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Mahler, Gustav: 6. Sinfonie - Zur Frage der Reihenfolge der Mittelsätze

Gibt es eine wirklich endgültige Reihenfolge der Mittelsätze in der 6. Sinfonie

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Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6
Fragen zur Reihenfolge der Sätze, Antwort auf eine Zeitungsnotiz, 2004.
Beitrag zur DVD ICAD 5018, Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6, La Monnaie Symphony Orchestra, 2010

Die Problematik der Satzreihenfolge in den Sinfonien von Gustav Mahler (nicht nur in der 6. Sinfonie) ist jedem einigermaßen gewissenhaften Interpreten selbstverständlich bekannt.

Bereits 1968 hat der Herausgeber des Nachdruckes der Studienpartitur Hans Ferdinand Redlich dem Herausgeber der Mahler-Gesamtausgabe von 1962 Erwin Ratz nachgewiesen, dass er einen nicht vollständig haltbaren Standpunkt in verschiedenen Fragen der Ausgabe und der Frage der Reihenfolge eingenommen hat, da er teilweise spekulativ ist. Zu einer wissenschaftlichen Ausgabe gehört aber eben die Offenlegung aller Fakten und hier liegt der Fehler der Ratz-Ausgabe, der zu Recht kritisiert werden kann und muss. Wenn nun aber nahezu vierzig Jahre später verkündet wird, dass das Werk bisher immer falsch gespielt wurde, dann ist das einfach schlechter Journalismus, der auf die großen „Effekte" zielt und somit kann eine Mahler-Sinfonie auch die Titelseite einer Tageszeitung erreichen, was sonst praktisch unmöglich ist. Abgesehen davon ist der genante Artikel bereits am 14.12. 2003 in der New York Times erschienen, der Artikel hat also lange gebraucht, um in den Niederlanden die Titelseiten einer Tageszeitung zu erreichen. Es hat übrigens in der Vergangenheit einige Aufführungen in der Reihenfolge Andante als 2. Satz und Scherzo als 3. Satz (u.a. Zubin Mehta) gegeben. Dies ist also keine Neuigkeit. Übrigens lassen heutige technische Möglichkeiten sehr einfach zu, dass jeder zu Hause die Wirkung der Satzumstellung für sich beurteilen kann: man muss nur auf dem CD-Spieler die gewünschte Satzreihenfolge programmieren. Man wird sehr schnell feststellen, dass die jetzt als „richtige" Reihenfolge proklamierte Reihenfolge, die musikalische Logik der Fortsetzung des gleichen thematischen Materials in veränderter Taktgestalt vollständig unterbricht. Dadurch wird zwar mehr Abwechslung erreicht, was bei der Länge des Werkes durchaus dem Gesamterlebnis zuträglich ist, die Logik des musikalischen Konzeptes wird aber unterbrochen.

Wenn man die Fakten ohne die nun hochgespielten Emotionen (oder besser -journalistischen Übertreibungen) betrachtet, ist die Sache nicht wirklich ganz eindeutig lösbar und letztlich die Entscheidung eines Interpreten, die meines Erachtens beide Versionen der Satzreihenfolge mit einigen Einschränkungen zulässt: Nämlich dann, wenn dem Interpreten die Werkstruktur und deren Inhalt wichtiger ist, als ein nicht hundertprozentig zu definierender letzter Wille des Komponisten zur Veränderung der Abfolge.

Die nochmals revidierte Ausgabe (Karl Heinz Füssl, Reinhold Kubik) der Partitur der 6. Sinfonie, herausgegeben durch die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien im Jahre 1998, von der ich bei meiner letzten Aufführung im Amsteramer Concertgebouw im Juni 2001 Gebrauch machte, die immerhin 233 Änderungen enthält, ohne dass ich journalistisch Aufhebens davon machte, dass dies die niederländische Erstaufführung dieser Revision war, beinhaltet auch bereits einfach zugänglich alle Fakten. Dass die Partitur trotzdem die Satzreihenfolge II. Scherzo und III. Andante stehen lassen hat, ist eine Entscheidung der Herausgeber, die man jetzt bereit ist, zu verändern. Mahler selbst war sich über die Reihenfolge (wie gesagt - auch bei anderen Sinfonien) nicht sicher: Wenn man das Manuskript als Hauptquelle betrachtet und als ursprünglichen Willen des Komponisten, dann ist es eindeutig: Die Reihenfolge ist so, wie es bisher üblich ist: II. Scherzo und III. Andante. So ist es auch in der Stichvorlage und den beiden Erstausgaben. Danach gab es veränderte Ausgaben mit der Reihenfolge II. Andante und III. Scherzo. Es gibt aber kein Dokument, welches die Festlegung Mahlers eindeutig dokumentiert. Bemerkenswert ist auch, dass Mahler - im Gegensatz zu seinen anderen Sinfonien - nach Januar 1907 - also bereits wenige Monate nach der Uraufführung nie mehr mit dem Werk beschäftigt hat. Von grundlegenden Revisionen (wie z.B. bei der 5. Sinfonie) kann keine Rede sein und somit auch nicht von einer endgültigen Entscheidung in dieser Frage. Vollständig verwirrend ist Mahlers Praxis selbst: Er dirigierte die Uraufführung in Essen am 27. Mai 1906. Das Programmheft weist die Reihenfolge II. Scherzo und III. Andante aus. Die Kritiken behaupten allerdings das Gegenteil, also II. Scherzo und III. Andante. Mahler dirigierte das Werk nur noch zweimal: Am 8.11. 1906 in München mit - hier eindeutig - der Reihenfolge II. Andante und III. Scherzo. Verwirrend ist es wieder in Wien bei der letzten Aufführung unter Mahlers Hand am 4.1. 1907: Das Programmheft schreibt diesmal: II. Andante und III. Scherzo. Das Neue Wiener Journal am 5. Januar aber: „Mahler ließ aber das Scherzo an Stelle des zweiten Satzes spielen..." während andere Wiener Zeitungen der Folge des Programmheftes folgen. Mit diesem Rätsel werden wir als Interpreten also in eine Entscheidung entlassen...
Einziger - möglicherweise letzter - Hinweis von Mahler zur Lösung dieser Frage könnte eine Blaustift-Korrektur von seiner Hand im Korrekturabzug zur Erstausgabe der Dirigierpartitur sein: Dort waren die Aufführungszeiten der einzelnen Sätze angegeben. Nach den Längen zu urteilen, war die Folge so gedruckt: II. Andante und III. Scherzo. Dies hat Mahler eigenhändig korrigiert und als zweiten Satz die Länge des Scherzo und als dritten Satz die Länge des Andante eingetragen.
Das könnte man als Indiz für die bisher vorrangig übliche Reihenfolge annehmen. Welchen Sinn sollte sonst Mahlers eigene Korrektur haben?

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