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Authentischer Brahms?
Booklet-Text zur Gesamteinspielung der Sinfonien von Johannes Brahms, 1996 (durch Auflösung des Labels nicht erschienen)
„... Was die Meininger voraushaben vor den meisten deutschen Kapellen, das ist ihre Methode zu studieren und der Fleiß, der ihnen zum Gesetz gemacht ist.“ Etwa ab 1880 gehörte die Meininger Hofkapelle zu den führenden Orchestern Deutschlands. Brahms wusste das und ließ seine Werke bei dem Orchester, dem der mit ihm befreundete Hans von Bülow und später Richard Strauss, Fritz Steinbach und Max Reger vorstanden, gerne spielen, da es vor allem für seine Klarheit im Vortrag bekannt war. Er schrieb an Clara Schumann: „...Ich habe hier die große Annehmlichkeit, ganz nach Herzenslust probieren und üben zu können, ohne dass ein Konzert die Folge zu sein braucht!“ Meiningen wurde vor allem unter der Leitung des Dirigenten Fritz Steinbach zu einem wesentlichen Zentrum der Brahmspflege, obwohl in dieser Zeit Brahms bereits europaweit bekannt war. Durch seine Freundschaft zu den Dirigenten und seine eigene Arbeit mit dem Orchester oder seine Anwesenheit bei den Proben sind heute noch in Meiningen außerordentliche Schätze der originalen Eintragungen in den Stimmen und Partituren bzw. der durch Fritz Steinbach (nach Max Regers Aussage waren Brahms und Steinbach „intim befreundet“ ) aufgezeichneten Brahms´schen Anweisungen erhalten. Wie wichtig Steinbachs Aufzeichnungen sind, belegen zahlreiche zeitgenössische Dokumente. Darunter Max Kalbecks Bericht über die Meininger Aufführung der 1. Sinfonie unter Steinbach, der Brahms beiwohnte. Brahms war „von der elementaren Wirkung seiner c-moll-Sinfonie so überrascht und ergriffen, dass er sich die Wiederholung des Werkes ausbat.“ Der Musikkritiker Alexander Berrsche liebte an Steinbachs Brahms-Interpretationen „die große Ausdrucksgewalt der Kantilene, die abgetönte Dynamik, die absolut plastische Phrasierung und das so seltene, natürliche Rubato.“
Dass Brahms andererseits bewusst sehr sparsam mit interpretatorischen Anweisungen in den Druckausgaben umgehen wollte, belegt ein Brief an Joseph Joachim: „Ich habe einige Modifikationen des Tempos mit Bleistift in die Partitur eingetragen. Sie mögen für eine erste Aufführung nützlich, ja nötig sein. Leider kommen sie dadurch oft (bei mir und anderen) auch in den Druck - wo sie meist nicht hingehören. Derlei Übertreibungen sind eben nur nötig, so lange ein Werk dem Orchester (oder Virtuosen) fremd ist. Ich kann mir in dem Fall oft nicht genug tun mit Treiben und Halten, damit ungefähr der leidenschaftliche oder ruhige Ausdruck herauskommt, den ich will. Ist ein Werk einmal in Fleisch und Blut übergegangen, so darf davon, nach meiner Meinung, keine Rede sein, und je weiter man davon abgeht, desto unkünstlerischer finde ich den Vortrag. Ich erfahre oft genug bei meinen älteren Sachen, wie ganz ohne weiteres sich alles macht und wie überflüssig manche Bezeichnung obgedachter Art ist!“ Brahms´ Optimismus und die Bescheidenheit seiner Einstellung war vielleicht bei seinen Freunden berechtigt, doch hätte er sicher, wenn er geahnt hätte, dass wenig später bei eben „seiner“ Meininger Hofkapelle ein Komponisten-Dirigent wie Max Reger in bester Absicht seine Sinfonien wesentlich uminstrumentiert und mit vollständig neuen Aufführungsanweisungen versah, seine zusätzlichen Anweisungen veröffentlicht .
Glücklicherweise sind zahlreiche originale Dokumente von Brahms’ Anweisungen erhalten, jedoch bisher fast nicht für die Aufführungspraxis herangezogen worden. Zunächst sind in Meiningen noch die von Brahms und Steinbach benutzten Orchestermaterialien erhalten und - da Reger eine ganz andere Auffassung hatte – nur von Heinz Bongartz (1926-1930 Chefdirigent in Meiningen), der der Linie von Fritz Steinbach folgte und in der späten DDR-Zeit wieder benutzt worden, und darüber hinaus sind die Erfahrungen von Fritz Steinbach in Buchform veröffentlicht: Walter Blume: Brahms in der Meininger Tradition. Seine Sinfonien und Haydn-Variationen in der Bezeichnung von Fritz Steinbach, als Manuskript gedruckt, Stuttgart 1933. Durch die Kriegsereignisse ist dieses Buch aber nie wirklich von Interpreten zur Kenntnis genommen worden. Lediglich bei Steinbachs Nachfolgern Heinz Bongartz und Heinrich Abendroth finden wir diese Tradition fortgeführt, wogegen die allgemeine Aufführungspraxis der Regerschen Auffassung bis heute weit zahlreichere Nachfolger gefunden hat.
Wir wissen, dass als Ergebnis der besonderen Arbeitsmöglichkeiten in Meiningen Brahms die dort von ihm vorgenommenen Korrekturen in den Erstdruck der 4. Sinfonie mit übernehmen konnte. Auch die Bleistiftretuschen im Autograph der 3. Sinfonie zeugen von der genauen Klangvorstellung des Komponisten, der eben nicht dem „Klangrausch“ der „neudeutschen“ Wagner-Liszt-Schule folgen wollte. Seiner zurückhaltenden Natur entsprach der mehr an der Klassik orientierte Satzstil. Die Retuschen sind jedoch ebenso wie die der 1. und 2. Sinfonie nicht in den Druck aufgenommen worden. Insgesamt erhalten wir aber mit den drei Quellen - Brahms Manuskript mit nachträglichen Einzeichnungen, Meininger Orchestermaterial und Steinbachs Buch - ein ungewöhnlich genaues Bild von Brahms’ musikalischen Vorstellungen.
Aus dem oben zitierten Brief können wir schon zwei wichtige Interpretationsparameter entnehmen:
1.) - dass die (nicht in der Druckausgabe enthaltenen) Tempomodifikationen zur kompositorischen Idee gehören.
2.) - dass diese Modifikationen sehr diskret, Mahler würde schreiben „unmerklich“, vorgenommen werden müssen.
Als Fazit des Interpretationsansatzes für die Orchesterwerke von Brahms kommt man nach dem Studium aller Quellen zu der Auffassung, dass im Allgemeinen in der heutigen Überlieferung zu viel von den musikalischen Ideen der „neudeutschen“ Schule ausgegangen wird. Insbesondere wird das bei der Artikulation deutlich, die (z.B. Anfang 2. Sinfonie) sehr kleingliedrig, beinahe im vorklassischen Sinne ist. Es darf also nicht von Wagners „unendlicher Melodie“ ausgegangen werden (z.B. Anfang 4. Sinfonie: Das Kopfmotiv ist durchgängig auftaktig zu betonen und nicht - wie seit Reger üblich - im Wechsel zwischen auftaktiger und volltaktiger Betonung). Hinzu kommt aber als echte romantische Entwicklung eine unendliche Vielfalt von („unmerklichen“) agogischen Veränderungen.
Im Allgemeinen hört man den Anfang der 1. Sinfonie heute als großes Fortissimo. Deutlich wird aus den Aufzeichnungen, dass es „nur f“ sein soll und damit der weitere Aufbau des Satzes dynamisch möglich wird. Ebenso wie bei den späteren Sinfonien ist ersichtlich, dass Brahms den Taktstrich nicht als musikalische Einheit betrachtet hat, sondern nur als Ordnungsprinzip, welches alle nur denkbaren Betonungen offen lässt. So finden sich allein schon in der Einleitung Teile, die - obwohl als 6/8 Takt notiert - als 3/4-Takt auszuführen sind oder selbst als 4/8. Die Anweisungen betreffen aber auch Fragen des Vibratos bzw. non vibrato, der Kontaktstelle der Streicher und der Härte der Paukenschlägel. Steinbach beantwortet auch die Frage nach den Wiederholungen in den Kopfsätzen der Sinfonien und stellt fest, dass Brahms die Wiederholungszeichen nur aus formellen Gründen im Sinne der klassischen Sinfonie geschrieben hat, aber deren Ausführung nicht gewünscht hat. Dies bestätigen auch eindeutig und unzweifelhaft die ganz präzis und authentisch überlieferten Aufführungszeiten z. B. der Uraufführung der 1. Sinfonie. Brahms hat also mit Sicherheit die Wiederholungen des Kopfsatzes unter seiner Leitung und unter seiner Aufsicht nicht spielen lassen.
Auch die Frage, ob die Anweisung agitato eine Ausdrucks- oder eine Tempoanweisung ist, wird von Steinbach im Sinne Brahms´ eindeutig als Tempomodifikation erklärt. Zahlreiche agogische Veränderungen unterstreichen den Ausdrucksgehalt und die formellen Zusammenhänge. Dabei finden wir selbst Anweisungen wie „müde und tonlos“ oder „eilend und flüchtig“. Die Hinweise, wie welche Stelle zu dirigieren ist, lassen auch deutliche Schlüsse auf Tempi zu, die Brahms vorschwebten, und sind für den musikalischen Gestus von außerordentlicher Bedeutung. Schließlich sind die originalen Bogen-Striche eine Fundgrube für die authentische Artikulation und Phrasierung. Dabei werden die großen Bögen durch geteilte, unterschiedliche Striche wieder hergestellt und auf der anderen Seite die Kleingliedrigkeit klassischer Strukturen deutlich gemacht. Im letzten Satz der 1. Sinfonie beim Eintritt des Allegro non troppo macht zum Beispiel die originale Bogenführung, die richtige Betonung des Themas überaus deutlich. In der Coda wird besser sichtbar, dass die bekannte Verbreiterung des Chorales auf Brahms zurückgeht, ebenso wie das darauf folgende a tempo piu presto.
Der Anfang der 2. Sinfonie ist eines der exemplarischen Beispiele, dass Brahms sich die Phrasierung kleingliedrig im Sinne klassischer Sinfonien vorgestellt hat (1+1+2 Takte). Agogische Veränderungen werden durchaus vorbereitet. Die Hemiole vor dem quasi ritenente, Zäsuren und das Hintreiben auf Höhepunkte sind deutlich den Aufzeichnungen zu entnehmen. Ebenso finden wir klare - durch Tempomodifikationen angegebene - Gliederungen der großen Form. Betonungen machen wie in der 1. Sinfonie deutlich, dass der Taktstrich nur eine Orientierungsgröße, jedoch keine musikalische Einheit sein muss. Obwohl alles im 3/4 Takt steht, gibt es auch deutliche 6/8 Takte und sogar 3/2 Takte, ohne dass das extra vorgeschrieben wäre. Auffallend sind auch Stricharten, die ganz bewusst strukturell gedacht sind und nicht der Bequemlichkeit der Streichertechnik folgen.
Der zweite Satz verzeichnet über zwanzig verschiedene agogische Varianten, die auch im Finale eine große Rolle spielen, wobei sicher die Überleitung in die Reprise am deutlichsten zeigt, wie gravierend die Unterschiede von Brahms´ Wünschen zur heutigen Aufführungspraxis sind. Üblicherweise wird mit dem pianissimo vor dem in tempo der Reprise ein großes ritardando gemacht, welches aber auf Grund des bereits vorangegangenen sempre piu tranquillo eine Doppelung darstellt. Nach den überlieferten Wünschen von Brahms sollte das Tempo durch eine Beschleunigung erreicht werden, was strukturell auch durch die verwendeten Viertel vor der Reprise logisch ist. Auffallend ist auch der Übergang zur Coda, der „schwer und zurückhaltend“ beginnen soll.
In der 3. Sinfonie finden wir unter den Tausenden von Anweisungen einige signifikante, die den Abstand zur heutigen Praxis deutlich machen, aber die Möglichkeit bieten, uns wieder den Wünschen von Brahms zu nähern:
Im ersten Satz wird durch genaue Angaben die Artikulation sehr differenziert angegeben. Zunächst sind die Noten ohne Punkt wirklich tenuto zu spielen, alle Auftakt-Viertel sind halblang und erst in der Fortspinnung des Themas taucht das erste marcato, staccato auf.
Zahlreiche Fragen über subito piani, die nicht eindeutig aus der Erstausgabe zu ersehen sind, werden schon allein durch die verwendete Strichart beantwortet. Das zweite Thema grazioso wird im Tempo etwas abgestuft. Durch Temporückungen werden auch formelle Strukturen des Werkes deutlicher gemacht: Überleitungstakte und Einleitungstakte werden oft ein wenig aus dem Haupttempo gerückt. Mehrfach hintereinander stehende Forte-Bezeichnungen werden zwischendurch entweder durch ein Diminuendo oder mit Crescendo mit nachfolgender Subito-Wirkung modifiziert. Die Reprise wird als Konsequenz der Durchführung etwas flüssiger genommen. Im zweiten Satz sind vor allem Bezeichnungen wie senza vibrato, „eisig“ oder „bei der Suche nach dem Thema zurückhalten“ auffallend.
Der dritte Satz wird als Notturno mit einer „zart und duftigen“ Begleitung umschrieben, wobei das Cello-Thema wirklich mezza voce sein soll. (Meist ist es als Forte-Klangorgie zu hören). Das Trio ist scherzando aufzufassen und am Schluss ist - wie so oft bei Brahms - der Taktstrich eben nur eine Orientierungshilfe, jedoch kein Betonungszeichen. Die Strukturen müssen hörbar werden.
Der letzte Satz beginnt „ohne Ausdruck und Betonung“ und im weiteren Verlauf ist der ständige Wechsel der Struktur zwischen Alla breve und 4/4 Takt zu beachten. Selbst klangliche Vorschriften wie ponticello sind zu finden. Das abschließende un poco sostenuto bleibt alla breve.
In der heutigen Konzertpraxis wird die Frage der Authentizität sehr oft auf die Frage der Orchestergröße und der Instrumentenwahl (historisch oder modern) reduziert. Wenn man sich die Situation zur Brahms-Zeit anschaut, so wissen wir, dass sich die Orchesterbesetzung in einem Umbruch befand. Die Besetzung der Bläser wurde auf Grund der damals zeitgenössischen Kompositionen immer größer, und so entstand im 19. Jahrhundert die Bestrebung, das Streichorchester ebenfalls wesentlich zu erweitern. Wagner unternahm dazu 1846 den entscheidenden Vorstoß. Auch wenn wir uns hier auf die Meininger Hofkapelle und ihre Brahms-Aufführungen beziehen, gehen wir davon aus, dass für Brahms selbst nicht die Größe des Orchesters , welches übrigens in einem heute noch zu sehenden sehr kleinen Saal spielte, entscheidend war, sondern die ausgedehnten Probenmöglichkeiten. Nicht umsonst klagt Felix Mottl: „Bis zu 10 ersten Geigen ist halt „Kammermusik““. Auf der anderen Seite benutzte Brahms durchaus die Errungenschaften der inzwischen stark angewachsenen Orchester: Das Leipziger Gewandhaus verfügte schon 1865 über eine Besetzung von 16/14/8/9/6 für einen nicht zu großen Saal, die Berliner Hofoper bereits 1843 über 14/14/8/10/8, und Brahms hat gern davon Gebrauch gemacht. In entsprechend großen Sälen ist also eine kleine Orchesterbesetzung sicher nicht in Brahms’ Sinn, wohl aber die richtige Ausführung unter Berücksichtigung seiner Anweisungen. Sowohl in unseren bisherigen Konzerten als auch auf der in Kürze erscheinenden Gesamtausgabe (Live-Aufnahmen) seiner Sinfonien werden die Ergebnisse dieser Untersuchungen klanglich erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt.
Foto: Die Meininger Hofkapelle 1899 unter Fritz Steinbach