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Bach, Johann Sebastian: Interview Bach-Schostakowitsch

Gespräch mit Bas van Putten über Inhalt und Interpretation und Programmgestaltung und Haltungen im persönlichen und politischen Leben

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Bach - Schostakowitsch
Interview mit Bas van Putten

Ich suche immer inhaltlich motivierte Programme. Und es gibt eine deutliche kompositorische Verbindung zwischen Bach und Schostakowitsch, nicht nur wegen des Gebrauchs der jeweiligen Mottothemen b-a--c-h und d-es-c-h. Für mich war es deshalb interessant, in diesem Kammerorchesterprogramm eine passende Kombination ihrer Werke zu finden. Bei Schostakowitsch ging das schnell. Es gibt nur die Kammersinfonien für Streicher (als Bearbeitungen) und die 14. Sinfonie in dieser Besetzung.

Die drei letzten Sinfonien von Schostakowitsch beschäftigen sich mit dem Tod, aber auf verschiedene Weisen. Die 13. behandelt den Tod von Anderen, deren Schicksal beklagt und angeklagt wird. Die 15. beschreibt das Sterben selbst, das Betäubende, das maschinelle des Todes. In der Partitur höre ich, wie das Beatmungsgerät auf und ab geht.

In der 14. wird der Tod von einem sehr persönlichen Gesichtspunkt aus behandelt. Es geht um den innerlichen Tod, das Gefühl der totalen Isolation. Im 7. Teil heißt der Text: „Ich sitze in meiner Zelle, ich und mein heller Verstand“. In dieser Klarheit sehe ich die deutlichste Übereinstimmung mit Bach, die Schostakowitsch natürlich in seinen Präludien und Fugen nach dem Vorbild des „Wohltemperierten Klaviers“ besonders herausstellt. Bach ist nicht unemotionell, aber alles basiert auf dem Verstand. Vielleicht fühle ich mich persönlich so davon angesprochen, weil man von mir auch nachsagt, ich sei zu wenig emotionell. Da kann ich natürlich nicht viel dazu sagen, aber ich weiß andererseits, daß beim Kennenlernen jedes Werkes das Emotionelle bei mir überwiegt. Das ist nur die kürzeste Phase des Lernprozesses. Wenn ich die ersten emotionellen Erfahrungen überwunden habe, dann muß ich sie rationell analysieren. Das kostet am meisten Zeit. Ein Dirigent muß sich nun einmal von allem bewußt sein, was er tut, sonst kann er nicht sich selbst und andere korrigieren. Erst während der Aufführung muß ich wieder probieren, alles zu vergessen, was ich auf diese Art und Weise gelernt habe.

Bei Schostakowitsch hört man eine Angst vor dem Tod, die man bei Mahler auch antrifft. Es ist eine Angst, die Wahrheit wird. Denn die Dinge, vor denen man Angst hat, passieren auch in der Wirklichkeit. Angst ist bei Schostakowitsch selbstverständlich auch die Angst vor dem Sowjetstaat. Es ist die Angst, die ihn verführt hat, Kompromisse zu schließen. Und diese Angst kenne ich aus eigener Erfahrung. Die Frage nach der Rezeption von Werken aus der Sowjetunion im Westen kann ich nur schlecht beantworten. Das Thema ist vor allem so schwierig, weil es für mich unvorstellbar ist, wie jemand diese Werke hören kann, der keine Ahnung vom politischen Klima hat, in dem sie entstanden sind. Ich meine damit Ausdrucksformen, die für jeden in Ost-Berlin, Warschau und St. Petersburg vollkommen deutlich und verständlich sind, aber den Menschen aus dem Westen in ihrer Ahnungslosigkeit entgehen müssen. Es geht hier um ein Vokabular von musikalischen Nuancen und Signalen, das sich unter dem Druck des totalitären Regimes seit Hitler entwickelt hat und also eigentlich aus der Not geboren ist. Es ist die Kunst, sich zu äußern, ohne sofort ins Gefängnis zu gehen. Und für mich war das der wichtigste Grund, Musiker zu werden.

In diese Welt kann ich mich gut hineindenken. Ich habe bei Evgenij Mravinsky, Arvid Janssons und Kurt Sanderling studiert. Ich kenne die Kodierungen. Als Beispiel nenne ich die 5. von Schostakowitsch. Jeder kennt die Geschichte von Schostakowitschs Konfrontation mit Stalin auf Grund seiner Oper „Lady Macbeth“. Schostakowitsch wurde vom Staat gezwungen sein Idiom anzupassen. Das hat er in der 5. auch getan, aber was hört man im Finale? Ein endlos wiederholtes a. Und was bedeutet das auf Russisch? Ich, ich, ich! Er hat seinen Stil verändert, aber spricht im Geheimen doch die Wahrheit. Er äußert sich.

Als Dirigent muß ich so etwas wissen, genauso wie ich die Zahlensymbolik von Bach kennen muß, obwohl heute fast kein Mensch mehr etwas davon hören kann. Ich muß wissen, welche musikalischen Bedeutungen man übersetzen kann und welche nicht. Dadurch werde ich manchmal gezwungen, bei der authentischen Aufführungstechnik Kompromisse einzugehen, was die Puristen als Grund ansehen, mich zu kritisieren. In der großen g-moll-Sinfonie von Mozart lasse ich das Motiv in den Bratschen in der oberen Hälfte des Bogens spielen, was historisch falsch ist, aber die einzige Möglichkeit, die Unruhe und die Trauer gleichzeitig hörbar zu machen. Es kommt öfter vor, daß man um der Klarheit des Ausdrucks willen gezwungen wird, eigene Lösungen zu finden. Jeder ist zum Beispiel darauf fixiert wie eine Phrase beginnt, aber wie endet sie? Eine Phrase hört auch irgendwo auf. Aber auf sie folgt eine andere. Wie kreiere ich eine Phrasierung, die den Vorausgang suggeriert? Das sind wesentliche Fragen.

In der 14. Sinfonie ist außer der Angst noch eine andere Verbindung zu Mahler zu sehen. Oft hat man in dem Stück den Eindruck, etwas Bekanntes zu hören, das man nicht einordnen kann. Es gibt ein abwärtsführendes melodisches Motiv, das mich sehr stark an das Speermotiv aus Wagners „Ring“ erinnert und doch kein Zitat ist. Ich glaube, daß das sehr bewußt eingesetzt ist.
Diese Sinfonie ruft Assoziationen mit der russischen Landschaft hervor und mit der russischen Mentalität. Ich bin oft dort gewesen und habe die totale Lethargie erlebt, die vielleicht durch die unendliche Weite des Landes hervorgerufen wird. Es ist ein Stillstand von Zeit und Raum: nicht sprechen, nicht bewegen, nicht denken. Kein expressivo ist da wo es nicht hingehört. Es ist eine ganz andere Ruhe als bei Bruckner. Bruckners Ruhe ist eine Ruhe der Andacht. Ich habe mich in letzter Zeit mit der Musik von Matthijs Vermeulen beschäftigt: allein schon die Bewegung! Schostakowitsch schweigt ganz einfach - und zwar nicht aus musikalischer Schwäche. Seine Ohnmacht ist eine Ohnmacht gegenüber dem System, nicht gegenüber der Musik. Dafür braucht man Mut.

Ich bin nicht sicher, ob die 14. eine Sinfonie ist. Die Grenzen zwischen einem Liederzyklus und einer Sinfonie sind natürlich ziemlich fließend. Aus formellen Gründen könnte man beweisen, daß es sich um eine Sinfonie handelt, aber wenn sogar die Sonatenform in dem Stück eine untergeordnete Rolle spielt, dann muß man das bezweifeln. Trotzdem kann ich die Entscheidung für den Sinfonie-Titel verstehen. Wenn man die 14. einen Liederzyklus nennt, würde man als Komponist doch den Eindruck erwecken, daß es nicht um einen alles umfassenden Grundgedanken geht. Der ist hier aber sehr deutlich vorhanden. Auch die Verbindung zwischen den Liedern ist sehr profiliert.

In der Tat könnte man von einer Sinfonie im Mahlerschen Sinne sprechen; die 14. ist „eine Welt“. Aber das sinfonische Oeuvre von Schostakowitsch ist nicht so eine Einheit wie das von Mahler, bei dem jede Sinfonie eine logische Nachfolgerin der vorigen zu sein scheint. Bei Schostakowitsch sind die Ähnlichkeiten zwischen den Sinfonien 5. bis 15. viel größer als die von der 1. bis zur 4.. Wenn man die Klavierpartitur von der 2. Sinfonie spielen würde, würde man Schostakowitsch wahrscheinlich nicht erkennen.

Die Fragen, die in der Diskussion über Schostakowitsch gestellt werden, sind auch meine Fragen. Hätte er emigrieren sollen? Hätte ich emigrieren sollen? Ich beziehe das sehr auf mich persönlich. In einer Schule in Halle war ich auch Leiter eines Kinderchores. Mit dem Chor wollte ich Bachs Motette „Jesu, meine Freude“ aufführen. Das durften wir, weil die Motette Teil des Lehrplanes war. Aber der Direktor der Schule untersagte mir die Aufführung mit dem Argument, daß das Werk zu viele christliche Strömungen hervorbringen würde. Ich wurde vor die Wahl gestellt: entweder ich gehorchte, oder ich mußte die Schule verlassen. Letzteres habe ich getan.

Ich bin also konsequent gewesen. Nur die Kinder des Chores, die jetzt alle in berühmten Orchestern arbeiten, erklären, daß sie die Wahl zwar hinterher verstanden haben, aber sich doch durch mein Verlassen der Schule im Stich gelassen fühlten. Danach haben sie nämlich nur noch politische Lieder gesungen.

Ist Unwissen das gleiche wie Unschuld? Das hängt davon ab! Es kann auch Verdrängen sein. Ich finde es eine gute Idee, daß Unwissenheit einen nicht von vornherein entschuldigt.

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