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Gutachten zur Bewerbung in das Verzeichnis des bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO

Anerkennung der deutschen Amateurchor-Landschaft

Der geringen Anzahl an Profichören, Projektchören und semiprofesionellen Chören, die leider ständig weiter reduziert werden, steht die große Anzahl von etwa 60.000 Laienchören gegenüber. Rund 2,3 Millionen aktive Sänger opfern regelmäßig einen Teil ihrer Freizeit für das Singen – eine Massenbewegung, die man sonst eher aus dem Breitensport kennt. Sie bilden das breite Fundament der deutschen Chor­landschaft. Den mit Abstand größten Anteil daran haben die Kirchenchöre. Eine weit verzweigte, differenzierte Vereinsstruktur spiegelt die Vielfältigkeit wider. Der Deutsche Chorverband geht davon aus, dass noch etwa eine weitere Million Menschen in freien Ensembles aktiv sind, die nicht statistisch erfasst sind, weil sie keine feste Vereinsstruktur haben und manchmal auch nur für sich singen, ganz ohne öffentliche Auftritte oder in den „Mitsingkonzerten“ auftreten.
Seit mehr als tausend Jahren gibt es Vokalensembles in kirchlichen Einrichtungen. Doch die bürgerliche Chor­bewegung war ein Ergebnis der Aufklärung und erlebte im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit. Die neuen Vereinigungen widmeten sich den großen Oratorien, mitunter in Riesenbesetzungen bei großen Sängerfesten mit mehreren Hundert oder Tausend Mitwirkenden. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Singbewegung und mit ihr eine Wiederbelebung des schlichten Volkslieds und der älteren Vokalmusik. Dieser frische Geist strahlte auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft aus, insbesondere auf die Kirche wo auch in kleineren Gemeinden jetzt hauptamtliche Kirchenmusikerstellen eingerichtet wurden – dadurch ergab sich die Möglichkeit der Gründung einer Fülle von Kantoreien in kleinen Orten, die das Laien­chor­wesen maßgeblich prägten. Durch den heutigen Rückgang der hauptamtlichen Kirchenmusiker­stellen ist allerdings die flächendeckende Versorgung in ländlichen Regionen vor allem in Norden und Osten Deutschlands nicht mehr gewährleistet.
Die Singangebote für Kinder in Kinder­gärten und Grundschulen muss die drastisch zurückgegangenen kirchlichen Angebote auffangen. Wenn viele junge Menschen früh mit dem Chorsingen in Kontakt kommen, wirkt sich das langfristig sicher auf die Erwachsenenchöre aus und verwandelt die Gesellschaft – weil Veränderung mit Singen im Chor beginnt und ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermittelt. Chorgesang, wie oben beschrieben, war und ist zum großen Teil immer noch etwas, was durch Generationen weitergegeben wurde und auch in unserer veränderten Gesellschaft auf diesem und anderen Wegen weitergegeben wird.
„Wir glauben, dass Veränderung mit Singen im Chor beginnt“, steht auf einem Plakat hinter der Theke einer Kneipe in Hamburgs Stadtteil St. Pauli. Ein zunächst ungewöhnlich erscheinendes Statement in einer ungewöhnlichen Umgebung. Aber genau so hat die deutsche Chortradition an der Schwelle des 19. Jahrhunderts begonnen, denn sie stammt ursprünglich aus dem subversiven Milieu des gesellschaftlichen Umbruchs. Als Carl Christian Fasch mit der Singakademie zu Berlin im Jahr 1792 den ersten gemischten Chor als dauerhafte Institution gründete, war das nichts weniger als ein revolutionärer Akt. Schließlich kamen hier Menschen unterschiedlicher Stände und Geschlechter zusammen, um gemeinsam zu singen. Adlige und Bürgerliche, Frauen und Männer bunt durcheinander gemischt – unerhört!" (Zitat von Birgit Reuther aus dem Artikel TV-Import aus den USA: Popularität ist die neue Währung in: Hamburger Abendblatt vom 15.1.2011 welches Markus Stäbler in der Zeitschrift FonoForum 2014, Heft 4 übernommen hat)
Wir würden das heute als vorbildliche Integration unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Geschlechter bezeichnen und tatsächlich findet dieser Vorgang - bei minimalem finanziellen öffentlichen Beitrag - heute genau noch so statt. Mit enormer gesellschaftlicher Relevanz. Ein Prozess, der mit heutigen Entwicklungen durchaus vergleichbar ist, denn in den großen Städten und Ballungsgebieten besteht die junge Generation - und damit der potentielle Chornachwuchs - zu einem großen Teil aus Kindern mit Migrationshintergrund. Diese soziale und kulturelle Umschichtung wird die wichtigste Herausforderung für die Zukunft des Chorgesangs in Deutschland darstellen und bedarf der öffentlichen Achtung dieses Kulturgutes, weil Chorgesang eine der effektivsten Formen der Integration ist. Nirgendwo - weil mit der primären natürlichen menschlichen Äußerung des Singens verbunden - gibt es sonst in der Gesellschaft eine solche Möglichkeit das Individuum in ein gemeinsames Erleben und in gemeinsame Verantwortung einzubinden und dies auf die nächste Generationen im gemeinsamen künstlerischen Schaffen als wichtigste Lehre unserer Gesellschaft zu übertragen. Chorgesang schließt neben dem Effekt von Integration und Kreativität auch das Zusammenwirken mit der Natur (in den zahlreichen open air - Konzerten, besonderes Beispiel sind die Bergsteigerchöre) und die künstlerisch gestaltete Auseinandersetzung mit der Geschichte ein. Der Chorgesang fördert in seiner künstlerischen Aussage und im gemeinsamen Wirken, wo das Individuum nur mit der Gruppe erfolgreich sein kann, in einem Umfange wie kaum eine andere künstlerische Äußerung, alle Menschenrechte und durch gemeinsame Kreativität die Kooperation mit anderen Gruppen, Einzelpersonen und natürlich mit einer Ausstrahlung auf ein riesiges Publikum, welches die Zahlen von Fußballspielen z.B. vollständig minimal erscheinen lässt und vor allem das Gegenteil der gesellschaftlichen Wirkung hat.
Neben der kulturellen Bedeutung kann das Laienmusizieren als Teil des bürgerlichen Engagements und in der Form des Ehrenamts zum Wandel von der Erwerbsgesellschaft zur Tätigkeitsgesellschaft beitragen, also zu einer Umwertung von Tätigkeit, indem nicht nur materielle, sondern auch soziale Werte anerkannt werden. Dies wirft jedoch auch Fragen auf, die gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten diskutiert werden. Kann Ehrenamt so viel Sinn stiften wie eine Geldarbeit? Kann Sozialprestige durch ein Ehrenamt eine ausgleichende Aufwertung erfahren? In den letzten fünfzig Jahren war ein drastischer Rückgang von Chören zu verzeichnen. Männerchöre, die einst die musikalische Landschaft geprägt haben, sind durch die Weltkriege und die gesellschaftlichen Veränderungen weitgehend verschwunden und damit ein ganzes Repertoire. Um den insgesamt gerade wieder stattfindenden sehr vorsichtigen Aufschwung des Chorsingens zu unterstützen, ist die Pflege der Chormusik in den deutschen Amateurchören unbedingt durch eine Maßnahme wie die Aufnahme in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu unterstützen.
Mit dieser Anerkennung wird die Chance gegeben, dass die unvergleichliche Vielfalt der kompositorischen Werke der Nachwelt lebendig erhalten wird und gleichzeitig der wissenschaftlich nachgewiesene Effekt des positiven Einflusses von klassischer Musik auf das menschliche Gehirn und ein besseres Zusammenleben unterstützt wird.



Prof. Dr. phil. h.c. Hartmut Haenchen

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