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Wagner, Richard und das Tempo in seiner Musik oder „Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt“

Niederländische Übersetzung im Programmheft "Götterdämmerung"

Richard Wagner und das Tempo in seiner Musik
oder „Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt“

Im Zeitalter der Medien geht es im Allgemeinen nicht mehr um die Darstellung des jeweiligen Werkes sondern um die Selbstdarstellung der Dirigenten und Regisseure. Da von der Mehrzahl der Medien bei der Vielzahl der Ereignisse nur noch die Extreme beachtet werden, - es muss extrem jung oder alt, extrem schnell oder langsam, extrem leise oder laut sein, extrem schön oder hässlich - richtet sich eine überwältigende Zahl der Interpreten an diese Anforderung der Zeit, um auf diese Weise von diesen Medien beachtet zu werden.

Diese These zu beweisen, scheint nicht so einfach. Am Beispiel der Temponahme lässt sie sich jedoch deutlich nachweisen. Beim Studium der Aufführungstraditionen von Wagners Werken fällt auf, dass etwa in den ersten siebzig Jahren der Existenz von Wagners Werken eine bestimmte Richtung der Temponahme feststellbar war, die auf der Übertragung von einer Generation zur anderen erfolgte und keine extreme Abweichungen aufweist. Diese Weitergabe der auf Wagner zurückgehenden Tempi erfolgte ohne Tonträger (und ohne Einfluss der Werbung der Tonträger-Industrie, die ihre Produkte ohne Rücksicht auf die tatsächliche Qualität vermarktet). Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts - zusammenfallend mit dem enorm wachsenden Einfluss der Medien - beginnt sich eine Tendenz abzuzeichnen, die Extreme sucht, die nachweisbar weit von Wagners ursprünglichen Ideen abweichen, denn wir können nach allen historischen Dokumenten davon ausgehen, dass die Aufführungszeiten (sprich: Tendenzen des Tempos) der Uraufführung sicher in wesentlichen Aspekten Wagners Intentionen näher stehen, als die späteren Extreme und eher zu langsam als zu schnell waren. Die folgende Grafik macht deutlich, was damit gemeint ist.

Graphik siehe pdf

Jahr Dirigent Rheingold Walküre Siegfried Götterdämmerung Gesamtzeit

1876 Richter 2’31 3’39 4’00 4’19 14’29
1896 Mottl 2’32 3’48 3’56 4’14 14’30
1896 S. Wagner 2’21 3’44 3’53 4’15 14’13
1904 Beidler 2’23 3’36 3’58 4'38 14’35
1909 Balling 2’21 3’39 3’54 4’24 14’18
1927 v. Hoeßlin 2’22 3’51 3’49 4’09 14’11
1930 Elmendorff2’39 3’38 3’54 4’13 14’24
1934 Tietjen 2’17 3’47 3’51 4’18 14’13
1936 Furtwängler2’36 3’38 3’58 4’14 14’26
1951 von Karajan 2’25 3’36 3’53 4’20 14’14
1951 Knappertsbusch2’42 3’53 4’05 4’40 15’20
1952 Keilberth 2’20 3’32 3’34 4’15 13’41
1953 Krauss 2’24 3’32 3’57 4’20 14’13
1953 Furtwängler 2’35 3’55 4’08 4’28 15’06
1959-65 Solti 2’26 3’49 3’57 4’25 14’37
1960 Kempe 2’32 3’41 3’54 4’18 14’25
1964 Klobucar 2’29 3’37 3’57 4’18 14’21
1965 Böhm 2’20 3’30 3’46 3’59 13’35
1966-67Böhm 2’16 3’29 3’42 4’07 13’34
1966 Suitner 2’14 3’27 3’37 3’59 13’17
1968 Maazel 2’21 3’32 3’36 4’04 13’33
1976 Boulez 2’24 3’30 3’48 4’15 13’57
1982 Janowski 2’19 3’39 3’52 4’09 13’59
1983 Solti 2’23 3’41 3’47 4’21 14’12
1984 Schneider 2’24 3’40 3’52 4’17 14’13
1988 Barenboim 2’35 3’52 3’56 4’35 14’58
1992 Haitink 2’29 3’52 3’49 4’18 14’28
1994 Levine 2’37 3’59 4’21 4’39 15’36
1998 Haenchen 2’21 3’41 3’40 4'03 13.45

Natürlich ist Tempo von vielerlei Faktoren abhängig, die hier im Einzelnen nicht dargelegt werden können. Kein Dirigent ist in der Lage hundertprozentig Abend für Abend das gleiche Tempo zu erreichen. Sicher nicht in einer Kunstform, wie der Oper. Dabei handelt es sich aber um Abweichungen, die beim Ring (nach den Bayreuther Aufzeichnungen) bei dem gleichen Dirigenten in einer Serie maximal 14 Minuten (und das ist schon extrem) im Gesamtwerk betragen. Auf der anderen Seite ist der Ring geeignet, eine allgemeine Tendenz darzulegen, da es sich immerhin um Musik handelt, die in ihren (bisherigen) Extremen eine Differenz der Aufführungsdauern von 2 Stunden und 19 Minuten (!) ertragen muss. Man muss sich aber bewusst sein, dass es einige Tausend verschiedene Tempi im gesamten Zyklus gibt, die wiederum durch Wagners proportionale Anweisungen verbunden sind, aus denen sich eine Gesamtaufführungsdauer ergibt. Da aber alle sehr schnellen Tempi durch spieltechnische Grenzen nicht (wesentlich) schneller gespielt werden können, müssen sich Tempounterschiede nur im mittleren und langsameren Tempobereich abspielen. Bekannt ist, dass der Uraufführungsdirigent Hans Richter, der nahezu alle Instrumente beherrschte, den Musikern in jedem Fall nachweisen konnte, dass alles, was Wagner geschrieben hatte, auch spielbar war. Und wenn es - wie für die Bayreuther Wiederaufnahme des Ringes - mit 46 Orchesterproben erreicht wurde. Wenn wir davon ausgehen, dass heute bestimmte spieltechnische Probleme leichter zu bewältigen sind als zu Wagners Zeit, ist der Unterschied zu Wagners Tempo-Ideen bei den heute üblichen langsameren Aufführungen als noch größer anzunehmen. Wie immer können natürlich nur originale Quellen Grundlage einer Beurteilung des „richtigen“ Tempos sein.

In unserer Produktion in Amsterdam sind wir erstmalig in der Lage, alle Aufzeichnungen der musikalischen Assistenten von 1876 (Heinrich Porges, Hermann Levi, Felix Mottl und Julius Kniese) in die Interpretation wieder aufzunehmen. Auf der Grundlage der originalen Aufführungsideen Wagners müsste die Gesamttendenz bei der Aufführung seiner Werke also etwas schneller sein, als bei der Uraufführung. An wenigen Beispielen ist deutlich zu machen, worum es Wagner ging. Wagner, der als Autor Regie führte und selbstverständlich auch die musikalische Oberleitung hatte, brauchte Dirigenten, die fähig und bereit waren, vorbehaltlos auf seine Vorstellungen einzugehen und sie zu realisieren. So sind auch die Probenbemerkungen Wagners von 1876 zu verstehen.

Für Walküre und Siegfried - um zwei allgemeingültige Vorbilder herauszugreifen -
sind zusammen 715 Bemerkungen überliefert. Das erstaunliche ist, dass davon 208 Anweisungen schnellere Tempi verlangen, als sie vom Uraufführungsdirigenten Hans Richter in den Proben realisiert wurden. Das sind immerhin 30% aller überlieferten Bemerkungen. Dagegen stehen nur 135 Anweisungen, die sich auf Verzögerungen beziehen, 101 auf Dynamik und 206 auf Ausdruck und Artikulation. Auffallend ist, dass Wagner allein für diese zwei Opern 36 mal die Anweisung gibt: „Nicht schleppen" und immerhin 17 mal: „Ohne Sentimentalität". Es ist hier nicht der Raum um alle Anweisungen zu analysieren, aber selbst Anweisungen, die eigentlich eine Verlangsamung umschreiben und auch in dieser Kategorie mitgezählt wurden, beinhalten gegenüber der heutigen Praxis eine Beschleunigung. An zwei Beispielen möchte ich das deutlich machen: Im ersten Akt von Siegfried bei Mimes Text „Nun tobst du wieder wie toll" schreibt Wagner in der Partitur erst „Sehr allmählich immer etwas langsamer" und einige Takte später „Sehr mäßig und immer noch langsamer" um kurz danach ein neues durch die Verlangsamung erreichtes Tempo mit Andante anzugeben. Offensichtlich führte das schon zu Zeiten der Uraufführung zu einem zu langsamen falschen Tempo. Dazu bemerkte Wagner: „Alle Tempomodifikationen genau beachten, jedoch in langsamen Stellen nie soweit gehen, dass das Gefühl verweilender Ruhe sich erzeuge." Zum Beginn des zweiten Aktes von Siegfried gibt es in der Partitur eine Tempoanweisung „Träg und schleppend" und es wird im Wesentlichen von dem „Riesenmotiv" und dem „Hortmotiv" als musikalischer Ausdruck des auf dem Hort schlafenden Riesenwurms Fafner beherrscht. In neueren Interpretationen wird dieser Anfang außerordentlich langsam genommen. Wagner umschreibt aber in seinen Probenanweisungen von 1876 sehr genau, was er darunter versteht: „Das träg und schleppend kommt durch ein geringes Zurückhalten beim 2. und 4. Viertel des Riesenmotivs am Besten zum Ausdruck, in den Zwischentakten wieder vorwärts im Tempo." Im dritten Akt, beim „Vaterfreude-Motiv" welches er in der Partitur mit „sehr mäßig" bezeichnet, bemerkt er: „Diese ersten Achtel immer etwas gehalten, dann weiter fließender...." Die genannten Beispiele und die große Anzahl der Anweisungen für die Textartikulation und für den Ausdruck machen deutlich, dass Wagner dem Sprachrhythmus und der sprachlichen Verständlichkeit mit seinen Tempi folgte und somit jede Form der Zerdehnung und falscher Sentimentalität entgegenwirkte. Porges schreibt in seinem Bericht über die Uraufführung von 1876 : „Den richtigen Eindruck werden ... diese dialogischen Stellen nur dann hervorbringen, wenn das Tempo, in dem sie ausgeführt werden, im Wesentlichen dasselbe ist, wie das der gesprochenen Rede." Deutlicher kann es nicht gesagt werden. Cosima schreibt deprimiert nach dem ersten Ring am 9.9. 1876: „Richter nicht eines Tempos sicher.“An anderer Stelle verweist Porges auch auf das Verhältnis der Dynamik zwischen Sänger und Orchester, was letztlich nicht nur dynamische Folgen sondern auch Tempokonsequenzen hat: „Bei den Proben des Nibelungenringes stellte es sich nämlich als eine Nothwendigkeit heraus, an vielen Stellen die dynamischen Bezeichnungen der Tonstärke zu ermäßigen, öfter an die Stelle eines fortissimo ein forte, an die Stelle eines forte ein mezzo forte u.s.w. zu setzen. Dies geschah aus dem Grunde, um vor allem Wort und Ton des Sängers zu deutlichem Vernehmen gelangen zu lassen; denn wir sollen eben keinen Moment vergessen, dass wir einer dramatischen Aufführung, die durch die überzeugende Gegenwärtigkeit einer dem wirklichen Leben nachgebildeten Handlung zu wirken hat, beiwohnen, und nicht etwa ein Werk der rein symphonischen Kunst aufzunehmen haben. Für den Vortrag jener symphonischen Sätze, bei denen gleichzeitig der Darsteller durch das gesungene Wort wirken soll, gilt daher die Vorschrift, dass bei ihnen die Kraft der Tongebung nie den äußersten Grad erreichen darf." Die Erfahrung mit heutigen Sängern des „schweren" Faches zeigt aber, dass zunehmender Größe des Tones das Tempo langsamer wird. Wagner wollte hier offensichtlich bewusst dagegen angehen. Porges fährt fort: „Dieses Verhältnis der Tonstärke des Orchesters zum Sänger kam im Verlaufe der Proben öfter zur Sprache, und der Meister bediente sich wiederholt und mit Vorliebe des Vergleichs, dass das Orchester den Sänger stets so tragen solle, wie die bewegte See einen Nachen, diesen aber nie in die Gefahr des Umschlagens bringen oder gar verschlingen dürfe. Die Beachtung dieser Vorschrift darf aber die Spieler ebenso wenig dazu verleiten, in eine weichliche oder gar gleichgültige Vortragsweise zu verfallen, sondern sie müssen vielmehr mit angespanntester Aufmerksamkeit darauf bedacht sein, durch besonders deutliche Phrasierung der Perioden und äußerste Bestimmtheit in der Ausführung der metrischen und rhythmischen Akzent, die plastischen Umrisse ihrer Melodien- und Themenkomplexe in aller Prägnanz hervortreten zu lassen." Wenn das schon für die das Orchester dämpfende akustische Situation in Bayreuth galt, um wie viel mehr, ist es für andere Opernhäuser gültig! Interessant ist, mit dieser Erkenntnis und dem Wissen um Wagners originale Anmerkungen (die bisher in keiner Partitur standen), die Aufführungstraditionen zu verfolgen. Das sind auf der einen Seite die überlieferten Aufführungszeiten, die natürlich nur Tendenzen wiedergeben können. Deutlicher wird es bei den überlieferten Aufnahmen. Da wird meine These durch noch vorhandene Tonträger bestätigt. Der von HMV aufgenommene „Potted" Ring (1927-32) mit den Dirigenten Lawrence A. Collingwood, Leo Blech, Albert Coates, John Barbirolli, Robert Heger, Karl Alwin, Karl Muck macht deutlich, dass Wagners Anweisungen fortlebten und jeder Dirigent auf seine Weise versuchte, sich den Intentionen Wagners so weit wie möglich zu nähern. Diese sind auf diesen Aufnahmen mit unterschiedlichen musikalischen Handschriften in flüssigen Tempi und brillanter Textbehandlung noch immer zu hören. Die Aufnahmen entsprechen dem in der obigen Grafik dargestellten Sachverhalt, dass in den ersten 70 Jahren der Aufführungspraxis noch eine auf Wagner selbst basierende „Aufführungs-Tradition" bestand. Diese wurde durch zwei Faktoren unterbrochen: Das Abbrechen der direkten Aufführungstradition und das Aufkommen des Faschismus und der zeitgleich aufkommende Einfluss der Medien. Der Bruch der direkten Tradition entstand nach dem Tode von Siegfried Wagner und Cosima (1930) und dem Aussterben der ersten und zweiten Generation der Dirigenten. Siegfried Wagner hatte versäumt, eine Nachfolge generativ aufzubauen. Keiner der späteren Dirigenten außer Willibald Kaehler war Assistent bei den Festspielen gewesen. Es ist verständlich, dass von hier an die mündlich und verstreut schriftlich vorhandenen auf Wagner selbst zurückgehenden Aufführungsdetails in den nächsten Jahren verschwinden. Die Aufführungen von Dirigenten, die der deutschen Sprache nicht in vollem Umfang mächtig waren, brachten zusätzlich Verwirrung in die Aufführungspraxis, da musikalische Anweisungen wie zum Beispiel „sehr gehalten" plötzlich als Tempoanweisung und nicht als Artikulationsanweisung verstanden wurden. Neben Toscanini, welcher zur genannten Kategorie gehörte und einer der langsamsten Wagner-Dirigenten überhaupt war, stand die nächste große Wagner-Dirigenten-Persönlichkeit: Wilhelm Furtwängler. Er hat im Gegensatz zum „Bayreuther Stil" die Gleichberechtigung von Text, Theater und Musik abgelehnt und deutlich den Primat der Musik gegeben: „Das „Ganze" der Oper, ihre Struktur, und ihr Sinn, wird aber durch die Musik bestimmt, der daher auch der Primat innerhalb der Oper zufällt."

Das offensichtlich die faschistische Zeit nicht nur Wagners Werk ideologisch missbraucht hat, sondern dieses auch zu sentimentalen, pathetischen und damit langsameren Aufführungen geführt hat, lässt sich an Hand der Bayreuther Aufführungszeiten leider nicht restlos beweisen, da die dafür relevanten Zeiten nicht vollständig genug überliefert sind. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass Furtwänglers Interpretation seit seinem erstem Ring von 1936, der in etwa noch den Uraufführungszeiten entsprach, bis zu seiner Aufnahme vom Jahre 1953 um 40 Minuten (!) langsamer geworden ist. Die Aufnahme zeigt auch deutlich, dass die überlieferten Anweisungen von Wagner nahezu keine Berücksichtigung mehr fanden und in vielen Fällen den nun wieder zusammengetragenen Anmerkungen Wagners geradezu diametral gegenüber standen. Dass Furtwängler für viele nachfolgende Dirigenten prägend war und ist, steht natürlich außer Zweifel. Und die Mehrzahl der späteren Schallplatten-Einspielungen und Aufführungen ist langsamer als die Uraufführung oder als die Tempi der ersten 70 Jahre nach der Entstehung. Die Abweichung zum langsamsten Ring von der Uraufführung beträgt 1 Stunde 7 Minuten, die Abweichung des schnellsten Ringes beträgt zur Uraufführung 1 Stunde 12 Minuten. Dabei muss man vor Augen haben, dass für Wagners Wünsche die Uraufführung - vor allem von Siegfried - schon zu langsam war, der Unterschied der heutigen langsameren Aufführungen zu Wagners Vorstellung also noch größer war. Daneben gab es aber eine andere Traditions-Linie, die durchaus noch etwas vom ursprünglichen Bayreuther Stil bewahrt hat: Richard Strauss, der 1898 in Bayreuth assistierte, fiel - was die Tempi der Aufführungen seiner eigenen Werke durch andere anlangte - ein ähnliches Schicksal zu, wie Richard Wagner. (Man vergleiche nur die Aufnahmen unter seiner Leitung mit neueren Aufnahmen, die fast ausnahmslos langsamer sind.) Er hat Felix Mottl (Assistent des ersten Ringes und Dirigent des Ringes von 1896) aufs Tiefste verehrt. Obwohl Mottl wegen seiner „langsamen" Tempi oft kritisiert wurde (er brauchte 1 Minute (!) für den gesamten Ring länger als Hans Richter), können wir davon ausgehen, dass die Tempi noch sehr nahe bei Wagners Intentionen waren. Cosima schrieb, dass „Mottl ein ausgesprochener Bühnendirigent war, der den Zusammenhang zwischen Szene und Orchester meisterlich zu wahren wußte." Er gehorchte damit einer zentralen Forderung des Bayreuther Stils. Strauss fühlte sich als direkter Nachfolger von Mottl und hat seinerseits wieder Nachfolger wie Clemens Krauss und Karl Böhm gefunden, die alle etwas unter den Uraufführungszeiten bleiben. Richard Strauss hat einmal gesagt: „Nicht ich bin im Parsifal schneller, sondern ihr in Bayreuth seid immer langsamer geworden. Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr in Bayreuth macht." Auch Gustav Mahler hat sich dahingehend geäußert. Schließlich gibt es noch die Besonderheit des „unsichtbaren" Orchesters, in welchem durch die besonders tiefe Aufstellung des Orchesters unter der Bühne der direkte Kontakt der einzelnen Musiker zur Bühne unmöglich ist, weswegen eine allgemeine Tendenz zu langsamen Tempi in Bayreuth zu bemerken ist, die Wieland Wagner treffend umschreibt: „Daher kommt zu einem großen Teil auch das Schleppen hier in Bayreuth. Der eine wartet mehr oder weniger unbewusst auf den anderen und entschließt sich erst dann weiterzugehen, wenn er ihn zu hören meint." Es ist allgemein bekannt, dass die besondere und viel gelobte Akustik von Bayreuth eigentlich nur wirklich im Parsifal voll funktionsfähig ist. In den frühen Stücken, die für andere Bühnen komponiert wurden und auch im Ring der von viel dichteren Strukturen lebt, als Parsifal, vor allem auch in Meistersinger ist man sich bewusst, dass die Bayreuther Akustik durchaus nicht das Ideal ist, da sie die Kontrapunktik dieser Werke verwischt. Aus Bemerkungen und Aufzeichnungen kann man vermuten, dass Wagner selbst möglicherweise Veränderungen wieder angebracht hätte, wenn er 1896 den Ring hätte noch einmal selbst realisieren können. Unter Siegfried Wagner wurde dann der Orchestergraben noch zweimal umgebaut und die Sitzordnung verändert, um dann unter Winifred Wagner als „heilig" erklärt zu werden. Herbert von Karajan bekam große Schwierigkeiten, als er versuchen wollte, etwas zu verändern. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Graben mit modernen technischen Mitteln akustisch optimiert, ohne dass die oben genannte Eignung für andere Wagner-Werke vollständig verbessert werden konnte. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die überwiegende Verlangsamung der Tempi bei anderen Werken Wagners ebenso, oder sogar noch stärker ausgeprägt war, wie zum Beispiel bei Parsifal, der nur wenige schnelle Tempi beinhaltet, die - wie oben dargestellt - sich weitgehend „temponeutral" verhalten: Die Uraufführung 1882 unter Hermann Levi dauerte 4/04 wobei da noch die von Engelbert Humperdinck für die Verwandlungsmusik hinzukomponierten Takte abgerechnet werden müssen, 1888 unter Felix Mottl 4/15, 1897 unter Anton Seidl 4/19, 1901 unter Karl Muck 4/27, 1909 unter Siegfried Wagner gab es eine kleine Korrektur dieser Tendenz mit 4/22, 1931 unter Arturo Toscanini einen Rekord von 4/42 (38 Minuten langsamer als die UA), der nach dem Einfluss von Clemens Krauss 1953 eine umgekehrte Tendenz folgte (3/44), die aber mit James Levine 1990 wieder in das andere Extrem mit 4/33 verfiel. Erstaunlich ist, dass innerhalb einer Oper Tempo-Unterschiede von nahezu einer Stunde denkbar sind. Vergleicht man das mit dem ganzen Ring, bei dem die Unterschiede „nur" knapp eindreiviertel Stunden (gerechnet auf ca. 14 Stunden Musik) betragen, so sind die Extreme bei einer Berechnung auf 4 Stunden Musik wirklich extrem, sind aber eine deutliche Unterstützung meiner dargelegten Ansichten über die Gründe der Verlangsamung.

Wenige Detail-Vergleiche machen die Tendenz zur Verlangsamung von Wagners Musik noch deutlicher als die Gesamtzeiten: Die erste Aufnahme vom Meistersinger-Vorspiel (1905) mit Myrte Elvyn dauert nur 7´55 Min.. Richard Strauss nahm sich 1944 9’25 Min. und Bruno Walter 1959 10’10 Min.. 1905 brauchte Emil Paur bei seiner Einspielung von Siegfrieds Tod auf dem Welte-Mignon-Flügel 8´32 Min.. Arturo Toscanini nimmt für das gleiche Stück nahezu das halbe Tempo und braucht 13´57 Min.. Olga Samaroff spielte 1905 den Walkürenritt (Konzertfassung) in 3´45 Min.. Dazu brauchen Wilhelm Furtwängler 4´30 und ArturoToscanini 5´25 Min..

Gehen wir aber zurück zu den Quellen: In einem Brief vor dem ersten Bayreuther Ring 1876 schrieb Wagner an seinen Uraufführungsdirigenten Hans Richter: "Freund! Es ist unerläßlich, dass Sie den Klavierproben genau beiwohnen, Sie lernen sonst mein Tempo nicht kennen, und dann ist es mehr als beschwerlich, in den Orchesterproben, wo ich mich doch nicht gern erst mit Ihnen über das Tempo verständige, zum Schaden des Ganzen dies nachzuholen. Gestern kamen wir, besonders bei Betz (dem Sänger des Wotan, H.H.), den ich am Klavier immer im feurigsten Tempo habe singen lassen, aus dem Schleppen nicht heraus. ...ich glaube wirklich auch, Sie halten sich durchgängig zu sehr am Viertelschlagen, was immer den Schwung eines Tempos hindert, namentlich bei langen Noten, wie sie in Wotans Zorn häufig vorkommen. Man schlage meinetwegen selbst die Achtel aus, wo der Präzision dadurch genützt wird: nur wird man nie ein lebensvolles Allegro durchgängig durch Viertel im Charakter erhalten." An anderer Stelle schreibt er: „Es war nur in diesen Augenblicken so demüthigend, zu gestehen, was mich so verzweiflungsvoll erregte, und hiermit zu erklären, dass es mein Entsetzen darüber sei, wahrzunehmen, wie mein Kapellmeister, trotzdem ich ihn für den Besten halte, den ich noch kenne, das richtige Zeitmaß - öfters schon geglückt - doch nicht festzuhalten vermochte, weil - ja! weil er eben unfähig war zu wissen, warum es so und nicht anders aufgefaßt werden müsse." Cosima schreibt in ihrem Tagebuch am 20.11. 1878: „Richard ruft wiederum aus: „Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt." Auch aus diesen Briefstellen wird deutlich, dass es ihm vor allem darum ging, dass die Tempi nicht zu langsam werden und er sogar Anweisungen gab, wie man bestimmte Stellen dirigiertechnisch lösen sollte. Das gleiche bestätigt der treue Helfer und Assistent bei den Proben zur Uraufführung Heinrich Porges . Er hielt in seinen Aufzeichnungen fest: „Nirgends durfte ein unmotivirtes, nicht durch die eigenthümliche Natur der Situation gebotene Zögern oder verweilen stattfinden" und kurz darauf berichtet er über Wagner, „dass er jeder blos individuellen Willkür, und äusserste sich diese auch auf geniale Weise, abhold ist." In der Beschreibung der Proben zu Walküre schreibt er über die Szene zwischen Wotan und Fricka: „In dem ganzen, an fesselndem Detail überreichen Dialoge erneute er eine oft gethane Mahnung, keine Zögerung im Tempo eintreten zu lassen, zu welcher Sänger und Spieler gerade bei gemüthstiefen Stellen so leicht hinneigen." Auch an bei einem seiner Besuche in Venedig äußerte er sich über das Tempo: „Nun hörte ich abends von ihm (dem Kapellmeister H.H.) den Tannhäusermarsch, und mich ärgerte das schleppende Tempo; da liess ich ihm sagen, wenn er wieder was von mir machte, sollte er mir´s doch sagen, damit ich ihm das richtige Tempo usw. weisen könnte." Was ich oben als „Bayreuther Stil" gekennzeichnet habe, wird auch aus einem Brief Wagners an den Theaterdirektor Angelo Neuman deutlich, wo er seinen „Schüler" Anton Seidl überschwänglich rühmte: „Keiner von allen Dirigenten kennt meine Tempi und die Übereinstimmung der Musik mit der Aktion. Seidl habe ich unterrichtet." Wagner hatte also durchaus nicht die Idee, dass seine Werke ein breites Spektrum an Tempomöglichkeiten habe. Die Tempi müssen „... so und nicht anders aufgefasst werden“ schrieb er am 9.2. 1878 an Ludwig II. Noch drastischer sind zwei etwas überspitzte Proben-Bemerkungen Richard Wagners im Jahre 1876, die innerhalb der Untersuchungen für die Quellen zur Aufführungspraxis wieder ans Tageslicht getreten sind: „Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müßte das Rheingold in zwei Stunden fertig sein." Und
„Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis."

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