Im Gegensatz zu vielen genauen Bezeichnungen im Orchester in Fragen der Dynamik, Artikulation und Phrasierung haben die Gesangsstimmen bei Wagners Opern nur wenige Anweisungen. Diese beziehen sich auf einige wenige piano – Hinweise. Niemals auf forte oder andere dynamische Bezeichnungen. Artikulationen sind ebenfalls äußerst selten, wie beispielsweise die Akzente bei Brünnhilde in der 2. Szene des 3. Aktes von „Die Walküre“ bei den Worten „was du nicht sahst“. Einige legato- Bögen zeigen die Stellen an, die sich von dem sonst von Wagner immer wieder geforderten dialogischen Singen durch ein „cantabile“ abheben sollen. Und schließlich gibt er einige Anweisungen für portamenti, die von Sängern oft übersehen oder missdeutet werden. Im Grunde sind sie leicht zu erkennen, da sie immer zwei Silben miteinander verbinden, die aus der Natur des Wortes ohnehin miteinander verbunden sind. Es kann sich also nur um diese zusätzliche Anweisung handeln und die Stellen, an denen Wagner das portamento mit diesem extra eingezeichneten Bogen eingesetzt wissen wollte, sprechen inhaltlich und musikalisch für sich: Da ist z.B. das drohende „Du labtest ihn?“ von Hunding. Durch das schleifen von „labtest“ wird die Frage noch bedrohlicher. Anders ist das portamento bei Brünnhilde in den „Hojotoho!“ – Rufen zu verstehen, wo sowohl die ersten beiden Noten, als auch die letzten beiden Noten bis hin zum berühmten hohen „c“ mit einem jauchzenden portamento verbunden sind.
Zunächst scheint der Interpret also vor einem großen Freiraum bei der Ausführung zu stehen, da die Partitur, gemessen am Umfang der „Ring“– Partitur, wenige Anweisungen für die Sänger enthält. Da wir im Rahmen der Vorbereitungen unserer „Ring“– Produktion erstmalig alle Aufzeichnungen der musikalischen Assistenten von 1876 (Porges, Levi, Mottl, Kniese) zusammengetragen haben, stand uns ein vollständig anderes, die originalen Anweisungen Wagners wiedergebendes, Material zur Verfügung.
Wenn man alle Bemerkungen zusammenfasst, fällt auf, dass neben ständigen Anweisungen, das Tempo nicht zu verzögern, immer wieder von Wagner darauf verwiesen wird, dass „ohne Sentimentalität“ gesungen werden soll. (Allein in „Walküre“ und „Siegfried“ gibt es diese Anweisung schon 17 mal.)
Die Anweisungen betreffen im Wesentlichen die Dynamik, die Agogik, den Ausdruck und das Tempo. Also alles, was in der originalen Partitur sehr sparsam vorkommt.
Einige Beispiele mögen exemplarisch für Wagners Arbeit mit den Sängern stehen:
Eine einzige Stelle der Walküren ist original von Wagner mit piano bezeichnet: „Zu uns floh die Verfolgte“. Dies wurde offensichtlich schon bei der Vorbereitung der Uraufführung zum Problem und Porges berichtet über Wagners Anweisung:
„Bei aller Empfindungswärme darf dieser Gesang nicht den Charakter angstvoller Erregtheit verlieren und demgemäß nicht zu sehr ins weichlich-lyrische übergehen.“
Diese Beschreibung gibt auch exakt die Situation wieder, in welcher sich die Walküren in Angst vor Wotan befinden.
Viele Bezeichnungen stellen auch den Bezug von Dynamik, Agogik, Tempi und Ausdruck her. Wenn z.B. Wotan (II,2 790) im Gespräch mit Brünnhilde sagt „dann wäre Walhall verloren“, schreibt Wagner in der Partitur „noch gedämpfter“. Levi ergänzt aus den Probenbemerkungen: „Mit geringer Dehnung. Nach ‚Walhall’ (pianissimo) kleine Pause, dann schnell ‚verloren’“. Wenn Fricka (II,1,388) singt: „In deinem Schutz scheinen sie stark; durch deinen Stachel streben sie auf: du reizest sie einzig, die so mir Ew’gen du rühmst.“, soll dies „Ohne jede Hastigkeit, die ‚kleinen Noten’ nicht zu kurz und sehr deutlich“ geschehen.
Die wohl häufigsten Probenbemerkungen beziehen sich auf Ausdruck und Tempo:
Siegmund soll (I,2 511) „erschlagen der Mutter mutiger Leib“„mit vibrierender Stimme“ „rührend“ singen oder (I,2,490) „doch Wehwalt muß ich mich nennen“„mit schmerzlich erbendendem Tone“ ausführen. Im Gegensatz dazu gibt es weit mehr Bemerkungen, die eine sachliche Erzählweise fordern. So soll von Sieglinde (I,3 958) „er freite ein Weib, das ungefragt Schächer ihm schenkten zur Frau“ „erzählend, unpersönlich vorgetragen werden“.
Während bei der Textstelle Siegmunds „leer lag das vor mir, den Vater fand ich nicht“ bei Siegmund in der Peters-Partitur bereits eine Aufzeichnung von Mottl gedruckt wurde, nach der Siegmund (I,2 553) die Stelle wie folgt ausführen soll: „Sehr einfach vorzutragen, kein Gefühlsausdruck“, ist in den weiteren bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen Mottls der fast zum Standard-Satz gewordenen Ausspruch Wagners in Bayreuth vermerkt: „Ohne jede Sentimentalität“ und Porges verzeichnet eine Probenbemerkung Wagners für die gleiche Stelle: „langsamer, mit wie schattenhaftem Tone“.
Ein schönes Beispiel, wie detailliert Wagner mit den Sängern arbeitete.
An anderer Stelle (siehe Booklet zu „Siegfried“) wird ausführlicher auf Tempofragen bei Wagner eingegangen. Hier geht es um den Zusammenhang von Sängerinterpretation und Tempo:
Die tiefe Gesangslage der Sieglinde (I,3 963) bei „ein Greis in grauem Gewand; tief hing ihm der Hut“ verleitet jede Sängerin, das Tempo zu verzögern. Wagner schritt dagegen ein und sagte: „jedes Schleppen des Tempos vermeiden“.
Ähnlich ist die Melodie von Sieglinde verführerisch (I,3 1013), sie aus dem dramatischen Inhalt herauszulösen und zu verzögern: „Da wußt’ ich, wer der war“. In der Partitur steht original „Ruhig“ wurde aber in den Proben ergänzt mit „doch drängend“, „nicht zu langsam“ und „mit bewußtem Ausdruck“.
Siegmunds berühmte „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ (I,3 1106) sollen laut Mottls Bericht ein „sehr fließendes Tempo“ haben. Porges berichtet ausführlich über Wagners Kommentare: „Nicht im Charakter eines lyrischen Konzertstückes sondern
nur als etwas aufhaltende Episode vorzutragen; das Tempo also nicht eigentlich langsam“. Mottl fügt noch einen drastischen Wagner-Ausspruch hinzu: „Vor jedem ‚Gesinge’ hüten! Fließend.“
Frickas Dialog mit Wotan (II,1) „Wo in Bergen du dich birgst“ hat von Wagner in der Partitur die Tempobezeichnung „Etwas breit“. Mottl fügt hinzu: „Alles alla breve“, was das Tempo noch klarer definiert und ein zu langsames Tempo, wie es oft genommen wird, ausschließt. Porges unterstreicht „In dem ganzen Dialoge darf auch bei den gemüthstiefen Stellen kein Zögern im Tempo erfolgen“. Mottl bestätigt das mit seiner Aufzeichnung: „Dieser Dialog darf nie geschleppt werden, sondern muß fließend gehalten bleiben.“
Das schon zu Wagners Zeit offensichtlich die Tempoanweisung „Langsamer“ oft als „Langsam“ interpretiert wurde, lässt sich aus folgender Probenbemerkung Wagners ableiten: „Im Tempo nicht zu langsam und schleppend werden, durch Wahrheit des Empfindungsausdruck wirken“ aber „Jedes Wort, jede einzelne Silbe deutlich heraus, sonst geht alles verloren“. Dies zu Sieglinde (III,1 381) „Nicht sehre dich Sorge um mich“.
Interessant ist die Entwicklung einer Brünnhilden-Stelle (III,1 409) „Lebe, o Weib, um der Liebe willen“ als Antwort auf Sieglindes „stoße dein Schwert mir ins Herz“ steht zunächst folgende Bemerkung: „Auf dem f (von „Lebe“ HH) machte Frau Materna einen langen Halt“. Das wurde später gestrichen und folgende Bemerkung dürfte Wagners definitiver Wunsch sein: „Auf der Note „f“ (Le-) soll etwas angehalten werden“. Dazu folgende Bezeichnung zur originalen Tempoangabe „Belebt“: „Belebter, aber nicht überstürzt zu nehmen, die Begleitung der Sängerin sich anschmiegend“.
Kurz danach bei „Rette das Pfand, das von ihm du empfingst“: „Ohne Hast, mit scharfer Prägnanz im Rhythmus“ und schließlich bei der Fortsetzung „ein Wälsung wächst dir im Schoß“ die Erklärung: „Die Worte: ‚Ein Wälsung’ etc. mit erschütternder Gewalt. Der Meister sang sie selbst vor, im Tone seiner Stimme lag eine von tiefstem Ernst getragene wie prophetische Begeisterung.“ Die ursprüngliche Fermate an dieser Stelle hat Wagner durchgestrichen und durch „stark und drängend“ ersetzt.
Beim ersten Erscheinen des „Siegfried-Motivs“, während Brünnhilde „den hehrsten Helden der Welt hegst du, ob Weib, im schirmenden Schoß“ singt, wollte Wagner keine Verlangsamung, sondern: „Mit besonderer Bedeutsamkeit, doch ohne eigentlich langsamer zu werden“. Auch bei „Siegfried erfreu sich des Sieg’s“: „Nie ritardieren, immer hastig vorwärts“. Das entspricht natürlich auch der Situation, denn die Ankunft Wotans hat sich bereits angekündigt, es ist also keine Zeit mehr. Nur Sieglinde darf für einen kurzen Moment das Wunder mit dem ersten Erklingen des Liebes-Erlösungs-Motivs ausdrücken: „Mit höchster Glut“ das Tempo „Breit“ und „Etwas anhalten“, dann sogleich wieder „drängend“ und bei der zweiten Phrase nochmals so wie bei der ersten. Agogische Änderungen, die alle auf Wagners Anweisungen zurückgehen, aber in der Partitur nicht verzeichnet stehen. Dies zeigt exemplarisch die Wichtigkeit der Studien, die weit über die Partitur hinausgehen.
Hartmut Haenchen