Texts

Wagner, Richard: Das Rheingold

Booklet-Beitrag zur SACD-Ausgabe

„Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis.“

Für einen Dirigenten ist eine genaue Partitur das Arbeitsmittel, aus dem seine Interpretationsvorstellungen entstehen. Für die Amsterdamer Produktion haben wir auf Quellen zurückgreifen können, die bisher in die Interpretation des Ringes nicht oder nicht mehr eingeflossen sind. Sie waren zwar zugänglich, wurden jedoch nie - auch nicht in Bayreuth - alle zusammengetragen. Es ist selbstverständlich, dass wir für unsere Aufführungen die neuesten Erkenntnisse, die die Wagner-Gesamtausgabe herausgegeben hatte oder herausgeben wird, benutzt haben. Die Bibliothek der Niederländischen Oper hat, neben meinen persönlichen Interpretationsanweisungen und der durch mich vorgenommenen kompletten Festlegung der Stricharten für alle Streichinstrumente, die auch die originalen Bögen wieder herstellen soll, auf dieser Grundlage in akribischer Arbeit ein neues Orchestermaterial erstellt. Dazu wurden in unserer Arbeit auch die verschiedenen Schichten der Entstehung von der Erstschrift über die weiteren drei Fassungen des Textbuches, über Skizzen und die verschiedenen Stadien der Entstehung der Partitur und eben später angebrachte Änderungen hinterfragt.
Entscheidend für unsere Arbeit waren aber auch die gesammelten Überlieferungen aller Assistenten Wagners, die erstmals alle konsequent in eine Produktion eingeflossen sind. Bisher sind in die Wagner-Interpretation nur die im Klavierauszug Felix Mottls aufgezeichneten Anmerkungen teilweise eingegangen. Heinrich Porges war aber der von Wagner ausdrücklich Beauftragte für die Aufzeichnungen von musikalischen Anweisungen, die von Notentextänderungen über Textänderungen und Tempoanweisungen , Agogik bis in detaillierte Interpretationsanweisungen und Spielanweisungen für die Instrumente reichen. Wichtig waren auch die bis dahin nahezu unbekannten Aufzeichnungen von Hermann Levi und Julius Kniese.
Wir haben also versucht, Wagners Ideen, die über die Notation der Partitur hinausgehen und die Erfahrungen der ersten Aufführungen einbeziehen, zu realisieren. Schließlich aber muss alle Wissenschaft bei einer Aufführung in Emotion umgesetzt werden, die aus dem von Wagner gewollten musikalischen Ausdruck entspringt. Nur dann erreicht die Aufführung den Hörer und damit ihren Zweck.

Wir haben keine Aufnahme angestrebt, die wie viele Studioproduktionen in unnatürlicher Weise die Sänger in den Vordergrund stellt und das Orchester als fernes Begleitensemble hören lässt. In der Live-Aufführung konnten wir trotz der ungewöhnlichen auch optischen Präsenz des Orchesters nach Aussage aller Hörer erfolgreich realisieren, was Porges als Wunsch Wagners überlieferte: "Bei den Proben [...] stellte es sich nämlich als eine Nothwendigkeit heraus, an vielen Stellen die dynamischen Bezeichnungen der Tonstärke zu ermässigen, öfter an die Stelle eines fortissimo ein forte, an die Stelle eines forte ein mezzo forte u.s.w. zu setzen. Dies geschah aus dem Grunde, um vor allem Wort und Ton des Sängers zu deutlichem Vernehmen gelangen zu lassen; denn wir sollen eben keinen Moment vergessen, dass wir einer dramatischen Aufführung, die durch die überzeugende Gegenwärtigkeit einer dem wirklichen Leben nachgebildeten Handlung zu wirken hat, beiwohnen, und nicht etwa ein Werk der rein symphonischen Kunst aufzunehmen haben. Für den Vortrag jener symphonischen Sätze, bei denen gleichzeitig der Darsteller durch das gesungene Wort wirken soll, gilt daher die Vorschrift, dass bei ihnen die Kraft der Tongebung nie den äußersten Grad erreichen darf." Porges fährt fort: "... der Meister bediente sich wiederholt und mit Vorliebe des Vergleichs, dass das Orchester den Sänger stets so tragen solle, wie die bewegte See einen Nachen, diesen aber nie in die Gefahr des Umschlagens bringen oder gar verschlingen dürfe. Die Beachtung dieser Vorschrift darf aber die Spieler ebensowenig dazu verleiten, in eine weichliche oder gar gleichgültige Vortragsweise zu verfallen, sondern sie müssen vielmehr mit angespanntester Aufmerksamkeit darauf bedacht sein, durch besonders deutliche Phrasierung der Perioden und äußerste Bestimmtheit in der Ausführung der metrischen und rhythmischen Akzente, die plastischen Umrisse ihrer Melodien- und Themenkomplexe in aller Prägnanz hervortreten zu lassen." Wenn das schon für die das Orchester dämpfende akustische Situation in Bayreuth galt, um wie viel mehr ist es für andere Opernhäuser gültig. Auf Grund der besonderen Bühnensituation, mit Mikrophonen die grundsätzlich unsichtbar sein sollten, war es nicht immer vollständig möglich dieses trotz einer 24-Kanal-Aufnahme an allen Stellen auch auf den Tonträger zu bannen. Die Besonderheiten der Amsterdamer Aufführung stellte die Tontechnik vor eine außerordentlich komplizierte Aufgabe.
In frühen Gesprächen zur Inszenierung des Rings waren der Regisseur Pierre Audi und ich schnell übereingekommen, dass wir eine Lösung suchen wollten, die bei aller Größe der Bühne in Amsterdam, das Kammerspiel und damit äußerst differenziertes Singen und Spielen ermöglichen sollte. Die Idee, das Orchester durch die verschiedenen Teile des Rings eine Ringbewegung ausführen zu lassen, war geboren. Der ohnehin große Orchestergraben wurde erweitert, um der von Wagner gewünschten idealen Orchesterbesetzung mit großem Streicherapparat und den 18 Ambossen (unser Chefschlagzeuger fand tatsächlich 18 in f gestimmte) Raum zu bieten. Das Orchester wird auf allen Seiten von den Sängern umspielt, was aufnahmetechnisch zur großen Herausforderung wurde. Das Publikum umringte im wahrsten Sinn des Wortes das Geschehen. In Walküre wanderte das Orchester auf den rechten Teil der Bühne, um in Siegfried auf dem linken Teil der Bühne zu sein, die negative Kraft des Ringes darstellend, und schließlich bei Götterdämmerung den Ring an ähnlicher Stelle wie bei Rheingold zu schließen. Jede Oper brachte damit andere akustische Anforderungen und andere aufnahmetechnische Schwierigkeiten. Wir haben versucht, diese Unterschiede auch auf den Aufnahmen hörbar zu machen. Im Allgemeinen wurden jeweils zwei Vorstellungen verwendet und gelegentlich – vor allem um die zahlreichen Bühnengeräusche zu minimieren – die öffentliche Generalprobe hinzugezogen. Nachschnitte hat es für keine der Aufnahmen gegeben. Es handelt sich im Gegensatz zu vielen Aufnahmen, die unter dem Label „Live“ angeboten werden, also tatsächlich um eine Aufnahme, wie sie im Saal erlebbar war.
Die SACD-Technik kann die räumlichen Wirkungen unserer Produktion besonders deutlich machen.

„Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt“

Beim Studium der Aufführungstradition von Wagners Werken fällt auf, dass etwa in den ersten 70 Jahren ihrer Existenz eine bestimmte Richtung der Temponahme feststellbar war, die bei der Übertragung von einer Generation zur anderen standhielt und keine extremen Abweichungen aufweist. Diese Weitergabe der auf Wagner zurückgehenden Tempi erfolgte ohne Tonträger. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts - zusammenfallend mit dem wachsenden Einfluss der Medien - beginnt sich eine Tendenz zu Extremen abzuzeichnen, die nachweisbar weit von Wagners ursprünglichen Ideen abweichen. Wir können nach allen historischen Dokumenten davon ausgehen, dass die Aufführungszeiten (sprich: Tendenzen des Tempos) der Uraufführung im wesentlichen Wagners Intentionen näher standen, als die späteren Extreme.
Kein Dirigent ist in der Lage hundertprozentig Abend für Abend das gleiche Tempo zu erreichen. Sicher nicht in einer Kunstform, wie der Oper. Dabei handelt es sich individuell aber um Abweichungen, die relativ gering sind. Auf der anderen Seite ist der Ring geeignet, eine allgemeine Tendenz darzulegen: In ihren (bisherigen) Extremen muss das Werk eine Differenz der Aufführungsdauer von 2 Stunden und 19 Minuten (!) ertragen. Jedoch muss man sich bewusst sein, dass es im gesamten Zyklus einige Tausend verschiedene Tempi gibt, die wiederum durch Wagners proportionale Anweisungen verbunden sind. Hieraus ergibt sich die Gesamtaufführungsdauer.
Der Bruch der direkten Tempo-Tradition entstand nach dem Tode von Cosima Wagner und Sohn Siegfried (beide 1930) und dem Aussterben der ersten und zweiten Generation der Dirigenten. Siegfried Wagner hatte versäumt, eine Nachfolge generativ aufzubauen. Aufführungen von Dirigenten, die der deutschen Sprache nicht in vollem Umfang mächtig waren, brachten zusätzlich Verwirrung, da musikalische Anweisungen wie z. B. "sehr gehalten" plötzlich als Tempoanweisung und nicht als Artikulationsanweisung verstanden wurden. Neben Toscanini, welcher zur genannten Kategorie gehörte und einer der langsamsten Wagner-Dirigenten überhaupt war, stand als nächste große Wagner-Dirigenten-Persönlichkeit Wilhelm Furtwängler.
Er hat im Gegensatz zum "Bayreuther Stil" die Gleichberechtigung von Text, Theater und Musik abgelehnt und deutlich den Primat der Musik gegeben: "Das 'Ganze' der Oper, ihre Struktur, und ihr Sinn, wird aber durch die Musik bestimmt, der daher auch der Primat innerhalb der Oper zufällt."
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, auch angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus und seinem Missbrauch von Wagners Werk, ist jedoch, dass Furtwänglers Interpretation seit seinem ersten Ring von 1936, der in etwa noch den Uraufführungszeiten entsprach, bis zu seiner Aufnahme vom Jahre 1953 um 40 Minuten (!) langsamer geworden ist. Die Aufnahme zeigt deutlich, dass die überlieferten Anweisungen von Wagner nahezu keine Berücksichtigung mehr fanden. In vielen Fällen stehen sie den nun wieder zusammengetragenen Anmerkungen Wagners geradezu diametral gegenüber.
Dass Furtwängler für viele nachfolgende Dirigenten prägend war und ist, steht natürlich außer Zweifel. Die Mehrzahl der späteren Einspielungen und Aufführungen ist langsamer als die Uraufführung oder als die Tempi der ersten 70 Jahre nach der Entstehung. Die Abweichung des langsamsten Rings zur Uraufführung beträgt 1 h 7', die Abweichung des schnellsten Rings beträgt 1 h 12'. Dabei muss man vor Augen haben, dass nach Wagners Ansicht die Uraufführung - vor allem von Siegfried - schon zu langsam war, der Unterschied der heutigen Aufführungen zu Wagners Vorstellung also noch größer war. Um es für Rheingold deutlich zu machen: Die Uraufführung unter Hans Richter dauerte 2 h 31', Siegfried Wagner brauchte 10 Minuten weniger und nach einer der schnellsten Aufführungen unter Heinz Tietjen, der ganz im Einfluss von Cosima stand, (2 h und 17 ' im Jahre 1936) wurde es im wesentlichen langsamer: Furtwängler 2 h 36 ', Knappertsbusch 2 h 42 ', James Levine 2 h 37 '. 1998 entprach die Aufführungszeit unter meiner Leitung exakt der der Uraufführung.

Zurück zu den Quellen: In einem Brief vor dem ersten Bayreuther Ring 1876 schrieb Wagner an seinen Uraufführungsdirigenten Hans Richter: "Freund! Es ist unerläßlich, daß Sie den Klavierproben genau beiwohnen, Sie lernen sonst mein Tempo nicht kennen.... Gestern kamen wir, besonders bei Betz (dem Sänger des Wotan; HH), den ich am Klavier immer im feurigsten Tempo habe singen lassen, aus dem Schleppen nicht heraus." Allein aus diesem Zitat wird deutlich, dass es ihm vor allem darum ging, dass die Tempi nicht zu langsam werden. Das gleiche bestätigt der treue Helfer und Assistent bei den Proben zur Uraufführung Heinrich Porges, der auch Wagners Abneigung gegen Sängerwillkür dokumentierte: "dass er jeder blos individuellen Willkür, und äusserte sich diese auch auf geniale Weise, abhold ist."
Im Rheingold ermahnte Wagner Sänger und Dirigent immer wieder, diese Grundsätze einzuhalten. Gerade an Stellen, die heute traditionsgemäß sehr langsam genommen werden, wird das von Wagner selbst anders gefordert: Im Orchesterzwischenspiel bei der Rückkunft der Götter in der 3. Szene (T. 3208) steht in der Partitur „Mäßig und sehr ruhig“. Dazu erklärte Wagner dem Dirigenten Hans Richter: Dies ist ein „gehendes, nicht langsames Tempo“ denn „ein ganz langsames Tempo kommt im ganzen Rheingold nicht vor.“ Oder zu Wotans „Tief in der Brust brennt mir die Schmach" (T. 3345) sagte er: „Alles fest im Tempo weiter. Ja kein sentimentales Zurückhalten“. Selbst bei Donner „Heda! Heda! Hedo!“ rief er „nicht breiter werden“. Und wenn die Götter über den Regenbogen Walhall erreichen steht in der Partitur „Mäßig bewegt“. Auch hier ermahnt Wagner die Musiker zum Tempo: „Gehendes Zeitmaß“.
Am eindrucksvollsten sind zwei etwas überspitzte Probenbemerkungen Richard Wagners von 1876, die innerhalb der Untersuchungen für die Quellen zur Aufführungspraxis wieder ins Bewusstsein getreten sind:
"Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müßte das Rheingold in zwei Stunden fertig sein." Und: "Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis."

Hartmut Haenchen

Zurück