nötig wurde, war dazu da, die „Idee des Komponisten ins Leben zu rufen“. Zunächst ging es also um das Verständnis der Dinge, die in der Partitur notiert und auch nicht notiert waren, da sie als Selbstverständlichkeit der Aufführungspraxis galten. Ein Komponisten-Dirigent wie Richard Wagner, nahm im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen, die auch größeren sichtbaren körperlichen Einsatz salonfähig machten, einen neuen Weg, den Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart schon vorgezeichnet hatten: Die alten Werke mussten der Zeit entsprechend bearbeitet werden und mit den Freiheiten der Zeit aufgeführt werden. Die zeitgenössischen Werke erhielten einen größeren Spielraum, der sich mit fortschreitender Zeit immer weiter ausdehnte, auch wenn bereits von Zeitgenossen vor einem „zu viel“ gewarnt wurde. Der Typus des Komponisten, der zusätzliche dirigierte, entwickelte sich zum Dirigenten, der nicht oder kaum noch komponierte. Somit gewann die Freiheit, die die man sich nahm, die nicht mehr auf der Grundlage der Aufführungspraxis der Zeit des Komponisten basierten, ständig an Bedeutung. Diese zum Teil unheilvolle Entwicklung führte dazu, dass viele in der jeweiligen Zeit nicht notierten Feinheiten in Vergessenheit gerieten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Tempowahl bei Bruckner zu betrachten:

„Misterioso. Nicht schnell“, aber „Alla breve“ steht über dem unvollendeten letzten Satz der 9. Sinfonie Bruckners. Das klingt wie eine pauschale Zusammenfassung seiner Tempo-Vorstellung, die irgendwie ganz in der Mitte stehen bleibt und für der von ihm geforderten „Deutlichkeit“ genügend Raum geben muss. Auch in anderen Sinfonien ist die Tempoanweisung ein „sowohl als auch“. Ist „Misterioso“ eine atmosphärische Bezeichnung, so ist „Nicht schnell“ keine wirklich konkrete Tempoanweisung, die wiederum durch die vorgezeichnete Halbtaktigkeit des „Alla breve“ im Hörergebnis eher ein schnelles Tempo suggeriert. Schnelle Tempobezeichnungen sind bei Bruckner außer bei seinem „kecken Besen“ der 1. Sinfonie die absolute Ausnahme und dort ist schon das Scherzo in der zweiten Fassung von „Schnell“ auf „Lebhaft“ reduziert, da aber weitgehend nicht mit einem „Alla breve“ verbunden. So sehr die Bezeichnungen über Bruckners letztem Sinfoniesatz als Überschrift für seine vage Vorstellung von Tempo gelten können, so wichtig ist das Verständnis eben dieser Imagination. Das Metrum, welches das Tempo der für ihn wichtigen Gesangslinien bestimmt, ist bei Bruckner entscheidend und nicht die Geschwindigkeit der Einzelnote. Insofern ist er noch ganz Klassiker: „Singen ist das Fundament zur Music“. Wir müssen uns also auf die Suche nach dem Stil der Zeit machen und die damaligen Parameter von Partiturschreibweisen betrachten:
Es gibt nur relativ wenige Äußerungen von Bruckner über das Tempo, obwohl er im Frühwerk sehr oft die Anweisung „rubato“ oder „sempre rubato“ gibt. Und wir sind nicht in der glücklichen Lage, dass einer seiner Dirigenten-Freunde alle Probenbemerkungen, wie es Fritz Steinbach bei Johannes Brahms tat, aufzeichnete. Diese Aufzeichnungen zu Brahms’ Sinfonien waren lange Zeit, aus Gründen der Wirren des 2. Weltkrieges, weitgehend unbekannt und führten zu vielen interpretatorischen Missverständnissen. Auch Brahms’ Brief an Joseph Joachim, der genau wie Bruckner von nicht aufgeschriebenen Tempomodifikationen spricht, war nicht im Bewusstsein der Interpreten: „Ich habe einige Modifikationen des Tempos mit Bleistift in die Partitur eingetragen. Sie mögen für eine erste Aufführung nützlich, ja nötig sein. Leider kommen sie dadurch oft (bei mir und anderen) auch in den Druck - wo sie meist nicht hingehören.“ Da es - zum Ärger für Bruckner - einige Dirigenten gab, die sowohl Brahms- wie auch Bruckner-Sinfonien aufführten, können wir aber davon ausgehen, dass seinerzeit, unabhängig von verschiedenen Personalstilen, viele subtile Tempomodifikationen ganz selbstverständlich vorausgesetzt wurden, auch wenn diese kleinen Veränderungen nicht in der Partitur angeben wurden. Wir finden das bei Bruckner wie auch bei Brahms bestätigt: Bruckner war schon in seiner Zeit als Chormeister für die „Zartheit der Nuancen“ berühmt. Aber auch bei der Vorbereitung zu den Aufführungen wollte er unbedingt wenigstens bei einigen Proben dabei sein, denn es sei „in der Partitur vieles Wichtige nebst häufigem Tempowechsel nicht angemerkt“. Also vertritt er den gleichen Grundsatz wie Brahms, nur die grundsätzlichen Anweisungen in die Partitur zu schreiben. Selbst seinen treuen Schülern traute er nicht immer eine wirklich richtige Temponahme nicht zu: „Dann möchte ich Sie sehr bitten, dß ichs doch einmal hören könte, wegen der Tempi.“ Dies ist umso interessanter, als die Brüder Schalck in ihren gegenseitigen Briefen, sich als Tempo-Papste von Bruckners Werken aufführen: „Scherzo u. Finale größtentheils viel zu langsam u. ohne jedes Verständniß, dafür mit wohltuender Reinheit.“ oder: „Viel trauriger ist die Thatsache, dass Mottl`n das Verständnis des Bruckner`schen Genius nicht aufgegangen ist. Er dirigirte mit lächelndem Antlitz. Die Tempi machten die zarten Motive zu banalem Gefidel. Der sehr verschlungene Faden der thematischen Arbeit entzog sich durch unklare Ausführung dem Zuhörer. Es ist mir eklig weiter darüber zu schreiben und es reut mich bitter, Mottln zur Aufführung die mehr geschadet als genützt, angesport zu haben.“ Viele MM-Zahlen in den Erstausgaben gehen auf die Brüder Schalck zurück und sind von Bruckner weder bestätigt noch abgelehnt worden. Dem steht gegenüber, dass Bruckner gerade - im Gegensatz zu den Gebrüdern Schalck - die Tempi „ganz adlibitum (wie Sie selbe brauchen zur Deutlichkeit) abändern…“ gestattete. Noch schwieriger wird es, wenn wir wissen, dass Bruckner selbst gegen seine eigenen Bezeichnungen einschritt und sie für falsch erklärte, ohne sie tatsächlich in der Partitur zu ändern: „In Betreff des Quintett`s bitte ich sehr, das Scherzo nicht so genau der Vorzeichnung, sondern den 2-ten Theil desselben bis zum Wiederbeginne des Anfanges beinahe Andante gütigst nehmen zu wollen.“ Ein Hinweis darauf, dass er dass oder vielleicht auch die Trio(s) langsamer gespielt haben wollte, auch wenn es nicht vorgeschrieben ist. „Das Quintett muß mehr langsam gespielt werden; besonders im 1-ten Satze bei der Gesangsperiode die Antworten der Viola; dann der 2-te Theil des Scherzo bis zur Wiederholung des Anfanges desselben ist beinahe Andante zu nehmen.“ In seiner 4. Sinfonie hatte er den zweiten Satz erst im Alla breve notiert. Hat es dann in 4/4 geändert. Und schließlich ist aus dem „Andante, quasi Allegretto“ ein Andante geworden.
Im 4. Satz hat er auch zahlreiche Änderungen vorgenommen. Die unklare Bezeichnung nach der Einleitung mit „Langsamer, Tempo 1“, die zunächst vermuten läßt, dass es vorher beschleunigt werden soll, erklärt Bruckner Dirigent Löwe durch MM-Zahlen: Anfang MM= 72, Tempo 1 = 66.
Aber immer wieder geht es um nicht notierte Tempomodifikationen: „Das Scherzo muß sehr schnell sein; die Tempiwechslungen sind unerläßlich.“ Aber auch die Interpreten vergewisserten sich bei Bruckner über nicht notierte Details: „…Ihre Wünsche bezüglich des Vortrages, besonders der Tempi und dynamischen Nüancen, uns bei dieser Gelegenheit mittheilen zu können.“ Wie Brahms setzte er darauf, dass sich durch vorbildliche Aufführungen ein deutlicher Stil durchsetzen würde, auch wenn es noch keine Tonträger gab: „Wenn selbe Richter dirigiren würde, der ja von mir genau instruirt ist; dann hören die Deutschen wie selbe aufzuführen ist.“ Und offensichtlich war Bruckner auch nicht fein im Umgang mit seinen Interpreten, wenn es nicht so geschah, wie er es sich vorstellte: „Bruckner… hat … mich derart gequält, daß nur eine Stimme allgemeiner Empörung gegen ihn herrschte. … kein Schimpf ist ihm zu niedrig in seiner Aufregung.“ Auffallend ist aber, dass gerade die von Bruckner selbst dirigierten Sinfonien Misserfolge wurden und die Aufführungen richtiger, erfahrener Orchesterdirigenten ihm zum Erfolg verhalfen. Viele der Uraufführungen unter anderen Dirigenten waren entgegen der noch weit verbreiteten Meinung durchaus Erfolge für Bruckner (Messen, Te Deum, Sinfonien 1, 2, 3, 6).
Die Diskrepanz zwischen Vorstellung und eigener Verwirklichung wurde bei Bruckner sehr deutlich. Wenn allerdings im Konzert vor einem Werk wie der 4. Sinfonie bereits 90 Minuten Musik gespielt wurden, so hatte es eine Sinfonie Brucknerschen Ausmaßes danach zwangsläufig sehr schwer die Aufmerksamkeit des Publikums noch zu fesseln.
Bruckners großes Vorbild Richard Wagner war durch sein Exil gezwungen, uns sozusagen den Beweis der zahlreichen nicht in der Partitur notierten Tempomodifikationen zu geben, indem er Dinge aufschreiben musste, die er sonst nicht vermitteln konnte. Er schrieb zum Beispiel im Tannhäuser insgesamt zwanzig neue Metronomzahlen als zum großen Teil gravierende Tempoveränderungen, ohne dies durch eine neue Tempoangabe verbal festzulegen. Hinzu kommen dann noch die zahllosen kleinen von Felix Mottl aus den Wiener Proben überlieferten Tempomodifikationen. Ein Musterbeispiel der Aufführungspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welches wie auch die Beispiele von Brahms für Bruckner - wenn man seine Wurzeln in der Klassik nicht außer Acht läßt - zutreffen. Auch bei Bruckner finden wir den Vorgang, dass er im Anfangsstadium der Komposition nur ganz wenige Tempo-Angaben schreibt und Modifizierungen fast vollständig wegläßt. Im Zuge der weiteren Arbeit erscheinen dann mehr Hinweise, teilweise ist aber die Autorschaft von Bruckner nicht sicher, zumindest hat er sie aber in seiner Handschrift akzeptiert, während er andere Dinge, die er nicht wollte, mit der Rasierklinge rückgängig machte.

Nehmen wir das Beispiel von Bruckners Sinfonie Nr. 7, die im ersten Autograph ohne Tempobezeichnung ist und mit 4/4 Vorzeichnung versehen ist und wo Bruckner feststellt, dass er (!) ein zu schnelles Tempo gewählt habe. Die Erstausgabe bei Gutmann hat dann auch den Grund dafür parat: Dort ist die 4/4-Vorzeichnung auf Alla breve verändert und „Bewegt, doch nicht schnell“ mit der MM-Zahl Halbe= 63 hinzugefügt. Das Bruckner es offensichtlich schwer hatte, sich bei der Komposition selbst das Tempo genau vorzustellen (wie übrigens die Mehrzahl der Komponisten, die am Schreibtisch oder Klavier schneller bezeichnen, als sie es ausgeführt haben wollen) zeigt die Briefbemerkung: „Letzthin wurde mir auf 2 Clavieren durch H Schalk u. Löwe das Finale der 7. Sinfonie gespielt, u da sah ich, dß ich ein zu schnelles Tempo gewählt haben dürfte.“
Im Schaffensprozess wird es deutlich: Im ersten Autograph gibt es 23 Tempo-Hinweise, im Zweiten 35 und im dritten Autograph gibt es 48. Schließlich erscheinen im Erstdruck 57. Die Anweisungen haben sich also mehr als verdoppelt. Selbst wenn nicht alle von der Hand Bruckners sind - so sind sie doch ein Beleg des Zeitstiles.
Die wenigen überlieferten Bemerkungen Bruckners, zum Tempo weißen darauf hin, dass er es oftmals langsamer als angegeben haben wollte bzw. eben modifiziert. Obwohl bei Bruckner in seiner Zeit durchaus - im Gegensatz zu Wagner, der immer schnellere Tempi forderte - mehrheitlich für ruhigere Tempi bei seinen Werken plädierte, gab es nach Bruckners Tod und dem Ableben seiner Apologeten ebenso wie bei Wagner eine, wenn auch tendenziell nicht so extreme, Verlangsamung des Tempos. Die Aufführungszeiten sind schwer zu vergleichen, weil frühere Dirigenten Bruckners Sinfonien vielfach mit Sprüngen und/oder in den Schalck-Bearbeitungen dirigiert haben. Interessant ist aber zum Beispiel, dass der wohl langsamste Bruckner-Dirigenten Sergiu Celibidache 1975 1:25:30 brauchte, dann 1979 1:32:30, 1990 1:42:21 und 1993 1:44:00 also fast 20 Minuten langsamer wurde. Auch andere Dirigenten werden im Laufe des Lebens deutlich langsamer: Wilhelm Furtwängler 1949: 1:16:08 und 1954: 1:21:44, Eugen Jochum 1978 1:15:06 und 1982 1: 23:48. Im Gegensatz dazu Herbert von Karajan, der mit seinen späteren Aufnahmen schneller wird.

Auch aus den Partituranweisungen der nächsten Generation wird deutlich, dass mit solchen „Selbstverständlichkeiten“ der Tempomodifikationen gerechnet wurde, denn sonst hätte Gustav Mahler keinen Grund gehabt in seinen Anweisungen gegen diese Aufführungspraxis der Zeit mit häufigen Bemerkungen wie „nicht schleppen“ oder „nicht eilen“ diese Praxis aufzuheben. Auch aus anderen Quellen wird deutlich, dass Mahler selbstverständlich von bestimmten Spielweisen und Tempomodifikationen ausging, die nicht aufgeschrieben wurden: Willem Mengelberg notierte in seiner Partitur die Probenbemerkungen bei den Dirigaten von Mahler und da finden wir Bemerkungen wie z.B. „nicht zu viel eilen“ an Stellen, wo in Mahlers Partitur nichts vermerkt steht, er aber offensichtlich davon ausgeht, dass das Tempo vorangeht, ohne dass es angegeben ist. Es soll eben nur nicht „zu viel“ sein. Seine in der Partitur geschriebenen Bemerkungen widersprechen dem nicht, sondern zeigen nur, dass er, wenn er dieser Aufführungspraxis nicht folgen wollte, es auch vermerkt. Seine Bemerkungen machen ja nur Sinn, wenn eine bestimmte modifizierte Tempobehandlung zum Zeitstil gehörte. Mit „gehalten“ hat Mahler allerdings Bruckner falsch verstanden, was bei Mahler tatsächlich ein „zurückhalten“ bedeutet, ist bei Bruckner und Wagner eine Artikulationsanweisung, da diese Komponisten noch mit den Traditionen der Klassik, die nahezu immer die Notenwerte verkürzte, aufgewachsen waren. Deswegen finden wir bei Bruckner auch sehr oft einen Bogen über einer Gruppe von mehreren Zweierbindungen, um das klassische „Abziehen“ zu verhindern. Auf der anderen Seite müssen die Stellen ohne diesen Bogen klassisch artikuliert werden.

Es geht ja nicht nur um zwei große Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das - sicher bei Bruckner - alles bestimmende Vorbild Richard Wagner zeigt uns, dass Tempoflexibilität, ohne das alles notiert ist, zum Standard der Musikausübung gehörte und damals auch auf die Werke der Klassik ganz selbstverständlich angewandt wurde. So muss auch die immer wieder pauschale Kritik an den Gebrüdern Schalck, die sich unermüdlich immer wieder für Bruckner eingesetzt haben und zahlreiche Änderungen in den Partituren anbrachten, hinterfragt werden: Was sind Willkürlichkeiten, was ist der Tatsache geschuldet, die Werke überhaupt vereinfacht aufführbar zu machen, was gehört zum Stil der Zeit in dem Bruckner dachte und komponierte - schließlich waren die beiden ja seine Schüler. Sämtliche Anregungen der Gebrüder Schalck und anderer Getreuer unreflektiert als Verfälschung von Bruckners Werk darzustellen, ist sicher ein Fehler, weil aufführungspraktische Eigenarten der Bruckner-Zeit, mit denen Bruckner natürlich wie selbstverständlich rechnete, damit nicht berücksichtig würden. Wie wir aus den Fassungen der 3. Sinfonie wissen, hat Bruckner ganz genau unterschieden, welche Vorschläge oder Eigenmächtigkeiten der Schalcks gut waren und welche er nicht übernehmen wollte. Im Finale der 3. Sinfonie nahm er zwei der Schalckschen Kürzungen an und den Vorteil einer dritten Kürzung sah er wohl ein, ersetzte diese aber durch eine Neukomposition. Vor dem Interpreten steht also ein vorsichtiges Abwägen jedes Details um nicht in den Fehler zu verfallen, durch die reine Darstellung des Notentextes ganz essentielle Grundlagen der musikalischen Denkweise Bruckners zu eliminieren. Schon die Divergenzen der Auffassungen von Mahler und den Schalck’s zeigt, wie schwierig diese Aufgabe ist und Bruckner führt uns auf den Weg der nicht notierten Tempoveränderungen, wenn er mehrfach an formell markanter Stelle ein a tempo schreibt oder ein Tempo 1 markiert, ohne dass vorher eine Tempoveränderung angegeben wäre. Er notiert das Ende der Tempofreiheit. Manchmal auch mit der Bemerkung: „strikt im Tempo“ was im Umkehrschluss bedeutet, dass an anderen Stellen das Tempo flexibler ist.
Ein Meister des kleinsten Überganges wie Alban Berg (geboren, als Bruckner seine 7. Sinfonie schrieb) ist nicht aus dem Nichts gefallen. Er vereint - diesmal mit minutiösen Angaben - die subtilen Tempoveränderungen mit denen er aufgewachsen ist. Die der klassischen Tradition nachfolgenden Komponisten vor ihm hielten die Aufzeichnung der kleinen Unterschiede für nicht nötig. Brahms, Bruckner und Wagner haben sich dazu wie oben dargelegt, ausdrücklich geäußert. Sie gingen davon aus, dass mit der Musteraufführung unter ihrer Leitung bzw. ihrem Beisein diese Flexibilität zur aufführungspraktischen Grundlage wird. Da sich das leider nicht bewahrheitet hat, ging die nächste Generation wie Mahler und Berg andere Wege der Notation.
Aus den genannten Beispielen können wir ableiten, dass Bruckners Werke, obwohl sie viel blockhafter gedacht sind, als andere Werke dieser Zeit, eine große Tempoflexibilität verlangen.
Hans Swarowsky’s Meinung, daß man nicht die traditionsgebunden Tempomodifikationen übernehmen dürfe, ist also nicht in vollem Umfang haltbar, obwohl sein Artikel über die 5. Sinfonie Bruckners zu den ganz wichtigen Anregungen zur Bruckner-Interpretation gehört.
Ähnlich verhält es sich mit Anweisungen für die Dynamik: In einigen überlieferten Briefen fügt er dynamische Bezeichnungen hinzu, die in der Partitur nicht vermerkt sind und die für uns heute als Leitfaden für dynamische Retuschen gelten können. Auch in einigen Fragen der Aufführungspraxis versucht Bruckner, die in seiner Zeit üblichen Spielweisen zu umgehen. Die damals gebräuchlichen, nicht notierten portamenti vermied er durch besondere Stricharten. Sie sind also auch fester Bestandteil der Artikulation. Seine auffallend zahlreichen Abstrich-Anweisungen für die Streicher sind gleichzeitig auch als Artikulation zu begreifen, die trotz tenuto-Bezeichnung eben keine volle Länge des Tonwertes ergeben können. Deshalb empfiehlt es sich, die manchmal unbequemen Stricharten zu spielen oder zumindest artikulatorische Konsequenzen daraus zu ziehen. Der damals noch üblichen generellen Verkürzung von Notenwerten versuchte er mit der Bezeichnungen „gehalten“ entgegenzuwirken. Oftmals wird dies als Tempoanweisung missverstanden. Auf der anderen Seite will er richtigem legato, vor allem an Sellen wo andere Instrumente tatsächlich eine andere Artikulation spielen, zuvorkommen und notiert „gestrichen“ oder „lang gezogen“. Seine Dynamik hat er auch nach der Fertigstellung eines Werkes noch weiter verfeinert. Auffallend ist auch sein Gebrauch unterschiedlich starker Akzentarten: Vom sforzato über den liegenden Pfeil bis hin zur leichten Betonung des Akzent-Daches, welches missverständlich von vielen Interpreten als größerer Akzent betrachtet wird. Dabei ist es lediglich als Zeichen zu verstehen, dass diese Noten nicht leichter genommen werden sollen, wie es in der Klassik der Fall war. Im Gegensatz zu den verschiedenen Akzentformen ist das fortepiano, wenn es aus einem crescendo hervorkommt, kein Akzent sondern das plötzliche piano nach einem Höhepunkt des fortes. Ein ewiges Missverständnis der Aufführungspraxis. Ähnlich ungenau wird der Unterschied zwischen ritenuto (zurückgehalten, also gleichmäßig langsam) und ritardando (verzögernd, also nach und nach langsamer) interpretert, in dem beides als ritardando gespielt wird.
Die aufgeschriebene Musik ist nur ein Anfang, alles was dann kommt, kann man nicht in Notenschrift notieren.

„Unausstehlich“ (Der Mensch)

„Bruckner freilich hat mir die Hölle heiß genug gemacht … Es ist wirklich unmöglich in seiner Gegenwart weiter etwas für ihn zu leisten. Der Dämon treibt ihn zu den unglaublichsten Bosheiten und Sekaturen, keine Verdächtigung, kein Schimpf ist ihm zu niedrig in seiner Aufregung. Wie durch ein Wunder bin ich durch alle diese Strapazen heil hindurchgekommen. Richter der von der Sache auch erfahren hielt Bruckner sein Verhalten vor u. sagte schließlich halb scherzend: „Sie sollten überhaupt nur schreiben; wenn sie nicht komponieren, sind sie unausstehlich!“ “ Diesen Stoßseufzer seines Schülers Josef Schalck findet man auch in anderen zeitgenössischen Berichten bestätigt. Immer noch herrscht das Bild, des einsamen, unterwürfigen, verkannten Komponisten. „Er beugte sich wohl gewissen unangenehmen Erfordernissen des Tages, doch vor sich selbst und denen, die ihn verstanden, war er von unbeugsamen Stolz erfüllt, persönlich und künstlerisch, vom Stolz des Rechtgläubigen.“ Wenn wir genauer hinschauen, finden wir die Unterwürfigkeit Bruckners immer wieder dann, wenn er etwas für sich erreichen wollte. Auch seine Demut war Mittel zum Zweck. Und seine Bescheidenheit hatte die gleichen Gründe. Wenn er positive Urteile anderer erfindet, um Vorteile daraus zu ziehen, ist das nicht unbedingt ein Zeichen der Bescheidenheit. Er hat Wagner ganze Texte zum Ruhme seiner eigenen Musik in den Mund gelegt, vor allem als dieser bereits gestorben war. Wagner selbst war in seinem durchaus positiven Urteil viel zurückhaltender: „Ich habe die Sinfonie (Nr. 3) neuerdings durchgesehen, sehr brav, sehr brav, aufführen, aufführen, das muß aufgeführt werden.“ .
Und wenn er äußert: „Wagner darf man um Nichts ersuchen will man seine Gunst nicht verscherzen.“ So geht es auch hier um seinen eigenen Vorteil, den er aus seiner Unterwürfigkeit ziehen will. So sehr Bruckner versuchte, sich an die Hierarchie-Regeln zu halten, so sehr stand er sich selbst als Person, die nach unten trat und nach oben devot war, im Weg. Schließlich erhielt er die Stelle als Hofkapellmeister in Wien nicht, weil er sich durch falsches Verhalten selbst den Weg verbaute. An seiner Eignung lag es sicher nicht.
Bruckner war sich seines Wertes als überragender Komponist durchaus bewußt. Die Tatsache, dass er alle Originalmanuskripte seiner wichtigsten Werke der k.u.k. Hofbibliothek in Wien testamentarisch zusprach, spricht eine deutliche Sprache.

Sein Urteil über Komponisten-Kollegen, mit der Ausnahme von Wagner, war nicht von Bescheidenheit geprägt.
Sicher war Bruckner kein wortgewandter Mensch, aber in Devotion war er ein Meister, der die Unterwürfigkeit bis zur Lächerlichkeit treiben konnte. Im Gegensatz zu seinen Komponistenkollegen waren aber für ihn Literatur und anderen Künste nicht Gegenstand der Inspiration oder des allgemeinen Interesses. Man könnte ihn als Anti-Intellektuellen beschreiben. Sein Schüler und Apologet Felix Mottl bezeichnet ihn als „aufreizend ungebildet“.
Auf der einen Seite beschimpft er Hans Richter, dass er mit Rücksicht auf die zu erwartenden schlechten Kritiken von Eduard Hanslick seine Werke nicht aufführe um auf der anderen Seite seine Werke für Wiener Aufführungen verbietet, um den schlechten Kritiken Hanslicks zu entgehen. Über dieses Verbot hat sich dann seinerseits Hans Richter wieder hinweggesetzt und Bruckner zu einem weiteren Erfolg verholfen. Der Dirigent Hermann Levi klagt: „Ich bin seit vielen Jahren gewohnt, daß die Menschen beim bloßen Nennen dieses mir so theuren Namens ihr Gesicht entweder zu mitleidigem Lächeln oder zu höhnischem Grinsen verzerren…“ und entschuldigt Bruckner mit „seiner genialen Naivität“.

Bruckner war ein Mann mit vielen Nervenkrisen, die sich in Depressionen und Zwangsneurosen 1867, 1875 äußerten, wozu auch seine Zählmanie gehörte. Aber gerade in den mentalen Kriesenzeiten war er besonders schöpferisch. Schon in Linz wurde Bruckner „Irrsin als mögliche Folge“ angekündigt. Seine Frömmigkeit endete im religiösen Wahnsinn.
Johannes Brahms entschuldigt Bruckners Art: „Er ist ein armer verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben. Ich weiß nicht, ob Sie eine Ahnung davon haben, was es heißt, seine Jugend bei den Pfaffen verlebt zu haben?“
Die heftigen antisemitschen Bemerkungen seiner Schüler dürften ihm nicht entgangen sein und er hat dem nie etwas entgegengesetzt. Er selbst äußerte: „Wenn sich G. nicht sehr gefügig geberdet u. ordentlichermaassen zum Kreuze kriecht, was dem Juden ganz wunderlich anstehen wird, so nehm` ich ihm das Quintett weg.“ Als er Fritz von Uhde für ein Abendmahl-Gemälde als Apostel Modell sitzen sollte, kommentierte er die Anfrage mit „Ja, bin i’ vielleicht a Jud?“ Aber solange jüdische Künstler sich für ihn einsetzten nahm er das, wie auch sein Meister Wagner, gern in Anspruch.

Entgegen seiner immer wiederholten Behauptung in zahlreichen Briefen, war er durchaus finanziell abgesichert. Er leistete es sich sogar, eine gewisse Zeit im teuersten Etablissement der Stadt gegenüber der Staatsoper zu wohnen, bevor ein Schüler und Gönner ihm eine kostenlose Wohnung mit Blick auf den Kahlenberg zu Verfügung stellte. Auch von anderer Seite kam durchaus Unterstützung. Kaiser Franz Joseph I. übernahm zum Beispiel einige Druckkosten von Bruckners Werken. Die Freiheit als freischaffender Komponist zu arbeiten, war ihm allerdings nicht gegeben. Aber er wollte ja eigentlich ein richtiges bürgerliches Leben führen. Dazu gehörten natürlich alle Examen, die er bis ins relativ hohe Alter machte und selbstverständlich auch eine bürgerliche Ehe, die ihm nicht vergönnt war. Seine bis zum Ende seines Lebens anhaltende Vorliebe für wesentlich jüngere Frauen ist sicher einer der Gründe, warum er es mit keiner der vielen von ihm verehrten Damen in den Ehestand geschafft hatte. Auch Wagners Tochter Eva wurde eines der Ziele seiner Avancen. Der Altersunterschied mit der gerade 18jährigen betrug immerhin 43 Jahre. Mag hier seine Verehrung für Wagner mitgespielt haben: In der Mehrzahl waren die Mädchen, für die er sich schnell entflammte Bedienstete, Verkäuferinnen, Blumenmädchen, Serviererinnen und zum Teil Analphabetinnen. Immer endete es so oder ähnlich: „Es thut mir sehr leid, den mir so schmeichelhaften Antrag nicht annehmen zu können, und dürfen Sie das nur meiner Jugend zu messen; auch bitte ich sich auch in Zukunft keine Hoffnung zu machen.“

Neue Wege

Seit 2015 wird die Anton Bruckner Urtext Gesamtausgabe in der Bruckner Edition Wien, einem Label der Verlagsgruppe Hermann, Wien veröffentlicht. Schirmherr war Nikolaus Harnoncourt. Die Verlagsleitung hat Alexander Hermann; die Editionsleitung hat Benjamin-Gunnar Cohrs. Diese grundlegend neu konzipierte, wissenschaftlich-praktische Gesamtausgabe wird zusammen mit einer vorgesehenen Schriftenreihe in vielen Details die Bruckner-Interpretation und -Rezeption beflügeln. Der Partiturdruck geht dabei vollständig neue Wege, indem verschiedene Varianten, farblich gekennzeichnet, gleichzeitig angeboten werden.
Gleichzeitig hat der Musikwissenschaftliche Verlag Wien, der traditionell die Werke Bruckners herausgegeben hat, mit der Neuausgabe der 1. Sinfonie eine weitere wissenschaftliche Gesamtausgabe gestartet. Hartmut Haenchen hat aus dieser Reihe die nächste erschienene Sinfonie (Nr. 4) 2018 in Brüssel zur Erstaufführung in dieser Fassung gebracht.
Bruckners Eigenschriften weisen im Vergleich zu anderen Komponisten nur wenige Notenfehler auf. Doch bereiten sie unter dem Aspekt der Aufführungspraxis (Dynamik- Angaben, Artikulationen, Tempi etc.) besondere Probleme, weil derartige Spiel- Anweisungen erst im letzten Arbeitsschritt hinzugefügt wurden. Die komplexe Quellenlage seiner Werke erfordert überdies, dass neben den Autographen auch die handschriftlichen Stimmenmateriale, Erstausgaben und zugehörige Druckfahnen sowie Sekundärdokumente einbezogen werden müssen. Hier setzt die Urtext-Gesamtausgabe an: Sämtliche Quellen werden erstmals einer grundlegenden Gesamtschau unterzogen und in einem wissenschaftlich-praktischen Urtext in einem neuen Zusammenhang dargestellt. Soweit das Material aufgearbeitet ist, wird es in diesen Bruckner-Zyklus aufgenommen. Hartmut Haenchen ist im direkten Kontakt mit den Herausgebern und wird alle Möglichkeiten nutzen, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse einzubeziehen. Entsprechend der Verfügbarkeit bereitet Hartmut Haenchen von ihm eingerichtete Orchestermaterialien vor.

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