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Puccini, Giacomo: La Bohème

Interview Chris Engeler/Hartmut Haenchens deutsche Stichworte für ein niederländisches Interview, 11 Dezember 1992

Thomas Mann: "Vor dem Sinnlichen soll man sich am Ende weder fürchten noch schämen."

1.

C.E.:
Die Figuren von La Bohème werden von Puccini in einer Weise musikalisch dargestellt (“definiert"), die die Gefühlsregungen dieser Personagen hervorhebt, und weniger ihre "tatsächliche" Existenz als Rodolfo, Mimi, usw. Die Musik "beschäftigt" sich also zum größeren Teil mit den Emotionen und Gefühlen der Rodolfo, Mimi, usw. und weniger mit der "alltäglichen Dasein" der Personagen innerhalb der Opergeschichte.
Wenn das stimmt, wäre das als ein Merkmal musikalischer Verismo zu betrachten? Und wie ist das der Musik von La Bohème zu entnehmen.

H.H.:
Verismo: von (ital.) vero= wahr. Die Hauptvertreter sind Mascagni und Leoncavallo. Das naturalistisch-ungeschminkte und unreflektierte wird zum einzig Darstellungswürdigen erhoben. Dieser Naturalismus sondern sich vom Realismus eines Verdi ab. Puccini wurde davon wohl beeinflußt, doch behielt er seine eigene Tonsprache, die eher dem "dramma lirico" huldigte. Erst in der "Tosca" ist der Einfluß des "Verismo" stärker. Eher intereressierten ihn die neuen Orchesterfarben seines Generationsgenossen Claude Debussy. Für seine symbolistische Operntechnik konnte er sich aber nicht erwärmen (Pelleas). Ihn interessierten Charaktere (Manon, Mimi, Tosca, Butterfly), der gesellschaftliche Umkreis, der seine Charaktere zu Frauen macht, die - aus unterschiedlichen Gründen - zur postivien Lösung unfähig macht..
Bohéme bezeichnet er auch nicht als Oper, sondern als “Szenen aus dem Leben der Bohemiens”. So ist auch ein geschickter Wechsel von Genre-Bild (Anfang 1.Akt, Anfang 2.Akt, Anfang 3.Akt und Anfang 4.Akt) und Handlung (jeweils die zweiten Akthälften, die auch immer durch neues musikalisches Material gekennzeichnet sind (außer 4.Akt Erinnerungsmotive). Sowohl Buffo-Teile als auch tragische Teile. Aufhebung der Grenzen.

Also: er erzählt in der einen Hälfte mehr über die Personen wie sie leben und in der zweiten Hälfte wie sie fühlen. Aus der Kombination ergeben sich durchaus Charakterzüge, die aber nur im Zusammenspiel dieser Aspekte erkennbar werden.
Das erste Thema (Anfang der Oper) stammt aus einem Jugendwerk "Capriccio sinfonico" seine "Boheme-Zeit" charkterisierend. Hunger, Kälte, ungebundenes Leben, Liebelei.
Rodolfos Arioso und später nur in der 4/4 Takt übernommenes Thema seiner Arie stammt aus der unvollendet gebliebenen Oper "La lupa".
Schluß: Fortissimo ist nach cis-moll transponierter Schrei:
Ursprüngliche Textstelle: Sind wir allein? Ich stellte mich nur schlafend,weil ich gern mit Dir allein sein wollte.
2.

C.E.:
Sie verwenden für diese Produktion eine Partitur-Edition, die erst 1988 herausgegeben wurde. Aus welchen Gründen haben Sie sich für diese Edition entschieden? Wie läßt sich Ihre Wahl für diese Partitur-Edition mit dem Thema unserer Diskussion verbinden: La Bohème, eine "anderer" Puccini?

H.H.:
Quellenlage:
Skizzen: in Pierpont Morgan Library in New York
Partiturautograph: Archiv von Ricordi wie alle Puccini-Werke kaum leserlich. Beethoven ist nahezu ein Schönschreiber.
Die zweite Fassung, die nicht mehr identisch mit dem Partiturautgraph ist, wurde die erste Druckfassung von 1896.
Eine weitere neue Edition mit Ergänzungen des Komponisten erschien 1898,
Darauf basiert auch der bekannte Klavierauszug von Ricordi.
Wenn man weiß, wie bei Ricordi herausgegeben wird, ist deutlich, daß keine Partitur und keine Stimme ohne Druckfehler ist. (Wir haben hier während unserer Arbeit auch hunderte von Fehlern aus dem Orchestermaterial herausgeholt.)
Wichtig ist, daß diese Ausgabe versucht Irrtümer zu beseitigen und die verschiedenen Stadien des Werkes deutlich zu machen (z.B. durch Klammern)
Entscheidend ist aber, daß hier erstmals Korrekturen von Puccini veröffentlicht werden, die bisher keinen Eingang in die Ausgaben nach 1898 gefunden haben. Dabei ist das Wort-Ton Verhältnis noch klarer. Fehlbetonungen und z.B. das Gegenteil vom Ausgesagten hörbar zu machen.
vivo.
3. Akt (S. 315)
Dynamische Veränderungen Akzente, Bindebögen und andere Ausdruckszeichen
z.B. Anweisungen: Parlato, quasi parlato, gridato(rufen) urlato(schreien)

3.

C.E.:
Puccinis "Warenzeichen" soll die musikalische Fixierung einer Situation oder Handlung sein, bei der er dann einzelne Orchesterstimmen für spezifische Klangfarben verwendet. Können Sie uns das an Hand der Bohème-Musik bitte erklären.

H.H.:
3. Akt Anfang (Schneeflocken). 2. Akt Musette-Walzer, Gläser für die Taverne. Schwärmerisches Rodolfo Thema seines Ariosos - wenn er (laut) dichtet. Wenn seine Dichtung verbrannt wird, wird es Tremolo. Papagei (Sekunden, Ob + Trp gedämpft). Un po' di regligione Kirchenkadenz (gespielte) moralische Entrüstung (4 Hörner unisono con tutta forza). Treppe herunterfallen (Tiefe Streicher chromatisch abwärts). Kindermusik mit Glockenspiel (Xylophone). 4. Akt Herzschlag von Mimi setzt aus.
Wesentliche Verbesserung gegenüber "Manon Lescaut". Am bekanntesten: Gleichlaufende Bläser mit der Harfe (Schnee des 3.Aktes.)

4.

C.E.:
Es wird behauptet, die Bohème-Musik versuche nicht sich von der reichen italienischen Oper-Tradition zu lösen. Anders formuliert: Die Musik von La Bohème soll nicht wirklich "innovativ" sein, soll kaum neue Wege einschlagen. Wenn das stimmt, welcher Platz käme La Bohème dann, Ihrer Meinung nach, in der italienischen Oper-Tradition zu? Auf der einen Seite gibt es ja die "Veristen" Mascagni, Leoncavallo und Giordano, auf der anderen Seite Puccinis Vorgänger - oder soll man sagen: Anführer - Verdi und Boïto?

H.H.:
La Bohéme ist zweifellos das bedeutendste Werk nicht nur Puccinis, sondern der italienische Oper überhaupt seit Verdi.
Die Uraufführung unter Toscanini war allerdings kein Erfolg. Die baldige Vergessenheit wurde prophezeit.
Entscheidend für seine Entwicklung war natürlich Verdi. Er pilgerte sogar zu Fuß nach Pisa um dort die "Aida" zu hören. Besonderen Einfluß gewann aber das Spätwerk mit dem typischen "stile misto" aus rezitativischen und ariosen Elementen. Dabei ist Puccinis Verdienst, die Grenzen zwischen Ariosem und Rezitativ erstmalig ganz fließend zu gestalten. Für ihn gibt es keine Trennung zwischen Singstimme und Orchester (wie noch bei Verdi). Das Orchester "singt" weiter, wenn der Sänger bereits wieder im Rezititativ ist und umgekehrt. Bei Höhepunkten koppelt er die Stimmen mit dem Orchester, um ein scheinbar gesteigertes Volumen der Gesangstimme zu erreichen. Die Kleingliedrigkeit von seinen Melodien, des harmonischen Ablaufs und der Klangfarben-Charakteristik sowie der Agogik versucht er formell durch rhythmische Grundmodelle in einen größeren Formenablauf zu bringen.
Als Puccini geboren wurde, stand Wagners "Tristan" vor der Vollendung. Er beschäftigte sich sehr genau mit Wagner, doch empfand er seine komponierweise als Ausdruck einer anderen nationalen und kulturgeschichtlichen Entwicklung.Motive verwendet er in leitmotivischem Sinn, aber nicht symphonisch-dramatisch,sondern in symetrischen Formen aus kurzen Perioden. Eben mehr als Erinnerungsmotiv.Puccini sagt: Der ganze letzte Akt ist aus logischen Erinnerungsmotiven aufgebaut.
Neue Verfeinerung der Stimmführung und Instrumentierung
Neuerungen in der Harmonik: Quintenparallelen, übermäßige Dreiklänge)

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